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Title
Geschichte als Verunsicherung. Konzeptionen für ein historisches Begreifen des 20. Jahrhunderts. Herausgegeben von Axel Doßmann im Auftrag der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora


Author(s)
Knigge, Volkhard
Published
Göttingen 2020: Wallstein Verlag
Extent
630 S., zahlreiche, z.T. farbige Abb.
Price
€ 38,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Alexandra Klei, Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Hamburg

„Geschichte als Verunsicherung“ ist eines dieser Bücher, bei denen bereits die Haptik die Bedeutung des Inhalts vermittelt: Es liegt gewichtig in der Hand. 49 Texte – Aufsätze, Interviews, Vorträge, Zeitungsartikel etc. – aus rund 35 Jahren hat Axel Doßmann hier anlässlich des Ausscheidens von Volkhard Knigge aus der Position des Direktors der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora im April 2020 ausgewählt und neu veröffentlicht. Die Texte einem Publikum gebündelt zu präsentieren, scheint nicht nur ihre Relevanz in der Zeit ihrer Entstehung nahelegen zu wollen, sondern impliziert auch eine Aktualität für die Debatten um Gedenken und Erinnern, für den Umgang mit der Geschichte und das Verstehen der Vergangenheit in der Gegenwart. Dabei bleiben die Kriterien, die zur erneuten Veröffentlichung der ausgewählten Beiträge geführt haben, offen – sieht man von der Feststellung auf dem Rückentext des Buches ab, dass der Band „erstmals die wichtigsten Aufsätze, Reden und Gespräche“ Knigges „versammelt“.

Nun sind die einzelnen Beiträge – auch wenn die Erstveröffentlichung am Ende des jeweiligen Textes neben möglichen Ergänzungen transparent gemacht wird – herausgelöst aus ihren Entstehungskontexten und -anlässen. Die Texte werden jetzt in acht Kapitel gefasst: „Geschichtsaneignung, Subjekttheorie und Psychoanalyse“, „Gesellschaftsverbrechen: Bezeugen, Durcharbeiten, Begreifen“, „Spuren, Artefakte, Denkmale und die historische Vorstellungskraft“, „Kritik der Erinnerungskultur“, „Zeugnisse und Bildgedächtnis, Literatur und Kunst“, „Gedenkstätten: Zeitgeschichtliche Museen am historischen Ort“, „Konkret bleiben: Weimar-Buchenwald in Europa“ und „Gegenwartsinterventionen zur Verteidigung der Republik“. Innerhalb dieser Kapitel sind sie jeweils chronologisch strukturiert, „um die Entwicklungsgeschichte einzelner Argumente nachvollziehbar zu machen“ (Doßmann, Vorwort, S. 14). Damit ist die vorliegende Publikation mehr als die Dokumentation vergangener Überlegungen. Unabhängig von der Auswahl vermitteln bereits die genannten Oberkapitel nicht nur die Schwerpunkte von Knigges Veröffentlichungen und Interventionen, sondern wollen, dies zeigt besonders die letztgenannte Überschrift, auch die Bedeutung seines Handelns und Schreibens schon vor der Lektüre der einzelnen Beiträge betonen.

Volkhard Knigge widmete sich dem Lager und der Gedenkstätte Buchenwald seit dem Beginn der 1990er-Jahre. 1991 begann er als Mitarbeiter des Kulturwissenschaftlichen Instituts des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen im Archiv der Gedenkstätte zu forschen, 1994 wurde er ihr Leiter, ab 2003 stand er der neu gegründeten Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora als Direktor vor.1 Daneben war er seit 2008 Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Aber dies allein beschreibt sein Wirken nicht ausreichend: Knigge hat sich wie kein anderer Leiter einer Gedenkstätte in Deutschland an Debatten zum Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auch überregional beteiligt und sich mit theoretisch-methodischen Überlegungen geäußert, in den letzten Jahren und angesichts der wachsenden Bedeutung der AfD dabei zunehmend tagespolitischer. Er gehörte außerdem zu den ersten, die eine Einbeziehung der Nachgeschichte des Konzentrationslagers sowohl mit Blick auf das Sowjetische Speziallager Nr. 2 als auch auf die Gestaltung des Areals als Erinnerungsort in der DDR beförderten. Und schließlich eröffneten 1995 in der Gedenkstätte Buchenwald neugestaltete Dauer- und Außenausstellungen; die ersten dieser Art nach den politischen Umbrüchen 1989/90.

