M. v. Brescius: German Science in the Age of Empire

Titel
German Science in the Age of Empire. Enterprise, Opportunity and the Schlagintweit Brothers


Autor(en)
von Brescius, Moritz
Erschienen
Anzahl Seiten
XIII, 414 S.
Preis
£ 90.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tobias Delfs, Seminar für Südasienstudien, Humboldt-Universität zu Berlin

1847 veranstaltete die britische Ostindienkompanie (EIC) ein Ehrenmahl zugunsten des preußischen Prinzen Waldemar, der auf Seiten der Briten an einem Feldzug gegen die Sikhs teilgenommen hatte. Dabei habe – so ein Zeitungsbericht – der preußische Gesandte Carl Josias von Bunsen in einer Rede die EIC sowie deren wissenschaftliches Interesse an Indien gelobpreist. Gesondert habe er den preußischen König hervorgehoben, der entscheidend dazu beigetragen hätte, nicht allein Waldemars „glühenden Wunsch“ nach einer Indienreise zu erfüllen, sondern auch den Hauptmann Leopold von Orlich reisen zu lassen, dessen Reisebericht „in England wie in Deutschland die günstigste Aufnahme gefunden“ habe. In seiner Rede habe er dem EIC-Direktorium für die „Förderung der indischen Philologie“ gedankt und auf die Herausgabe des Rigveda durch den Oxforder Religionswissenschaftler Friedrich Max Müller hingewiesen.1 Damit hob der Gesandte die Bedeutung Preußens und der deutschen Staaten für die britische Indienforschung hervor, umgekehrt war er sich bewusst, wie abhängig die deutsche Seite von britischer Gunst war.

Der Zeitungsartikel trifft den thematischen Kern transnationaler Verflechtung der zu rezensierenden Monographie, die aus der Dissertation von Moritz von Brescius am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz hervorgegangen ist. Brescius untersucht die Expedition(en) der Brüder Adolf, Hermann und Robert Schlagintweit nach Indien und Zentralasien (1854–1858). Zunächst als rein erdmagnetisches Vermessungsprojekt gedacht, entwickelte sich das Unternehmen bereits in seiner „Antragsphase“ zu einem Großvorhaben, das die Rohstoffsuche, ethnographische sowie naturhistorische Sammlungen einschloss und verschiedenste Interessen berücksichtigte. Insbesondere aufgrund der Fürsprache Alexander von Humboldts und des erwähnten Bunsen konnten der preußische König Friedrich Wilhelm IV., der bayerische König Maximilian II. und das federführende EIC-Direktorium für die Finanzierung gewonnen werden.

Als aus einem Staat ohne eigene Kolonien kommend, nutzten die Schlagintweits – so die überzeugende Hauptthese von Brescius – das britische imperiale Territorium, die bewusste Durchlässigkeit und angebotenen Mittel des „empire of opportunity“ (S. 8–10), um als „imperial outsiders“ (S. 99) persönliche Ambitionen und wissenschaftliche Ziele überhaupt verfolgen zu können. Wie Prinz Waldemar, Orlich oder der „Stubengelehrte“ Müller profitierten sie vom Zugang sowie der Infrastruktur und partizipierten so am Empire. Ihre Forschungsergebnisse bzw. Kollektionen gingen in die „internal workings“ desselben (S. 6) wie diejenigen ihrer eigenen Heimat ein. Anhand der Geschichte der Gebrüder im Kontext ihrer Expeditionen analysiert Brescius multiperspektivisch solche übergreifende Prozesse „that connected the German states with British, European and south Asian patrons, institutions and interests“ (S. 5). Von besonderem Interesse sind die transnationalen und transkulturellen Netzwerke, wobei er nicht allein der Kooperation als vielmehr den Dynamiken und Konflikten, den Mechanismen, Aushandlungsprozessen und Widersprüchen im Wettbewerb um Wissen, Forscherautorität, staatlichen oder nationalen Einfluss auf Patronage wie Erinnerung nachgeht.

Die Arbeit ist in acht locker chronologische Kapitel gegliedert: Sie beginnt mit der Ausbildung der Brüder, ihren frühen Reisen, ihren Alpenstudien, ordnet sie als überzeugte Humboldtianer ein und zeigt das Networking in „multiple ‚centres‘“ (S. 349) wie Gotha, Berlin und London auf, das zu den Expeditionen führte (Kapitel 1). Anschließend behandelt Brescius die britische Erforschung des Subkontinentes, auf die die Brüder aufbauen konnten, obwohl sie ihre Forschungen als einzigartig definierten, sowie die verschiedenen „deutschen“ Vorläufer der Schlagintweits und die Rekrutierungskanäle im imperialen Arbeitsmarkt des „langen“ 19. Jahrhunderts. Der Arbeitskräftebedarf sei größer gewesen als die Anzahl britischer Kandidaten. Diesbezüglich stellt Brescius eine Veränderung fest: Zunächst seien es häufig Skandinavier gewesen, die wie der dänische Botaniker Nathaniel Wallich insbesondere aufgrund ihrer von Linnéscher Methodik geprägten, prestigeträchtigen Ausbildung rekrutiert worden seien. Etwas relativierend sei darauf verwiesen, dass Wallich erst, nachdem zwei britische Kandidaten abgesagt hatten, auf Empfehlung des eigentlich vorgesehenen Henry Thomas Colebrooke als Leiter des Botanischen Gartens von Kalkutta in Frage kam. Obwohl in Botanik nicht ausgebildet, war Colebrooke dem ebenfalls gut vernetzten Mediziner und Botaniker trotzdem vorgezogen worden.2 Später sei die Wahl dann vermehrt auf Personen aus dem deutschsprachigen Raum gefallen, wo ein Überangebot an Forschern geherrscht habe.

