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Titel
Fleisch. Die Geschichte einer Industrialisierung


Autor(en)
Kassung, Christian
Erschienen
Paderborn 2020: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Kleinschmidt, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Philipps-Universität Marburg

Wenn die vorliegende Rezension des Buches eines Kulturwissenschaftlers von einem Wirtschafts- und Sozialhistoriker besprochen wird, so besteht leicht die Gefahr einer Perspektivenverengung des Rezensenten auf die Gepflogenheiten des eigenen Fachs, die damit der zu besprechenden Arbeit nur unzureichend gerecht wird. Andererseits haben wir es hier mit einer Publikation zu tun, die mit Blick auf das Phänomen Fleisch die „Geschichte einer Industrialisierung“ vorstellt und dabei so weit geht, diese als „Zentrum der Transformation“ zur Industrialisierung zu bezeichnen, als ein Phänomen, welches die Industrialisierung „erst ermöglichte“ (S. IX), als ein „politisches Steuerungsinstrument der nationalen Ökonomie“ (S. 17), wobei der Schlachthof als „Antrieb und Motor der Industrialisierung“ (S. 18) fungierte. Damit schreibt der Autor dem Nahrungsmittel Fleisch eine dominierende politische und ökonomische Bedeutung zu, erweitert um Aspekte einer „kulturellen Formation“ sowie eines „kulinarischen Systems“, welche ihm eine Art Alleinstellungsmerkmal als treibende Kraft der Industrialisierung und Urbanisierung im 19. und frühen 20. Jahrhundert beimisst. Belegt werden soll dies mit Blick auf unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche wie Landwirtschaft, Industrie, Technik und Kultur, also in Form eines multiperspektivischen Ansatzes, der die Wechselwirkungen zwischen diesen Bereichen herausarbeitet.

Dies spiegelt sich auch in der Gliederung des Buches wider, die in zwölf Kapiteln, beginnend mit dem „Mythos Fleisch“ über die besondere Rolle des Schweinefleischs, die technische Infrastruktur, die Architektur, Fragen der Hygiene und des Marktes bis hin zu Kulturtechniken des Kochens und die Frage des Abfalls ein breites thematisches Spektrum umfasst, welches sich im Umfeld der Wirtschafts-, Sozial-, Kultur- und Technikgeschichte bewegt. Aus der Perspektive des Wirtschafts- und Sozialhistorikers schweift der Blick des Kulturwissenschaftlers dabei häufig in Richtung kulturwissenschaftlicher, soziologischer oder architektonischer Details, die sehr akribisch und mit zum Teil poetischem Sprachduktus beschrieben werden, während der inhaltliche Erkenntniswert dann eher gering ist und zugleich wesentliche Aspekte in den einzelnen Kapiteln, die zudem in der Forschung bereits aufgearbeitet wurden, vom Autor keine Berücksichtigung finden – selbst dann, wenn sie sein Argument der besonderen Bedeutung des (Schweine-)Fleischs stützen könnten.

Über Rampen als Verbindungsglied zwischen Eisenbahngleisen und Schlachthofgebäude heißt es etwa bei Kassung: „Rampen prozessieren die Logik einer massiven Parallelität […] Auf der Rampe also kommen alle Schweine gleichzeitig im Schlachthof an, egal welchen Weg sie zuvor zurück gelegt haben. Sie werden in den Schlachtprozess hinein synchronisiert […] in den Takt der fleischproduzierenden Schlachthofmaschinerie eingespeist und zur Weiterbeförderung aussortiert. Womit die Transformation des Tieres in Fleisch, die bereits mit der Zucht oder dem Ankauf begonnen hat, spätestens auf der Rampe vollkommen unumkehrbar geworden ist“. (S. 77) Während hier mit Blick auf Fragen der technischen Infrastruktur sehr detailverliebt Sinn und Funktion von Rampen vorgestellt werden, finden sich in diesem Kapitel aber leider kaum Hinweise auf die globale Dimension des Transportwesens, auf Transport- und Wertschöpfungsketten, auf die „Transportrevolution des 19. Jahrhunderts“, die etwa auch die Kühltechnik von Linde umfasst sowie die Möglichkeit, mit Hilfe von Kühlschiffen Fleisch aus den Amerikas nach Europa und Deutschland zu transportieren und damit auch den Fleischkonsum zu beeinflussen.