Knigge begleitete all diese Prozesse umfangreich publizistisch: Allein 83 „Aufsätze, Essays und publizierte Reden“ enthält das Schriftenverzeichnis am Ende des Buches; hinzu kommen zwei Monografien, zahlreiche herausgegebene Bücher und Kataloge, Miszellen, Katalog- und Zeitungsbeiträge sowie gedruckte Gespräche und Interviews. Zudem wurden unter seiner Ägide zahlreiche Sonder- und Wanderausstellungen entwickelt und realisiert. Dieses umfangreiche Werk kann eine erneute Auseinandersetzung mit seinen Texten und intellektuellen Impulsen nahelegen und lohnend machen; obwohl ihr Neuabdruck – außer für den Herausgeber im Prozess der Zusammenstellung – zunächst noch keine solche Auseinandersetzung ist, sondern diese – bestenfalls – von Leser:innen einfordert.

Was ermöglicht nun eine Re-Lektüre oder das „Wiederentdecken“ eines Textes? Allgemein gesprochen können die Beiträge zum Beispiel aufzeigen, wie die Neuausrichtung des Erinnerns an die Verbrechen des Nationalsozialismus als wesentlicher Bestandteil politischer und gesellschaftlicher Prozesse im wiedervereinigten Deutschland stattfand. Und Knigges Texte umfassen mit Blick auf die vormaligen Orte ehemaliger Konzentrationslager unterschiedliche Felder: die (Neu-)Gestaltung von Gedenkstätten, Denkmalen und Ausstellungen, die Neuausrichtung einer Pädagogik zur Vermittlung der historischen Ereignisse und ihrer Folgen, die Entwicklung eines Bewusstseins für die Vielschichtigkeit in der Funktion der Orte, die Einbeziehung und Einordnung einer Erinnerung an die Speziallager, die Bedeutung von unterschiedlichen Zeugnissen der Ermordeten und der Überlebenden. So zeigte sich zum Beispiel anhand der Zeichnungen von Thomas Geve (geb. 1929 als Stefan Cohn), eines Überlebenden von Auschwitz, Groß-Rosen und Buchenwald, nicht nur, dass die Forschung und Wahrnehmung der Geschichte von Konzentrationslagern das Schicksal von Kindern und Jugendlichen einbeziehen muss, sondern auch, dass Zeichnungen als Medium der Aufarbeitung des individuellen Erlebens und der Vermittlung mehr Bedeutung haben (sollten), als historische Ausführungen bloß zu illustrieren.2

Für diejenigen, die in, über oder mit Gedenkstätten an den Orten ehemaliger Konzentrationslager gearbeitet haben, gehörten gerade die Beiträge, die Knigge über die Entstehungsgeschichte der Mahnmal-Anlage von 1958 auf dem Ettersberg schrieb, in unmittelbarer Nachbarschaft zum ehemaligen Lagergelände, zur prägenden Lektüre. Im vorliegenden Band ist der Text „Vom Reden und Schweigen der Steine. Zu Denkmalen auf dem Gelände ehemaliger nationalsozialistischer Konzentrations- und Vernichtungslager“ abgedruckt, der 1995 zuerst in einem Sammelband zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus erschien.3 Inhalt und Ausrichtung dieses Textes erfuhren anschließend zusätzliche, teils deutlich erweiterte Veröffentlichungskontexte; besonders prominent 1997 als Bestandteil eines zweibändigen Katalogs mit Fotografien der Mahnmal-Anlage4, in einem Sammelband von Detlef Hoffmann zum „Gedächtnis der Dinge“5 oder in der 1999 eröffneten Dauerausstellung zur Geschichte der Gedenkstätte und der Mahnmal-Anlage. Bereits ab der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre hatten die Orte ehemaliger Konzentrationslager in ihren Arealen und mit ihren verbliebenen baulichen Relikten eine steigende Aufmerksamkeit erfahren.6 Die mit dem Ende der DDR angestoßenen, später auch auf die „alte“ Bundesrepublik erweiterten Prozesse einer Neuausrichtung des Gedenkens beinhalteten zum einen eine deutlich umfangreichere Einbeziehung der historischen Orte in die neuen Ausstellungskonzepte, zum anderen Forschungen zur Nachgeschichte der Konzentrationslager; letzteres eine Voraussetzung, um sich mit den eigenen Konzepten positionieren und abgrenzen zu können. Knigges Texte lieferten hier beides: auf Quellen beruhende Darstellungen zur Entstehung des Mahnmals und Deutungen seiner Etablierung im Geschichtsverständnis der DDR.

