M. Albrecht (Hrsg.): Europas südliche Ränder

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Titel
Europas südliche Ränder. Interdisziplinäre Perspektiven auf Asymmetrien, Hierarchien und Postkolonialismus-Verlierer


Herausgeber
Albrecht, Monika
Reihe
Edition Kulturwissenschaft (215)
Anzahl Seiten
290 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ana María Troncoso Salazar, Technische Universität Chemnitz

Europas südliche Ränder – Interdisziplinäre Perspektiven auf Asymmetrien, Hierarchien und Postkolonialismus-Verlierer umfasst die Ergebnisse der Konferenz „Texturen von Herrschaft im Mittelmeerraum“, die im Frühsommer 2020 in Thessaloniki stattfand. Die Beiträge im von Monika Albrecht herausgegebenen Band sind in zwei Sektionen gegliedert: „Europas Süden: Diskurse, Geschichte und (Erinnerungs-)Politik“ und „Repräsentationen von Asymmetrien in Literatur und Kunst“. Obwohl es nachvollziehbar ist, zwischen dem Blick auf Vergesellschaftungsprozesse und dem Blick auf deren (literarische, filmische, musikalische) Repräsentation zu unterscheiden, führt dies im Band selbst zu einer etwas künstlichen Trennung von sich inhaltlich nahestehenden Beiträgen.

Auch wenn der Titel eine Auseinandersetzung mit Südeuropa beziehungsweise dem Mittelmeerraum andeutet, liegt der Fokus vor allem auf Griechenland. Aus verschiedenen Perspektiven und vor allem am Beispiel der Verhältnisse zwischen Griechenland und „Europa“ in Vergangenheit und Gegenwart werden die Asymmetrien und (Binnen-)Hierarchien untersucht. So etwa im Beitrag der Herausgeberin Monika Albrecht „Erinnerungspolitik und Deutungshoheit“, in dem es um die Debatten im deutschen Bundestag und deren mediale Rezeption über den Genozid an osmanischen Griech:innen im Ersten Weltkrieg geht. Auch im Beitrag von Julian Zimmermann „Sakraler Ritus meets Fremdherrschaftserinnerung“ geht es um die Verschränkung von Erinnerungskultur und Politik. Während Albrecht den bundesdeutschen Schwierigkeiten nachgeht, andere Genozide neben den Holocaust zu stellen (S. 91), blickt Zimmermann auf den Umgang mit der osmanischen Fremdherrschaft in Griechenland und analysiert die performative Erinnerungskultur, bei der die christliche Feier von Mariä Himmelfahrt in der Stadt Tinos zu einem politischen Akt wird, indem die Prozession zentrale, für die Geschichte der Revolutionskriege symbolträchtige Punkte der Stadt durchläuft. Dabei wird Raum sozial konstruiert (S. 108) und die Überwindung der Fremdherrschaft durch religiöse Performativität markiert.

Mit dem literaturanalytischen Beitrag von Anastasía Antonopoúlou, „Rhéa Galanáki: Das Leben des Ismail Ferik Pascha“ geht die Beschäftigung mit der Darstellung der Geschichte Griechenlands unter osmanischer Fremdherrschaft weiter. Im Artikel wird Galanákis Roman als historiographische Metafiktion eingeordnet (S. 224) der eine reflexive Ebene zugesprochen wird, welche die Unterscheidung zwischen Mythos und Geschichte in Frage stellt. Es gebe demzufolge keine Wahrheit, vielmehr eine Hierarchie der Wahrheiten (S. 227). Indem der Roman multiple Vergangenheiten darstelle, distanziere er sich zudem von einer deutschen philhellenischen Literatur, die mit gesetzten Oppositionen von Osmanen vs. Griechen operiere (S. 237).