Das Kapitel „Hygiene“ nimmt zwar das Thema Würmer und Trichinen, Fleischbeschau und Gesetzgebung in den Blick, betrachtet dies aber vornehmlich und unter Hinweis auf Bruno Latour und Michel Foucault als Frage der Disziplinierung und Kontrolle sowie entsprechender symbolischer Implikationen, ohne dabei auf die wichtige Bedeutung der Nahrungsmittel- bzw. Fleischkontrolle für den frühen Verbraucherschutz einzugehen (wie es etwa Vera Hierholzer herausgearbeitet hat1). Gerade hier zeigt sich die Rolle von Fleisch als „politisches Steuerungsinstrument“ , die der Verfasser allerdings vornehmlich mit Blick auf den Schlachthof analysiert. Das gilt ebenso für die Schutzzollfrage der Landwirtschaft und deren Auswirkungen auf den Produzentenschutz oder den Fleischkonsum, die umfangreichen Diskussionen über Fleischpreise und -qualitäten, wie sie etwa Christoph Nonn betont hat2, und die in diesem Kapitel ebenfalls nicht zur Sprache kommen.

Diese Versäumnisse, und damit die Chance, entsprechende Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur aus der Perspektive der Fleischherstellung angemessen zu analysieren, ziehen sich durch die weiteren Kapitel. Im Kapitel „Totschläger“ geht es zwar auch um „Menschen“ und „Maschinen“ im Schlachthof, doch die dortigen Arbeitsbedingungen werden nur sehr rudimentär dargestellt. Wie sah die Arbeitsplatzstruktur in Schlachthöfen aus? Wie waren Verdienste, Arbeitszeiten, Unfallgefahren, Arbeitsschutz, Qualifikation etc.? Dazu finden sich kaum Hinweise. Das gilt auch für das Kapitel „Markt“, in dem den Autor in erster Linie die Aufgaben der Händler in den Markthallen oder diejenigen der Metzger interessieren. Fleischmärkte, national wie international, Wettbewerb und Konkurrenz, Preise und Mengen spielen kaum eine Rolle, wie überhaupt die vergleichende – auch quantitative – Einordnung der Bedeutung von Schweinefleisch unterbelichtet bleibt. Nur wenn man nicht auf die Bedeutung von Zucker, Milch, Getreide, Kartoffeln oder Bier für die Ernährung der Bevölkerung, für deren Energiezufuhr und ihre Rolle im Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozess eingeht, wie das etwa Karl-Peter Ellerbrock bereits vor über 25 Jahren getan hat3, kommt man zur Einschätzung einer überproportionalen Bedeutung des (Schweine-)Fleischkonsums als „Zentrum der Transformation“.

Das soll nicht heißen, dass sich nicht lesenswerte und anregende Aspekte einer interdisziplinären Betrachtung in der Darstellung von Christian Kassung finden lassen. Es wird aber deutlich, dass ein solch komplexes Thema nur unter intensiver Berücksichtigung der Forschungsergebnisse der Nachbardisziplinen angemessen dargestellt werden kann. In diesem Fall betrifft das vor allem die Wirtschafts-, Sozial- und Technikgeschichte, auf deren Felder sich der Autor bewusst einlässt, sie aber nur halbherzig bedient. Insofern darf vielleicht auch ein Vertreter dieser Disziplin gezielte Kritik anbringen.

Anmerkungen:
1 Vera Hierholzer, Nahrung nach Norm. Regulierung von Nahrungsmittelqualität in der Industrialisierung 1871–1914 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 190), Göttingen 2010.
2 Christoph Nonn, Fleischvermarktung in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1996, S. 53–76.
3 Karl-Peter Ellerbrock, Geschichte der deutschen Nahrungs- und Genussmittelindustrie 1750–1914. Stuttgart 1993.

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