Dieser „marked shift“ (S. 78) führt Brescius auf das gestiegene Ansehen der modernisierten deutschen Universitätslandschaft zurück. Außerdem sei „Deutschen“, anders als Franzosen, keine national-imperiale Agenda unterstellt worden. Dennoch hätten schon vor den Schlagintweits kritische und xenophobe britische Stimmen hinsichtlich dieser Praxis spätere Vorwürfe antizipiert – etwa die Vorhaltung, es nun nicht mehr mit selbstlosen, sich selbst finanzierenden „gentlemen scientists“ zu tun zu haben (Kapitel 2). Dahinter standen durchaus eigene Existenzsorgen britischer Forscher. Brescius kann eindrücklich aufzeigen, dass es die hohen, häufig nicht erfüllbaren, aber von den Brüdern selbst geschürten Erwartungen, vor allem aber ihr manipulatives Verhalten waren, die Vertrauen beschädigten und britische Vorwürfe von Gier, Eigennutz oder gar Hochverrat hervorbrachten. Die Brüder hätten „numerous double games“ (S. 90) gespielt, um sich und den Expeditionen ein Maximum an Vorteilen zu sichern. Mangelnde oder bewusst einseitige Kommunikation war nach Brescius entscheidend (Kapitel 3).

Wie stark die Schlagintweits von britischer Infrastruktur und Institutionen, aber auch ihren einheimischen Mitarbeitern tatsächlich profitierten, verdeutlichen die nächsten zwei Kapitel zur konkreten Expeditionspraxis: Ersteres belegt, dass die bereitgestellte koloniale Infrastruktur direkten Einfluss auf das Expeditionsprogramm ausüben konnte, denn die Brüder nutzten beispielsweise Gefängnisinsassen für ihre anthropometrischen und ethnographischen Studien. Das fünfte Kapitel betont seinerseits, dass sich unter den beteiligten Einheimischen „significant explorers in their own right“ (S. 13) befunden hätten und dass die Hierarchien insgesamt eher fließend, vielfältig und die Expeditionen nicht immer europäisch geführt gewesen seien. In von Europäern unerschlossenen Gebieten seien die Brüder etwa gezwungen gewesen, sich gänzlich von einheimischen Führern mit durchaus eigenen Interessen abhängig zu machen.

Die abschließenden drei Kapitel widmen sich den Expeditionsnachwirkungen, den Reputationskämpfen und der Erinnerungskultur. Die Rückkehr fiel mit dem „Indischen Aufstand“ von 1857 zusammen, der eine schwere Krise für das Empire bedeutete und – wie Brescius nachweist – einen starken Einfluss auf die Schlagintweit-Rezeption nahm: Nach einem Vortrag in Paris, in dem sie ihre eigene Bedeutung zulasten britischer Vorläufer überhöht hätten, sei es zu nationalistischen Gegenreaktionen und einer Welle der Kritik der verunsicherten Briten gekommen. In den deutschen Staaten seien die britischen Vorgängerunternehmungen hingegen weitgehend unbekannt gewesen, so dass hier die Heldenerzählungen der Schlagintweits selbst und deren „Imagekampagnen“ eher haben greifen können (Kapitel 6). Ihr an Humboldt orientiertes ganzheitliches Wissenschaftsverständnis sei in der Zwischenzeit mit der weiter zunehmenden Ausdifferenzierung von Fachdisziplinen jedoch an Grenzen gestoßen (Kapitel 7). Während sie in Großbritannien nach der großen Kontroverse in Vergessenheit geraten seien, seien sie später in Deutschland identitätsstiftend zu Wissenschaftshelden stilisiert und zur Legitimierung eigener kolonialer Bestrebungen genutzt worden (Kapitel 8).

Die hervorragende Studie von Moritz von Brescius leistet einen wichtigen Beitrag für die Kolonial- wie die Wissenschaftsgeschichte und zur Frage eines „Kolonialismus ohne Kolonien“ für eine Zeit, in der es noch keinen deutschen Einheitsstaat gab. Die beeindruckende Multiperspektivität, die sich nicht zuletzt aus der guten Überlieferungssituation und der überaus breiten Quellenbasis ergibt, ist besonders hervorzuheben.3 Die Arbeit dürfte inspirierend wirken auch für eine weitere „transnationale“ und transkulturelle Erforschung der in dieser Hinsicht eher vernachlässigten Naturwissenschaften in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Anmerkungen:
1 Vgl. Allgemeine Zeitung München, Nr. 200 (19.07.1847), S. 1593.
2 Vgl. Martin Krieger, Nathaniel Wallich. Ein Botaniker zwischen Kopenhagen und Kalkutta, Kiel u.a. 2017, vor allem S. 87–89.
3 Ergänzend sei auf den schönen Ausstellungskatalog mit Aufsätzen zu Einzelthemen rund um die Schlagintweits verwiesen: Moritz von Brescius u.a. (Hrsg.), Über den Himalaya. Die Expeditionen der Brüder Schlagintweit nach Indien und Zentralasien 1854 bis 1858, Köln u.a. 2015.

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