Einen weiteren inhaltlichen Schwerpunkt im Buch bilden die Beiträge von Sevasti Trubeta, „Hybride Rassen – Kontaktzonen – Multiple Grenzen“ und von Aglaia Blioumis über die Konstruktionen des Fremden in Reiseberichten. Trubeta geht es um den (als Gegenpol zur vermeintlichen „nordischen Rasse konzipierten) anthropologischen Begriff der „Mittelmeerrassen“. Er verweist auf die Flexibilität von Rassifizierungsprozessen (S. 57) und die Fragilität anthropologischer Aussagen im 19. Jahrhundert (S. 63). Blioumis Beitrag macht deutlich, wie diesen Konstruktionen im Reisebericht von Zachariä in der „Pose des Forschers“ (S. 253) nachzuspüren ist. Auch die Flexibilität von Rassifizierungsprozessen, von denen Trubeta spricht, findet sich im Beitrag von Blioumis wieder: Während die Konstruktion der Mittelmeerrasse eine Suche nach „reinen Hybriden“ innerhalb Europas darstelle (S. 60), werde Griechenland im Reisebericht von Zachariä eine Zwischenposition zwischen Orient und Okzident zugeschrieben und aufgrund seiner kulturellen Vielfalt bzw. kulturelle Hybridität als rückständig in Vergleich zu Europa erklärt (S. 258).

Im Beitrag vom algerischen Kollektiv El Houma geht es um Rap als Widerstandspraxis gegen lokale und globale Machtverhältnisse (S. 268). Am Beispiel der Entwicklung der Rap-Szene werden Piraterie und formale Eigenschaften des Rappens zum Ausdruck einer (linguistischen) Autonomie, die wiederum eine Positionierung zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden verkörpert. Die Autor:innen argumentieren, dass die Rap-Szene Kontaktzonen und Prozesse von Deterritorialisierung und Relokalisierung hervorgebracht habe, die für eine Überschreitung von Binaritäten unabdingbar sind (S. 264).

Der Beitrag von Martin Schwarz, „Die Mittelmeerpolitik der Europäischen Union als Konsequenz einer ‚flüchtigen Moderne‘?“, thematisiert die dynamische Absorptionskraft des EU-Binnenmarktes (S. 127) und problematisiert die EU-Politik gegenüber den Mittelmeerdrittländern. Dabei stellt der Autor fest, dass diese Politik fallbezogen und identitätsstiftend ist (S. 131), Handlungsalternativen der Anrainerstaaten reduziert und so in einer abgestuften Integration die Länder des Südens „europäisiert“ (S. 135). Zudem beleuchtet Schwarz Narrative, die den Mittelmeerraum zunehmend als Krisenregion, Migrationszentrum und Sicherheitsproblem fassen, (S. 134) während die EU im Kontrast dazu als Garant für Frieden, Demokratie und Wachstum konzipiert wird (S. 141). Daran knüpft der Beitrag von Sergio Corrado, „Repräsentationen des Insularen: Mittelmeerinsel als Orte der Vernetzung, Verbannung, Selbstfindung“, insofern an, als der Autor das wachsende Machgefälle zwischen den griechischen Inseln und dem Festland herausarbeitet. Dabei verweist der Autor auf die Instabilität der Grenzen (S. 184) sowie auf die immer anders codierten Texturen von Herrschaft im Laufe der Jahrhunderte (S. 185).

Während sich viele Beiträge des Bandes aufeinander beziehen lassen, scheinen sich andere Beiträge allenfalls lose und assoziativ zusammenbringen zu lassen, was der Kohärenz des Bandes nicht unbedingt guttut. Der für sich genommen durchaus sehr interessante Beitrag von Dannica Fleiß, „Does Diversity Trump Specialisation?“, plädiert für eine verstärkte Interdisziplinarität in der Wissenschaft (S. 148). Ferner geht die Autorin dem Phänomen der politischen Legitimität aus altertumswissenschaftlicher, kulturwissenschaftlicher und bildwissenschaftlicher Perspektive nach und zeigt gekonnt, wie drei verschiedene Disziplinen sich bei der Frage der Legitimierung von eines politischen Systems bzw. Politiker:innen ergänzen können. Der Beitrag von Ulrich Meurer ist eine kunsthistorische Auseinandersetzung mit dem Mosses Videoprojekt und dem spezifischen Umgang der daran beteiligten KünstlerInnen mit der sogenannten Flüchtlingskrise.

