J. Gallagher: Learning Languages in Early Modern England

Titel
Learning Languages in Early Modern England.


Autor(en)
Gallagher, John
Erschienen
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
₤ 60.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hannah Boeddeker, Understanding Written Artefacts, Universität Hamburg

Die englische Sprache wurde erst ab dem 18. Jahrhundert zu einer Lingua franca. Im 16. und 17. Jahrhundert handelte es sich bei England, wie im Übrigen ganz Britannien, daher mit seinen vielfältigen Beziehungen in viele Teile Europas um ein polyglottes Land. Ausgehend von dieser grundlegenden Erkenntnis, die John Gallagher bereits in der Einleitung anhand zahlreicher Beispiele untermauert, geht die Arbeit den Fragen nach: Wie erwarben in England Akteure unterschiedlicher sozialer Schichten Fremdsprachen und was bedeutete es, mehrerer Sprachen mächtig zu sein? (S. 211) Seine zentralen Argumente sind zum einen, dass die Praxis des Lernens im alltäglichen Leben und dafür stattfand. Zum anderen zeigt der Autor, wie das Prinzip der linguistischen Kompetenz – das Anpassen von Sprache an Status, Geschlecht und Situation – dem Fremdsprachenerwerb in der statusbewussten frühneuzeitlichen Gesellschaft inhärent war.

Mit seinem Werk knüpft Gallagher an drei historiographische Strömungen an: Erstens steht er in der Tradition einer Sozialgeschichte nach dem linguistic turn. Zweitens erweitert er die historische Bildungsforschung, die zuvor Universitäten und Akademien privilegierte, um eine Untersuchung des Sprachenlernens jenseits bisher in der Forschung etablierter akademischer Institutionen. Zuletzt antwortet er auch auf die Grand Tour-Historiographie durch eine sozial weiterreichende Analyse von Spracherwerb; sein erklärtes Ziel ist es „a history of educational travel with the education put back in“ zu schreiben (S. 161). Seine Arbeit ist also eine Geschichte des Lesens, des Sprechens, des Hörens wie auch der Interaktion: Sie betont die Vermittlung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit beim Fremdspracherwerb. Somit setzt das Werk an der Schnittstelle zwischen Bildungs- und Kommunikationsgeschichte an.

Das erste Kapitel behandelt die Orte und Akteure, in und durch welche Spracherwerb stattfand. Gallaghers Narrativ umfasst den Haushalt, den Hof sowie das Universitätsumfeld und schließlich die Metropolen, wo immer mehr private Schulen entstanden. Ab dem 17. Jahrhundert gehörte die Fremdsprachenbildung – vor allem Französisch – in Akademien für „Gentlewomen“ auch zum weiblichen Bildungskanon. Nicht nur deren Schülerinnen, sondern teilweise auch die Lehrenden waren Frauen, welche jedoch in den Quellen oftmals unsichtbar bleiben. Meist waren Leiter und Lehrer dagegen männlich und zunehmend Muttersprachler, die ihre Position durch das soziale Prestige ihrer Schüler erhielten und es sich durch das Anpreisen ihrer pädagogischen wie sprachlichen Fähigkeiten beispielsweise in Zeitungsannoncen erarbeiteten. Unter anderem auf diese Weise löst Gallagher in diesem Kapitel seine angekündigte Erweiterung einer Bildungsgeschichte von unten ein.

Das zweite Kapitel untersucht auf Grundlage des umfangreichen Korpus von 300 überwiegend gedruckten Ausgaben die „learning manuals“. Preis, Autorschaft und Materialität gewinnen eine besondere Relevanz für Gallaghers Argument. Er nutzt sie um zu ergründen, für welchen Nutzen diese Bücher intendiert waren. Ihr Wesen fasst er mit der prägnanten Formel „affordable, portable and useful“ (S. 74) zusammen. Darüber hinaus wertet er zum einen anhand von ihnen aus, welche Fremdsprachen kontinuierlich erstrebenswert erschienen (Französisch als Sprache der europäischen Diplomatie) und welche eher einen kurzen, durch sozio-politische Entwicklungen beeinflussten Moment erlebten (z.B. Spanisch als die Herrscherfamilie eine mögliche Ehe zwischen James I. und Maria Anna von Spanien anbahnte). Zum anderen wird deutlich, wie sehr der zu vermittelnde Inhalt sich an Konversation und Aussprache orientierte, sodass viele Handbücher als „speaking books“ (S. 56) das Mündliche in den Vordergrund rückten.

Dass nicht die binäre Grenze von „fluent/non-fluent“ richtungsweisend für den Spracherwerb war, zeigt Gallaghers drittes Kapitel. Der Autor versucht vielmehr zu unterstreichen, dass die multiple linguistische Kompetenz, das Beherrschen situativer sprachlicher (und nicht-sprachlicher) Normen, ausschlaggebend war. Allem voran zeigt er auf, wie Handbücher immer wieder auf sozialen Status und Ehrkonzepte rekurrierten. Wertendes Vokabular, das Changieren zwischen formeller wie informeller Anrede und nicht zuletzt sprachliche Regeln für den Regelbruch exemplifizieren dies. Jenen Grundgedanken wendet das Kapitel auf verschiedene soziale Gruppen wie Situationen an. So deckten Leitfäden für Frauen maßgeblich ein häusliches Vokabular ab und exkludierten sie so von einer linguistischen Kompetenz für außerhäusliche Situationen: Sie versuchten die weibliche Welt kleiner zu machen. Ferner boten die Bücher linguistische Normen für Rituale und Zeremonien, gleiches gilt für den Handel. Der letzte Teil veranschaulicht, wie Kompendien für Immigranten in England im Kontrast zu den vorherigen Kontexten sehr viel stärker auf Assimilation durch linguistische Kompetenz ausgelegt waren.

