F. Schimmelfennig u.a.: Ever Looser Union?

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Titel
Ever Looser Union?. Differentiated European Integration


Autor(en)
Schimmelfennig, Frank; Winzen, Thomas
Erschienen
Anzahl Seiten
226 S.
Preis
£ 63.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maj-Britt Krone, Europäische Integration mit dem Schwerpunkt Europäische Verwaltung, Technische Universität Chemnitz

Mit „Ever Looser Union? – Differentiated European Integration“ legen Frank Schimmelfennig und Thomas Winzen eine Sammlung ihrer Forschungsergebnisse der Jahre 2010 bis 2019 vor und ergänzen dabei den neofunktionalistischen Ansatz der Europäischen Integration um den Faktor der gewollten differenzierten Integration. Denn sie folgen der These, differenzierte Integration sei ein Treiber, kein Bremser des Europäischen Integrationsprozesses. Zunächst geben die Autoren einen theoretischen Einblick in ihr Verständnis von differenzierter Integration und die Ansätze ihrer Forschungsarbeiten. Die Auswertung ihres umfangreichen Datensatzes gliedert sich darauffolgend in die Periode der EU-Erweiterungen der 2000er-Jahre, die Finanzkrise 2008/09 und die Brexit-Verhandlungen ab 2016.

Die Autoren folgen einer rechtlichen Definition von Integration, der zufolge diese eine Adaption von europäischen Rechtsnormen in das nationalstaatliche Rechtssystem bedeutet. Sie definieren den Begriff „Differenzierte Integration“ (im Folgenden DI) unter dem Aspekt der internen und externen Differenzierung. Danach liegt eine interne Differenzierung vor, sobald ein Mitgliedstaat der EU sich nicht an einer rechtlichen Regelung (legal rule) beteiligt, eine externe Differenzierung jedoch in dem Falle, dass eine rechtliche Regelung auch in mindestens einem Drittstaat gilt. Im Hinblick auf den Brexit wird auch auf die systematische differenzierte Desintegration hingewiesen, eine nahezu identische Form von DI. Spricht man bei DI jedoch von einer zunehmenden Harmonisierung, entspricht differenzierte Desintegration dagegen einer Abkehr von der bereits vollzogenen Integration einer gemeinsamen Rechtsordnung. Beide Phänomene folgen demnach einer gegensätzlichen Dynamik.

Die Grundlage der Erhebungen bilden sowohl Rechtsnormen des Primär- und Sekundärrechts als auch multilaterale Verträge. Untersucht wurden vor allem die Römischen Verträge und der Vertrag über die Europäische Union und deren Neufassungen sowie Verträge, die mit der Zeit in EU-Recht übernommen wurden (wie das Schengener Abkommen) oder die auf längere Sicht in EU-Recht aufgenommen werden sollen (wie der Fiskalpakt). Die Forschung der Autoren bezieht auch Verträge zur Erweiterung der EU ein. Ausgeschlossen wurden dagegen Rechtsnormen, die zwar auf Europarecht beruhen, aber im nationalen Recht der Mitgliedstaaten weiter verschärft wurden, damit also nicht mehr im Anwendungsbereich des Unionsrechts liegen. Gleiches gilt für Richtlinien, Empfehlungen und Vorhaben bilateraler Interessengruppen unter den Mitgliedstaaten.

