Cover
Titel
Episcopal Power and Personality in Medieval Europe. 900-1480


Herausgeber
Coss, Peter; Dennis, Chris; Julian-Jones, Melissa; Silvestri, Angelo
Reihe
Medieval Church Studies 42
Erschienen
Turnhout 2020: Brepols Publishers
Anzahl Seiten
310 S.
Preis
€ 85,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Bruhn, Deutsches Historisches Institut (DHI) London

Das Spannungsfeld zwischen Individuum und Struktur, zwischen eigenem Gestaltungswillen und überpersönlichem Amt bildet ein Grundproblem der mediävistischen Bischofsforschung: Können gut überlieferte Fälle wie Hinkmar von Reims, Leofric von Exeter oder Anselm von Canterbury als repräsentativ für den Episkopat ihrer Zeit gelten? Wie soll man mit Blick auf solche Ausnahmefälle mit der breiten Masse an Prälaten umgehen, von denen vielfach nicht mehr als die Pontifikatsdauer bekannt ist? Auf welchen Feldern stießen Bischöfe in ihren Diözesen Veränderungen an und in welchen Bereichen setzten sie lediglich Bestehendes fort? Wie bedeutsam sind individuelle Qualitäten für das „Gelingen“ oder auch das „Scheitern“ einer Amtszeit? Die anhaltende Bedeutung wie auch Produktivität solcher Fragestellungen zeigt sich nicht zuletzt in einer Reihe aktueller Projekte, die sich mit den Handlungsmöglichkeiten und -grenzen von weniger profilierten Bischöfen befasst und somit den Blick für den vermeintlichen „Regelfall“ – so es ihn gab – zu schärfen sucht.1

Das Verhältnis von Außergewöhnlichkeit und Alltag, von Person und Amt steht auch im Zentrum des hier zu besprechenden Sammelbandes, der aus einer bereits 2015 in Cardiff abgehaltenen Tagung erwachsen ist, die ihrerseits in einer längerfristigen und thematisch breiteren Veranstaltungsreihe zu „bischöflichen Führungsansprüchen“ zu verorten ist.2 Für die Drucklegung wurden die Tagungsreferate zudem um weitere Fallstudien ergänzt. Als Leitfolie dient dabei der durchaus schillernde Begriff der „Episcopal Personalities“, mit dem ein zweifaches Erkenntnisinteresse verbunden ist. Zum einen soll die Bedeutung des Individuums in der Kirchenleitung stärker konturiert, zum anderen die Untersuchbarkeit von „Persönlichkeit“ als historischem Phänomen problematisiert werden (S. 8): Wo und wie erlauben Quellen Einblick in individuelles Handeln und Denken? Wo ist die Überlieferungslage stärker durch Idealvorstellungen geprägt und das jeweils vermittelte Persönlichkeitsbild mithin konstruiert?

Nach einer knappen Einleitung (S. 1–17), in welcher einige Leitfragen angerissen, die Anordnung der nachfolgenden Fallstudien hergeleitet und deren Inhalt knapp zusammengefasst werden, folgen insgesamt 14 Beiträge, die in drei Sektionen unterteilt sind. Innerhalb der Abschnitte erfolgt die Ordnung chronologisch. Ein Orts- und Personenregister fehlt, was mit Blick auf die personenzentrierten Titel vieler Aufsätze allerdings verschmerzbar sein mag.

