Cover
Titel
Thingstätten. Von der Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart


Herausgeber
Bosse, Katharina
Erschienen
Bielefeld 2020: Kerber Verlag
Anzahl Seiten
251 S., 164 Farb- und 56 SW-Abb.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefanie Samida, Historisches Seminar, Universität Heidelberg

Es gibt Orte, die sind sichtbar, aber doch unsichtbar – oder anders gesagt: Sie changieren zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. Das hier zu besprechende Buch nimmt sich einer ganz speziellen Gattung solcher Orte an: den von den Nationalsozialisten in der Mitte der 1930er-Jahre erbauten sogenannten Thingstätten. Diese NS-Bauten, die architektonisch antiken Theatern gleichen, und die hinter ihnen stehende Idee sind von der Forschung bislang eher stiefmütterlich behandelt worden.1 Die Gründe mögen vielfältig sein, ein wichtiger Aspekt dürfte aber sein, dass diesen aus der Anfangszeit des „Drittes Reichs“ stammenden Anlagen nach einer kurzen Euphorie zwischen 1933 und etwa 1936 die Ernüchterung beziehungsweise ein „rasantes Sich-überleben einer Idee“ folgte (S. 8). Damit hängt auch zusammen, dass die Thingstätten – ab Oktober 1935 kam es auf Geheiß des Reichspropagandaministers Joseph Goebbels zu einer Tilgung des Begriffs „Thing“ und zu einer Umbenennung der Orte in „Feier“- beziehungsweise „Weihestätten“ – anders als viele andere NS-Großbauten nach 1945 weitgehend in Vergessenheit gerieten. Sie waren weder Gegenstand der erinnerungskulturellen Debatte der letzten drei Jahrzehnte, noch haben sie in der geschichts- und kulturwissenschaftlichen Forschung eine größere Beachtung erfahren. Das erstaunt, denn nicht wenige der circa 40 bis 50 heute noch auffindbaren Anlagen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg weiter genutzt und sind zum Teil bis heute in Betrieb. Hierzu gehören beispielsweise die als Berliner Waldbühne bekannte Dietrich-Eckart-Freilichtbühne, die Freilichtbühne Loreley bei St. Goarshausen und die in Bad Segeberg erbaute Anlage, in der seit 1952 die Karl-May-Spiele stattfinden. Es gibt aber auch Stätten, die nach und nach ganz aus dem öffentlichen beziehungsweise kommunikativen Gedächtnis verschwunden sind, wie zum Beispiel die überwachsenen und kaum noch sichtbaren Anlagen in Braunschweig und Herchen.2

Der von Katharina Bosse herausgegebene Bildband – und so muss man das Buch nennen – lebt von den bestechenden und großartigen Fotografien der beteiligten Künstler/innen, die es schaffen, eine „Überhöhung der Architektur durch die Fotografie zu vermeiden“ (S. 8). Hervorheben möchte ich lediglich die ungewöhnlichen Perspektiven auf die Berliner Waldbühne (S. 196ff.), die in ihrer Nüchternheit und aufgrund ihres dokumentarischen Charakters beeindrucken; gelungen ist aber auch die Gegenüberstellung von Einst und Jetzt – die Thingstätten auf historischen Postkarten aus der Zeit des Nationalsozialismus einerseits und die aktuellen Fotos der Überreste andererseits.

Über die zahlreichen Fotografien werden die in einer Art Dornröschenschlaf schlummernden Orte nun an die Oberfläche geholt. Die präsentierten Dokumentarfotografien und Kunstprojekte sind das Ergebnis eines 2012 begonnenen, interdisziplinär und pluralistisch angelegten Projekts, bei dem sich die Mitstreiter/innen auf Spurensuche begaben.3 Aufgrund seiner Mehrstimmigkeit stelle es sich, so die an der Fachhochschule Bielefeld Fotografie lehrende Herausgeberin, bewusst der „faschistischen Idee von Einheit“ entgegen (S. 7).