Die griffige Formulierung von der „Minimierung der Relikte als Voraussetzung für die Maximierung historischer Sinnbildung“7 hat sich hier besonders eingeprägt. Und an dieser Stelle wird leider deutlich, dass die bloße Wiederveröffentlichung eines Textes die frühere Argumentation nicht besser macht: Knigge interpretiert den Umgang mit dem ehemaligen Gefangenenlagergelände nach 1950 als ein Verschwindenlassen kompromittierender Überreste zugunsten der Einpassung „in ein historisches Sinngebungskonzept“ (S. 152). Seine Argumentation stützt er dabei vor allem auf eine „unbezeichnete und undatierte Faustskizze“ (ebd.) aus den Beständen des Gedenkstättenarchivs, die eine Ansicht des Lagertors mit angrenzenden Zaunelementen und zwei Wachtürmen sowie deren Grundriss mit anschließender, schmaler Leerfläche zeigt (S. 153). Sie entstand vermutlich Anfang der 1950er-Jahre im Zuge einer Ortsbesichtigung und ist in dieser Form nie umgesetzt worden. Knigges Argumentation bezieht sich also auf einen Zustand, den jemand sich vorstellen konnte. Ob es eine Einzelperson war, ob und wie ernsthaft die Idee diskutiert wurde, dies alles ist aus der Zeichnung nicht abzulesen. Keinen Raum gibt Knigge dagegen einer Darstellung, die anhand der tatsächlichen Entscheidungen und Umsetzungen die Entwicklung und den Umgang mit dem vormaligen Lagergelände aufzeigt: Weder der tatsächlich hergestellte Zustand wird interpretiert noch das Akteurshandeln analysiert. Allein eine Ebene symbolischer Repräsentation und planerischer Intention zu untersuchen, bedeutet aber, bereits den Entwurf als gebaute Wirklichkeit zu betrachten und nicht die realen funktionalen Beziehungen zu ergründen, also die Wirkungen von Architektur und Gestaltung in den Möglichkeiten ihrer Aneignung.

Dies mag mit Blick auf die anderen 48 abgedruckten Texte als eine (zu) ausschnitthafte Betrachtung kritisiert werden. Doch zum einen zeigt es exemplarisch, dass interdisziplinäre Zugänge – hier architekturhistorische und/oder -theoretische – zu einem komplexeren Verständnis führen könnten; zum anderen kann der Beitrag als eine Voraussetzung für die Vermittlung der in den 1990er-Jahren erfolgten Umgestaltungsprozesse verstanden werden: Erst durch die Auseinandersetzung mit den in der DDR-Gedenkpolitik an diesen Orten erzeugten Leerstellen und mit einer Kritik an ihrer politischen Indienstnahme ließen sich Konzepte einer veränderten Erinnerungspraxis entwickeln, deren Etablierung Knigge als einer der wichtigsten Protagonisten der gesamtdeutschen Gedenkstättenlandschaft mitgestaltete. Die Frage, wie an die Verbrechen der deutschen Nationalsozialisten mit direktem Ortsbezug zu erinnern ist, erforderte und erfordert Aushandlungsprozesse. Die Sammlung der Texte dokumentiert nicht nur, dass dieses Ringen um die neuen Inhalte eines Erinnerns mehr als zehn Jahre nach dem ersten Erscheinen des Textes „Vom Reden und Schweigen der Steine“ andauerte, sondern zeugt auch von dem Bemühen, die Vielschichtigkeit in der Bedeutung der Orte herauszuarbeiten.