Die erste Bandsektion mit dem Titel „Constructing Episcopal Personalities“ ist laut der Einleitung der Mitherausgeber:innen als „foundation of the volume“ (S. 13) gedacht, auf der die weiteren Abschnitte aufbauen sollen. Umso mehr verwundert es, dass sich keine der fünf so hervorgehoben Studien vertieft mit methodologischen Fragestellungen auseinandersetzt oder das jeweilige Fallbeispiel in größere Kontexte einordnet. Die Beiträge von Andrea Vanina Neyra (S. 21–33), Radosław Kotecki und Jacek Maciejewski (S. 35–61), Antonio Antonetti (S. 63–81), Christine Axen (S. 83–100) und Mercedes López-Mayán (S. 101–118) erweisen sich vielmehr – so erkenntnisreich die Einzellektüre auch ist – als sehr heterogen. Während sich Neyra sowie Kotecki und Maciejewski anhand von Thietmars Chronik beziehungsweise den Geschichtswerken von Gallus Anonymus, Cosmas von Prag und des Magisters Vincentius mit der historiographischen Aushandlung von Erwartungshaltungen an den Episkopat auseinandersetzen, fokussieren Antonetti und Axen mit Bischof Wilhelm II. von Troia und dem Avignoneser Prälaten Zoen Tencarari das Handeln einzelner Personen. Gerade im Falle Wilhelms II. von Troia fällt die Einordnung der Befunde und Thesen Antonettis allerdings schwer, da kaum Kenntnisse über seinen frühen Werdegang oder die Amtsvorgänger vorliegen und die Individualität in der Amtsführung mithin diskussionswürdig erscheint. Eine Zwischenstellung nimmt gleichsam der Beitrag von López-Mayán ein, der einerseits über die Handschriftenproduktion unter Bischof Alfonso Carrillo de Acuña, Bischof von Sigüenza sowie Erzbischof von Toledo, ebenfalls einen Akteur ins Zentrum stellt. Andererseits werden die Veränderungen in der künstlerischen Ausgestaltung der Pontifikalien als Teil eines Trends im regionalen Adel erwiesen: Alfonso beanspruchte Zugehörigkeit zu einer sich humanistisch-intellektuell definierenden Elite und entsprach somit einer Leitvorstellung, die sich ähnlich wie die bei Kotecki und Maciejewski diskutierten agonalen Männlichkeitsvorstellungen nicht auf den Episkopat reduzieren lässt.

So gewinnbringend die Einzelbeiträge somit auch sein mögen, verdeutlichen sie doch lediglich den Facettenreichtum, mit dem man sich dem vagen Begriff „personality“ annähern kann. Dieser Kritikpunkt ist freilich nicht den Autor:innen, sondern den Mitherausgeber:innen anzulasten, die in ihrer Einleitung kein konsistentes methodisches Instrumentarium formulieren, das der Orientierung hätte dienen können. Folglich wird hier ein letztlich uneinlösbarer Anspruch an die erste Sektion gestellt – ein Vorgehen, das durchaus befremdlich wirkt.

Der zweite Abschnitt versammelt unter dem Titel „Consecrating Episcopal Personalities“ Studien von Mónika Belucz zum Status Gerhards von Csanád als hybridem Heiligen (S. 121–139), von Jack P. Cunningham zur handlungsleitenden Dimension des pseudo-dionysischen Konzepts der theosis bei Robert Grosseteste (S. 141–158), von Ian L. Bass zum Modellcharakter Thomas Beckets für den Typus des englischen Bischofsheiligen, insbesondere mit Blick auf Thomas von Cantilupe, (S. 159–179) sowie von Sarah Ellis Nilsson zur Darstellung und Funktion von nicht-heiligen Bischöfen in der skandinavischen Hagiographie des 12. und 13. Jahrhunderts (S. 181–199). Mit Blick auf die Fallbeispiele erweist sich die Sektionsüberschrift somit als irreführend, denn deren Schwerpunkt liegt eindeutig auf der Heiligenverehrung und der Hagiographie. Lediglich der Beitrag von Cunningham widmet sich zumindest implizit der Weihe, begründet diese doch den Platz des Bischofs in der hierarchischen Ordnung des Kosmos, welcher wiederum eine besondere Verantwortung für die theosis oder Gottannäherung der ihm anvertrauten Gemeinde impliziert. Die Studien von Belucz und Bass fokussieren das Spannungsfeld zwischen individuellem Charisma und heiligmäßigem Topos und folgen somit etablierten Mustern der Hagiographieforschung. Ellis Nilsson weitet die Perspektive hingegen über das hagiographische Subjekt aus, indem sie einen gruppengeschichtlichen Zugang zur Überlieferung wählt, der für sich genommen zwar überzeugend ist, aber kaum Bezüge zur Bandthematik aufweist. Analog zur ersten Sektion erweisen sich folglich auch die Studien des zweiten Abschnitts auf einer übergeordneten Ebene als disparat.