Wie schon angedeutet, handelt es sich bei dem Band nicht um ein wissenschaftliches Werk im herkömmlichen Sinne. Insgesamt gibt es nur drei längere Textbeiträge. Neben der Einführung der Herausgeberin, in der sie das Projekt, aber auch zusammenfassend die Thingstätten und ihre Bedeutung als Räume des sinnlichen Erlebens in der Anfangszeit der NS-Diktatur zusammenfassend darstellt (S. 6–10), sind vor allem der Beitrag des in Cardiff lehrenden Historikers Gerwin Strobl zum Thingspiel und zur Thingbewegung (S. 16–25) und die Ausführungen Bernhard Gelderbloms zum Bückeberg zu erwähnen (S. 222–228). Darüber hinaus finden sich übersichtsartige Kurztexte der Herausgeberin zu den Thingstätten in Bad Segeberg (S. 29f.), Heidelberg (S. 57f.), Northeim (S. 97f.), Bad Schmiedeberg und Lichtentanne (S. 113f.), Kamenz (S. 121), Herchen (S. 125f.) sowie von Beata Wielgosik zu Annaberg (Polen) (S. 153) und von Stefan Wunsch zu Vogelsang (S. 169f.). Die künstlerischen Projekte sind ebenfalls nicht nur fotografisch festgehalten, sondern werden auch schriftlich erläutert, beispielsweise zur Anlage in Herchen, die im Mittelpunkt von mehreren Kunstprojekten stand (S. 130ff.). So schuf etwa der US-amerikanische Künstler und Regisseur Doug Fitch mit seiner Performance eine alternative Erzählung zum negativ konnotierten Erbe. Schülerinnen aus Herchen mimten an der Stätte die buddhistische Gottheit Yamantaka (Bezwinger des Todes) und damit eine Gottheit, die im Gegensatz zu dem steht, was das „Dritte Reich“ repräsentierte (S. 138). Rebecca Hackemann wiederum stellte an drei Thingstätten (Herchen, Borna und Berlin) ein Fernrohr auf, wie man es aus dem touristischen Kontext kennt, und beobachtete die Reaktionen der Personen. Zu sehen waren jeweils die Thingplätze. In Herchen schauten innerhalb von drei Stunden mehr als ein Dutzend Personen durch das Fernglas und fragten sich, was das Objekt sei, das sie sahen. Interessanterweise (er-)kannte keiner die architektonische Struktur und damit den Thingplatz (S. 142).

Wer mehr zum historischen Hintergrund der Thingstätten erfahren möchte, der sollte die Beiträge von Strobl und Gelderblom lesen. Stobl zeichnet nicht nur anschaulich die Entstehung der „Thingeuphorie“ nach, auf deren Höhepunkt mehrere hundert Stätten geplant wurden (S. 17), sondern er widmet sich auch den zentralen Protagonisten und ihren Motiven. Als Laientheaterbewegung gestartet, die auf Traditionen aus dem Katholizismus und bündischer Jugendgruppen zurückgriff, wurde die Thingbewegung 1933 von politischer Seite „gekapert“.4 Neben Joseph Goebbels sind vor allem Otto Laubinger (Präsident der Reichstheaterkammer von 1933 bis 1935 ) sowie der Leiter der Deutschen Arbeitsfront (DAF) und Gründer der Organisation „Kraft durch Freude“ (KDF) Robert Ley zu nennen. Die Euphorie der NS-Akteure hielt allerdings nicht lange an. Schon im Sommer beziehungsweise Herbst 1934 war Goebbels unzufrieden und bezweifelte die Nachhaltigkeit der Thingspiele, sodass er im Oktober 1935 der Thingbewegung und dem Wort „Thing“ den Garaus machte (S. 22f.). Diese Wendung stellte viele lokale Akteure vor Probleme, denn zahlreiche Stätten befanden sich noch im Bau; sie wurden in der Folge nur halbherzig vorangetrieben, geschweige denn nach der Fertigstellung noch reichlich genutzt. Dennoch bilden die Thingstätten bis heute die weltweit „größte Zahl an neu geschaffenen Freilichtbühnen seit der Antike“ (S. 24).