Unterschieden werden drei Modi der DI: multi-speed, multi-tier und multi-menu. Erklären sich Staaten zur Integration bereit, verhandeln sie dafür aus Kapazitäts- oder Präferenzgründen individuelle Zeitpläne für die Umsetzung in nationales Recht. Diese zeitverzögerte Integration entspricht dem Modus „multi-speed“. Der Modus „multi-tier integration“ beschreibt indes das Bild einer zentrifugal aufgebauten Europäischen Integration, in dessen Zentrum die Uniformität der Integration am höchsten und in peripheren Kreisen nach Außen immer differenzierter wird. Ein extern differenzierter Drittstaat, der sich nur an wenigen EU-Rechtsnormen beteiligt (wie etwa Norwegen), würde hierbei am äußersten Rand der Peripherie verortet sein, während ein EU-Mitgliedstaat, der den acquis communautaire umfassend umgesetzt und keine Ausnahmeregelungen durch Verhandlung erhalten hat, im Zentrum angesiedelt würde. Der dritte Modus der „multi-menu integration“ beschreibt schließlich den rationalen Umstand, dass Staaten sich jenen Policies anschließen, die ihren Präferenzen entsprechen. Das bestechende Beispiel von „multi-menu differentiation“ ist die Wirtschafts- und Währungsunion, der nur 19 der 27 Mitgliedstaaten angehören. Diese intern differenzierte Integration zeigt einerseits die Präferenzen reicher Staaten, die Souveränität über das eigene Währungs- und Finanzsystem zu behalten, doch gleichzeitig die unzureichenden Kapazitäten armer Staaten, den Konvergenzkriterien des Euroraums zu entsprechen. Umgekehrt kann differenzierte Integration so auch ein Schutzmechanismus für integrierte Staaten sein. Im Fall der WWU schützt die differenzierte Integration den Euroraum vor zu hoher Verschuldung, Preisinstabilität und Kursschwankungen. Welche Probleme bei einer zu schnellen Integration auftreten können, wurde am Beispiel Griechenlands während der Finanzkrise 2008/09 deutlich.

Um ihre Grundlagenforschung theoretisch einzuordnen, ergänzen Schmimmelfennig und Winzen die klassischen intergouvernementalen und neofunktionalistischen Integrationstheorien der 1990er- und 2000er-Jahre um zwei Dimensionen: Angebot und Nachfrage. Als Angebot verstehen die Autoren die bestehenden Rechtsnormen, an deren Integration sich europäische Staaten beteiligen können. Die Nachfrage wird hingegen aus der Heterogenität von Präferenz, Kapazität und Abhängigkeiten geschaffen. Die Nachfrage entsteht aus dem Willen heraus, diese Heterogenität abzubauen oder zu verringern. Dabei wird unterstrichen, dass der Aspekt vorhandener Kapazität (capacity) vor allem bei Verhandlungen zu EU-Erweiterungen eine Rolle spielt, wohingegen Präferenzen (preferences) besonders in Staaten ohne Beitrittsabsicht verhandlungsbestimmend sind. Dieser Aspekt wird auch im angestrebten Beitritt der Ukraine zur EU eine interessante Rolle spielen. Besitzt die Ukraine überhaupt die institutionellen und strukturellen Kapazitäten, um Mitglied der EU zu werden und möchte die EU die Kapazitäten aufbringen, ein zerstörtes und verschuldetes Land mit Problemen bei Korruption und good governance aufzunehmen? Oder lassen sich sicherheitspolitische oder wirtschaftliche Präferenzen auch mit einer externen Integration in einen ausgewählten Politikbereich befriedigen? Kann zwischen Vertragsparteien keine Überwindung von Heterogenität erreicht werden, ermöglicht DI Kompromisse, wo ansonsten keine Integration stattfände. DI hilft hier also, Heterogenität zwischen Staaten abzubauen und eine stetige Harmonisierung durch Verhandlung zu schaffen.

Die Forschungsergebnisse ermöglichen eine multiple Betrachtung der Entwicklung von DI. So können Korrelationen von DI und den EU-Erweiterungen, den Unterschieden zwischen Kern- und Peripheriestaaten sowie dem Verhalten nach Politikbereichen aus den Daten abgeleitet werden. Auch sind Aussagen darüber möglich, inwieweit DI eine Gefährdung von Demokratie (unterschiedliche Rechte von Staaten, Diskriminierung von Bürgern integrationsunwilliger Staaten) und Solidarität (Verweigerung von Hilfe bei Bewältigung der Flüchtlingskrise als auch der Finanzkrise) innerhalb der EU darstellt.