Das letzte Kapitel stellt eine kritische Antwort auf die Historiographie zur Bildungsreise dar, die sich zwar in Anekdoten mit dem Erlernen von Sprachen auf dem Kontinent auseinandersetzte, aber keine systematische Untersuchung anstrebte.

Demgegenüber zeigt Gallagher, wie der Prozess und die Pädagogik des Sprachenlernens viele dieser Unternehmungen beeinflusste und durchdrang: Welche Region sprach den „besten“ Dialekt (für das Heilige Römische Reich wurde Leipzig empfohlen)? Wo logierte man? In wessen Begleitung reiste man? Wie spiegeln sich Fortschritte in Notizbüchern und Briefen wider? Mit der Annäherung an die Grand Tour als Spracherfahrung aus einer linguistischen Perspektive ist Gallagher nicht allein, ähnliches unternimmt Arturo Torsi in seinem kürzlich erschienenen Werk Language and the Grand Tour – jedoch ohne den Fokus auf englische Akteure.1 Gallagher zeigt so, dass der Spracherwerb die Grand Tour zu einem gewissen Grad determinierte und dass sich die Praxis des Lernens in den Quellen, die währenddessen entstanden, explizit nachvollziehen lässt. Und er macht noch einen dritten Punkt auf: Er veranschaulicht, dass die Imitation des Fremden durch die erworbene linguistische Kompetenz durchaus notwendig und erwünscht war, Autoren aber allseits vor der in der Frühen Neuzeit topischen Dissimulation warnten. Kommunikatives Verhalten und Identität, so zeigt die Arbeit, waren in der Frühen Neuzeit konzeptuell miteinander verknüpft.

Insgesamt gelingt es Gallagher durch zwei vielleicht zunächst simpel anmutende Fragen ein alltägliches wie wesentliches Phänomen zu beleuchten. Sein Verdienst ist es allem voran, das Sprachenlernen systematisch in den Kontext bekannter frühneuzeitlicher Strukturen – der Rolle des Mündlichen, die Bedeutung der Zeremonien, das Gewicht sozialer Normen – einzubetten und seinen Wert für diese aufzuzeigen. Gallagher legt besonders eindrucksvoll dar, wie Anleitungen für Fremdsprachen Anteil daran hatten zu präfigurieren, was Teil der Wirklichkeit sein sollte und wirkten dadurch auf die Grenzen der Erfahrungswelt der Lernenden zurück. Hervorzuheben ist auch Gallaghers Differenzierung der Schwerpunkte und des Nutzens beim Fremdsprachenerwerbs für Frauen und Männern, ohne dass er eine dezidierte Geschlechtergeschichte des Spracherwerbs schriebe.

Zu fragen bleibt, warum die Auswahl auf England statt Großbritannien als Untersuchungsfeld fiel und ob letzteres zumindest als Vergleichsfolie nicht ein vollständigeres Bild ergeben hätte – insbesondere, da Gallagher in seiner Einleitung reizvolle Ansätze aufzeigt: So waren neben Englisch auch irisches und schottisches Gälisch wie Walisisch gängige Sprachen auf den britischen Inseln, doch im Zuge der politischen Zentralisierung begann Englisch zu dominieren. Diese – sich verschiebenden – Relationen der britischen Sprachen untereinander lässt Gallagher in den folgenden Kapiteln jedoch außen vor. Der Fokus liegt stattdessen auf Englands Verhältnis zu kontinentalen Sprachen. Wie eben jenes Verhältnis sich aber in den weiteren Ländern der britischen Krone unterschied und ob deshalb verschiedene linguistische Kompetenzen erworben, praktiziert und benötigten wurden, vertieft Gallagher nicht weiter: Wie sah die Extracurricular Economy in Schottland aus? Welche Immigranten betätigten sich als Sprachlehrer in Irland? Welche kontinentalen Fremdsprachen priorisierte ein Waliser – für welchen Zweck? Wo trafen die britischen Sprachen aufeinander? Zu denken wäre unter Umständen an London, das Gallagher schon im ersten Kapitel als Knotenpunkt diverser Sprachen hervorhebt. Das urbane Umfeld als multilingualer Wissensraum wird ihn auch weiterhin beschäftigen, mit dem Fokus auf polyglotte Immigrantengemeinden. Sein überzeugendes Werk bietet vielfache Anregungen für weitere Untersuchungen zu frühneuzeitlichen Fremdsprachenpraktiken. Gallaghers neues Projekt ist eine anknüpfende Überlegung, die sich daraus ergibt.

Anmerkung:
1 Arturo Tosi, Language Learning and the Grand Tour. Linguistic Experiences of Travelling in Early Modern Europe, Cambridge 2020.

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