Die letzten fünf Studien von Sam Janssens (S. 203–222), Brian Pavlac (S. 223–243), Andrew D. Buck (S. 245–263), Kyle C. Lincoln (S. 265–284) und Paul Webster (S. 285–303) widmen sich unter der Rubrik „Politics and Episcopal Personalities“ der politischen Vereinnahmung von Bischöfen ebenso wie Prozessen kollektiver Willensbildung und adressieren somit – wie die Mitherausgeber:innen in ihrer Einleitung anmerken – „arguably the area most studied by Medieval Scholars“ (S. 14). Ein wichtiges Leitmotiv bildet dabei die Frage nach dem Wechselverhältnis zwischen den weltlichen und kirchlichen Führungsansprüchen sowie Pflichten des Episkopats, wie vor allem Websters Rehabilitierung des englischen Episkopats unter Johann Ohneland oder Pavlacs Ausführungen zu Albero von Trier, Norbert von Xanten und Otto von Freisingen, deren Darstellung in Vitae und Gestae distinkte Typen bischöflicher Amtsführung erkennen ließen, zeigen. Auch Janssens‘ Untersuchung der Gottesfriedensbewegung in der Erzdiözese Reims fokussiert das Wechselverhältnis zwischen weltlichen und geistlichen Akteuren im Rahmen der entsprechenden Versammlungen. Demgegenüber untersucht die Studie von Buck zur politischen Agenda bei Wilhelm von Tyrus ähnlich wie die Beiträge Neyras sowie Koteckis und Maciejewskis historiographische Legitimationsstrategien, indem Wilhelms Parteinahme für das Königreich Jerusalem mit seiner vergleichsweise vorbehaltlosen Auseinandersetzung mit den internen Angelegenheiten Antiochias kontrastiert wird. Bei Lincolns Beitrag zur Domkapitelreform in Kastilien bleibt der Bezug zur Sektion hingegen unklar, werden hier doch bischöfliche Führungsansprüche innerhalb der Kirche thematisiert. Die letzte Sektion weist also die höchste inhaltliche Kohärenz auf, was angesichts der relativ konservativen Themenstellung aber auch nicht überraschen mag.

Das Fazit zum Band fällt somit insgesamt zwiespältig aus, da man die einzelnen Fallstudien sicherlich mit Gewinn lesen wird, es aber an methodischer Verklammerung und theoretischer Reflexion fehlt, mittels deren der Bischofsforschung auf einer übergeordneten Ebene ein neuer Impuls hätte gegeben werden können. Eventuell liegt dieses Manko in der Natur der Sache begründet. Denn die Frage, inwiefern „personality“ eine geeignete Analysekategorie für Studien zum Episkopat sein, ja inwiefern die ‚Rückkehr des Individuums‘ in Bezug auf diese Gruppe ein gewinnbringendes Forschungsparadigma bilden kann, erscheint dem Rezensenten diskutabel. Gewiss gilt es, situative Faktoren und somit auch den individuellen Hintergrund und Gestaltungswillen eines Prälaten immer mitzureflektieren, um gerade in überlieferungsärmeren Konstellationen die Repräsentativität von Einzelbefunden kritisch einordnen zu können. Aber wie sicher lassen sich vermeintliche Neuerungen mit dem jeweiligen Bischof in Verbindung bringen, wenn wir über seine Vorgänger und das administrative Umfeld vielfach nichts wissen? Und braucht es, wie von den Mitherausgeber:innen in der Einleitung nahegelegt (S. 11), wirklich mehr personenzentrierte Sammelbände und Biographien zu Bischöfen, wenn diese Zuspitzung der Forschung mit Blick auf das Königtum überzeugend und vollkommen zu Recht problematisiert wird?3 Der Bischofsforschung sind noch viele Aufgaben gestellt. Eine Geschichte ‚großer‘ Einzelfiguren sollte sie hingegen nicht mehr sein.

Anmerkungen:
1 Vgl. hierzu etwa die Dissertationen von Frederieke M. Schnack und Tobias Jansen zu den Mindener respektive Verdener Bischöfen, die kurz vor der Veröffentlichung beziehungsweise dem Abschluss stehen: http://www.geschichte.uni-wuerzburg.de/institut/mittelalterliche-geschichte-und-historische-grundwissenschaften/personal/schnack/; https://www.igw.uni-bonn.de/de/abteilungsseiten/mittelalter/Mitarbeiter/ehemalige/tobias-jansen/veroeffentlichungen.
Eine vergleichende Perspektive verfolgt Nina Gallion in ihrem Projekt zu den Handlungsspielräumen geistlicher Fürsten im Hochmittelalter: https://vergleichendelandesgeschichte.geschichte.uni-mainz.de/forschungsprojekte/
2 Vgl. hierzu den ebenfalls in der Reihe „Medieval Church Studies“ erschienenen Band von Peter Coss u.a. (Hrsg.), Episcopal Power and Local Society in Medieval Europe, 900–1400, Turnhout 2017. Ein dritter Band mit dem Titel „Episcopal Power and the Art of Diplomacy“ befindet sich laut der Einleitung der Mitherausgeber:innen (S. 14, Anm. 40) in Druckvorbereitung.
3 Vgl. für eine solche Problematisierung etwa die einleitenden Bemerkungen bei Knut Görich, Friedrich Barbarossa. Eine Biographie, München 2011, S. 11–25.

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