Gleichwohl bleibt eine Leerstelle: Auch wenn acht zwischen 1998 und 2013 erschienene Texte unter der Überschrift „Kritik der Erinnerungskultur“ zusammengefasst werden, fehlt eine Auseinandersetzung, die die Rolle der KZ-Gedenkstätten in den letzten 25 Jahren hinterfragt. Dies betrifft nicht nur ihre Funktionen innerhalb einer bundesdeutschen Erinnerungskultur, sondern auch die konkreten Inhalte und Vorstellungen von Geschichte, die sie vermitteln. Denn die Frage, welche Erzählungen an die vormaligen Lagergelände mit welchen Indienstnahmen, Bedeutungszuschreibungen und Erwartungen verknüpft sind und wie diese im Raum präsentiert werden, stellt sich nicht nur mit Blick auf Gedenkstätten (in) der DDR. Vielleicht ist dies aber auch eine zu hohe Erwartung an eine Selbstreflexion. Es wird eine Aufgabe für künftige Forscher:innengenerationen sein, die mit dem vorliegenden Buch eine hervorragende Sammlung als Ausgangspunkt für derartige Auseinandersetzungen haben.

Anmerkungen:
1 Warum in den biografischen Angaben des Buches ebenso wie bei anderen Veröffentlichungen steht, Knigge sei zwischen 1994 und 2020 Direktor der Stiftung gewesen, während seine Tätigkeit als Leiter der Gedenkstätte Buchenwald unerwähnt bleibt und die Stiftung erst 2003 gegründet wurde, muss offenbleiben. [Anm. der Red., 14.01.2021: Nach Veröffentlichung dieser Rezension wies uns Axel Doßmann darauf hin, dass 1994 zunächst eine unselbstständige Stiftung gegründet wurde, die 2003 dann in eine selbstständige Stiftung überführt wurde. Insofern sind die Angaben im Buch korrekt.]
2 Die Zeichnungen wurden in einer Ausstellung und in einem Katalog präsentiert. Vgl. Volkhard Knigge (Hrsg.), Thomas Geve. Es gibt hier keine Kinder: Auschwitz, Groß-Rosen, Buchenwald. Zeichnungen eines kindlichen Historikers, Göttingen 1997. Allerdings setzte eine intensive und wissenschaftliche fundierte Auseinandersetzung mit derartigen Quellenbeständen erst einige Jahre später ein. Besonders hervorzuheben sind hier die Arbeiten der Kunsthistorikerin Christiane Heß.
3 In: Birgit R. Erdle / Sigrid Weigel (Hrsg.), Fünfzig Jahre danach. Zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus, Zürich 1995, S. 193–235.
4 Volkhard Knigge / Jürgen Maria Pietsch / Thomas A. Seidel, Versteinertes Gedenken. Das Buchenwalder Mahnmal von 1958, Spröda 1997.
5 Volkhard Knigge, Buchenwald, in: Detlef Hoffmann (Hrsg.), Das Gedächtnis der Dinge. KZ-Relikte und KZ-Denkmäler 1945–1995, Frankfurt am Main 1998, S. 92–173.
6 Neben Geschichtsinitiativen, die sich für eine Einbeziehung vormaliger Lagerareale in Gedenkstätten einsetzten, entstanden zum Beispiel Projekte, die sich den historischen Orten über Fotografien näherten, sie so „entdeckten“ und für ihre Bewahrung plädierten. Zu Buchenwald erschien ein erster derartiger Band zum 30. Jahrestag der Gedenkstättengründung und damit noch zu DDR-Zeiten: Nationale Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald (Hrsg.), Wiederfinden und Bewahren, Weimar-Buchenwald 1988 (mit Fotos von Detlef Marschall). Das Buch thematisierte auch die Entstehungsgeschichte des Ortes als Gedenkstätte.
7 In der Anmerkung 14 in Knigges Text heißt es, diese gehe „auf einen Geistesblitz Jörn Rüsens zurück“ (S. 163 im besprochenen Band).