Unter dem Titel „Die Ästhetisierung von Gewalt und Politik“ beschäftigt sich der Lokalhistoriker Gelderblom mit dem Bückeberg, der von 1933 bis 1937 Schauplatz der Reichserntedankfeste war.5 Er veranschaulicht die Bedeutung dieses von Joseph Goebbels als „Reichsthingplatz“ auserkorenen Festortes, an dem zum Teil über eine Million Menschen zusammenkamen. Der Bückeberg war dabei nicht nur ein „Ort der Verführung“, vielmehr trafen hier das „freiwillige Entgegenkommen breiter Schichten der Bevölkerung“ und „unerfüllte Sehnsüchte nach nationaler Gemeinschaft“ mit solchen der Manipulation und Massenpsychologie zusammen (S. 223). Bis in die 1990er-Jahre hinein waren die Reichserntedankfeste weitgehend vergessen; und bis heute tut sich vor allem die Lokalbevölkerung schwer, an den Ort der Massenpropaganda zu erinnern. Vorhaben, einen Dokumentations- und Lernort einzurichten und damit auf seine Bedeutung für die Nationalsozialisten – gerade in der Anfangszeit – hinzuweisen, stoßen seit Jahren auf Widerstand.

Der Herausgeberin ist daher abschließend zuzustimmen: „Wie man offener und informativer mit diesen Denkmälern der ‚Architektonischen Nachhut‘ und ihren Spuren umgehen kann, ist auch für die Zukunft eine wichtige Frage“ (S. 10). Die in dem Band versammelten Fotografien, dokumentierten Kunstprojekte und wissenschaftlichen Beiträge sind in diesem Sinne zu verstehen: Sie fordern einerseits zur Reflexion auf und liefern andererseits Anstöße für die Forschung und den Umgang mit dieser besonderen NS-Architektur.

Anmerkungen:
1 Vgl. aber Rainer Stommer, Die inszenierte Volksgemeinschaft. Die „Thing-Bewegung“ im Dritten Reich, Marburg 1985. Sein Katalog der Thingplätze – unter anderem gruppiert in offizielle und nichtoffizielle Stätten – bildet bis heute die zentrale Grundlage für die Auseinandersetzung mit diesen Plätzen. Die Heidelberger Thingstätte ist mit am besten erforscht, vgl. Meinhold Lurz, Die Heidelberger Thingstätte. Die Thingbewegung im Dritten Reich. Kunst als Mittel politischer Propaganda, Heidelberg 1975. Neuerdings beschäftigt sich auch die Denkmalpflege vermehrt mit diesen Orten, vgl. einige Beiträge in: Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege (Hrsg.), Unter der GrasNarbe. Freiraumgestaltungen in Niedersachsen während der NS-Diktatur als denkmalpflegerisches Thema, Petersberg 2015.
2 Ihre Nachnutzung und Rezeption ist bisher nicht erforscht. Das von der Verfasserin an der Universität Heidelberg durchgeführte Forschungsprojekt „Die nationalsozialistischen Thingstätten: Un/Sichtbares Erbe im erinnerungskulturellen Diskurs“ (gefördert von der Fritz Thyssen Stiftung) nimmt sich dieses Desiderats exemplarisch an. Vgl. https://www.fritz-thyssen-stiftung.de/fundings/die-nationalsozialistischen-thingstaetten-un-sichtbares-erbe-im-erinnerungskulturellen-diskurs/ (27.10.2020).
3 Am Ende des Buchs gibt es eine Karte mit den besuchten Orten sowie ein alphabetisches Register der Thingstätten (S. 238–245), jeweils mit einem aktuellen und einem historischen Foto sowie den Daten der Einweihung der Stätte und ihres heutigen Zustandes. Das Projekt findet in der Website https://thingstaetten.info (27.10.2020) seine Fortsetzung.
4 Zu den Thingspielen vgl. auch Evelyn Annuß, Volksschule des Theaters. Nationalsozialistische Massenspiele, Paderborn 2019.
5 Der Beitrag ist eine Kurzfassung eines bereits 2002 erschienenen Artikels. Ausführlich zum Bückeberg vgl. Bernhard Gelderblom, Die NS-Reichserntedankfeste auf dem Bückeberg 1933–1937. Aufmarsch der Volksgemeinschaft und Massenpropaganda, Holzminden 2018.

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