Den Beiträgen des Bandes ist eine Abhandlung der Herausgeberin vorangestellt. Monika Albrecht konstatiert darin eine Vernachlässigung der innereuropäischen Verhältnisse bei der postkolonialen Theoriebildung. Zum einen verdrängten postkoloniale Theorien als Wissenschaftsregime andere Perspektiven, zum anderen seien sie für die Analyse innereuropäischer Komplexitäten auch nicht wirklich geeignet. Die erste Kritik baut allerdings auf überaus vehement vorgetragenen Annahmen auf, deren Wahrheitsgehalt sich nicht aus dem vorliegenden Text herleiten lässt. So suggeriert Albrecht, dass postkoloniale Theorie von einem simplen Schwarz-Weiß-Muster europäisch vs. nicht europäisch ausgehe (S. 11) und Kritik „ausschließlich“ am Westen übe (S. 13). Ferner behauptet sie, dass postkolonialen Studien auf Kategorien wie race und people of color fixiert seien, aber innereuropäische Machtasymmetrien ignorierten (S. 16). Zudem würden Errungenschaften der westlichen Zivilisation pauschal abgewertet und „alles irgendwie doch Bewundernswerte […] und Bewahrenswerte […] unreflektiert an außeneuropäische Zivilisationen ab[ge]treten“ (S. 35). Somit arbeite die postkoloniale Theorie „systematisch und kontinuierlich“ an einer Umwertung (ebd.), die keinen Einspruch zulasse, denn anstelle von Argumenten komme „regelmäßig die Triade Rassismus – Eurozentrismus – Kolonialismus zum Einsatz“. VertreterInnen postkolonialer Theorien würden zudem die Methode nutzen, „Studien und Quellen zu ignorieren, die den eigenen Thesen widersprechen“ (S. 36), und sich dennoch als Avantgarde verstehen (S. 37).

Diese thesenreiche Darstellung mag neugierig machen, allerdings irritiert sie auch, da viele von Albrechts Überlegungen im Ungefähren bleiben und damit immer wieder auch etwas polemisch erscheinen. Der zweite Teil ihrer Kritik ist dagegen nachvollziehbarer: Die Autorin stellt zu Recht fest, dass postkoloniale Perspektiven durch die Analyse inneneuropäischen Hierarchien bis dato nicht erweitert worden sind. Allerdings stellt sich durchaus die Frage, warum im Band nicht mehr dazu beigetragen wird, diesem Mangel entgegenzutreten. Auch hier macht Albrecht deutlich, dass es ihr als Herausgeberin nicht darum geht, „den doppelten Standard postkolonialer Studien auf Griechenland zu übertragen“. Stattdessen ist sie nach eigener Aussage bestrebt, „die Errungenschaften des Western und also auch seine Grundlagen in der griechischen Antike Stück für Stück zunächst einmal von den Verzerrungen des Postkolonialismus zu befreien, um dann zu sachlichen, dabei natürlich kritischen Debatten zurückzukehren“ (S. 39).

Die fehlenden Bezüge zwischen Albrechts Einleitung und den anderen Texten des Bandes stellen sicherlich das größte Manko des hier rezensierten Sammelbandes dar. Denn auch wenn Inhalte der postkolonialen Theorie in keinem der Texte systematisch angewendet werden, beziehen fast alle Autor:innen sie in der Praxis oder implizit mit in ihre Analysen ein. So steht Albrechts Beitrag unter dem Strich recht allein und unverbunden da. Jenseits dieser inhaltlichen Inkongruenzen vermittelt das vorgelegte Buch jedoch wichtige neue und lehrreiche Ansichten über innereuropäische Hierarchien. Ferner ermutigt der Band dazu, mit den Worten von Spivak, den Süden im Norden sowie den Norden im Süden nicht aus den Augen zu verlieren.1 Ob aus postkolonialen oder anderen Perspektiven, bleibt weiterhin eine Wahl der Forscher:innen selbst.

Anmerkung:
1 Gayatri Chakravorty Spivak im Interview im Rahmen einer internationalen Tagung zum Thema ethnische und geschlechtsspezifische Gewalt an der Universidad de Chile in Santiago, 22.–24.08.2016: „Los velos de la violencia: Reflexiones y experiencias étnicas y de género en Chile y América Latina“; Min. 1:10, https://www.youtube.com/watch?v=huuDvOeH3Y8 (30.11.2022).