Die Daten zeigen, dass es große Unterscheide zwischen Zentrums- und Peripheriestaaten der EU gibt. Während die Gründungsstaaten in ihren Integrationsbemühungen eher homogen sind, hegen osteuropäische Mitgliedstaaten eine deutliche Präferenz für mehr staatliche Souveränität – vor allem in staatlichen Kernbereichen. Die Autoren bewerten DI dabei jedoch nicht negativ. Solange eine stetige Zunahme von Integration im neofunktionalistischen Sinne sichtbar ist und von einer Festigung demokratischer Strukturen durch weitere EU-Beitritte oder externe Integration ausgegangen werden kann, ist sie in jedem Fall dem ideologischen Disput mit einem von Russland geführten Bündnis an der Grenze zur EU vorzuziehen. Die Autoren bezweifeln, dass die „neuen“ Mitglieder der EU überhaupt Bereitschaft zu einem Beitritt zeigen würden, wäre eine unverzügliche und vollständige Annahme des acquis communautaire unausweichlich.

Winzen und Schimmelfennig untersuchten außerdem das Verhältnis absoluter und relativer DI. Mit steigender Anzahl der Mitglieder, einer Zunahme von Rechtsnormen und Policies, die von den Mitgliedstaaten umgesetzt werden müssen, stiegen – absolut gesehen – die Gelegenheiten für Staaten, opt-outs zu verhandeln. Vergleicht man aktuelle Trends allerdings mit den Anfängen der EU, ist eine relative Abnahme von DI zu erkennen. Die EU war also zu ihrer Gründungszeit nicht stärker integriert als heute.

Zwei Kernaussagen können nach der Lektüre des Buches festgehalten werden: Interne DI ist ein gewolltes und historisch gewachsenes Phänomen. Sie kann sogar als Bedingung für das Bestehen der modernen EU verstanden werden. Sie ermöglicht es, Staaten des ehemaligen russischen Einflussbereichs an die Wertegemeinschaft zu binden und hält auch Türen für eine externe DI jener Staaten offen, die nicht an einer Mitgliedschaft zur EU interessiert sind beziehungsweise deren Mitgliedschaft in der EU auch gar nicht gewünscht ist. Dass dieses Instrument zumindest phasenweise zentrifugale Kräfte innerhalb des Bündnisses freisetzt, ist unausweichlich. Eine zweite wichtige Erkenntnis ist jene, dass multi-speed integration nicht bedeutet, dass sich Staaten durch DI voneinander entfernen und die EU zu einem legislativen Flickenteppich wird. Im Gegenteil öffnet eine langfristig angelegte Europäische Integration Möglichkeiten dafür, auch die neu hinzugekommenen Gesellschaften an die geänderten Umstände zu gewöhnen, staatliche Strukturen nicht überhastet umbauen zu müssen und so für Akzeptanz zu werben. Auch die Gründungsstaaten der EU sind schließlich erst langsam in den acquis communautaire hineingewachsen. Dies ist in Hinblick auf die Debatte zur Zukunft der EU wahrscheinlich die entscheidendste Aussage des Buches.

Die Autoren präsentieren in ihrer Studie eine umfangreiche und leserfreundlich beschriebene Meta-Analyse zu einem bis dato häufig qualitativ betrachteten Forschungsbereich. Durch die knappe Zusammenfassung von Forschungsergebnissen über verschiedene Politikbereiche hinweg, ergibt sich ein rundes Bild über den Zustand der Europäischen Integration bis zum Brexit. Erfrischend ist die positive Bewertung von differenzierter Integration. Die Autoren eröffnen den Blick für eine differenzierte Betrachtung nicht-linearer Integration und tiefere externe Integration als Alternative für einen vollständigen EU-Beitritt; vor allem in Hinblick auf die zahlreichen laufenden Beitrittsverfahren, welche der Definition der Autoren folgend ohnehin bereits einer multi-speed integration entsprechen. Das Buch gibt jedoch keine Antwort auf die Frage, welche Effekte DI auf das praktische und strukturelle Gefüge sowie die Beziehungen zu Drittstaaten der EU hat und ob es auch Alternativen zu einer harten in-or-out-Entscheidung geben kann. Dennoch ist das Buch ein must-read für Historiker, Europarechtler und Politikwissenschaftler, die sich im Forschungsfeld der Europäischen Integration bewegen.