S. Stockhusen: Hinrik Dunkelgud und sein Rechnungsbuch

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Titel
Hinrik Dunkelgud und sein Rechnungsbuch (1479 bis 1517). Lebensformen eines Lübecker Krämers an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert


Autor(en)
Stockhusen, Sabrina
Reihe
VSWG Beihefte 245
Erschienen
Stuttgart 2019: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
468 S.
Preis
€ 72,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan-Willem Waterböhr, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Mit der 2016 an der Christian-Albrechts-Universität Kiel eingereichten Dissertation legt Sabrina Stockhusen die Untersuchung und Edition des Rechnungsbuchs F des Lübecker Neubürgers, Krämers und hansischen Fernkaufmanns Hinrik Dunkelgud vor. Es ist sein einzig erhaltendes Rechnungsbuch aus dem 15. und 16. Jahrhundert. Die Monografie teilt sich in zwei Teile: Die wissenschaftliche Analyse (227 Seiten) und die Edition inklusive zahlreicher Warentabellen und auswertender Diagramme (186 Seiten).

Leitend fragt Stockhusen nach dem Leben des Kaufmanns, seiner Integration in die Stadt Lübeck und seiner Einordnung in die Kaufmannschaft des Ostseeraums im 15. und 16. Jahrhundert, ferner nach seinen wirtschaftlichen und sozialen Verhaltensweisen sowie der Organisation seines Geschäfts und seiner Positionierung in der Stadt Lübecks (S. 19). Dabei sollen die Lebensstationen (conditio humana) und die Bedingungen der Stadtgesellschaft (societas humana) anhand des Lebensformkonzepts nach Arno Borst und Gerhard Fouquet einen analytischen Zugang ermöglichen. In mikrohistorischer Perspektive werden Freundschafts- und Verwandtschaftsbeziehungen, die Organisation des Haushalts und des Handels- und Krämerbetriebs in Lübeck sowie das soziale, kulturelle und ökonomische Verhalten als Zugehörigkeit zu mehreren sozialen Gruppen in Anlehnung an Otto-Gerhard Oexle und Erich Maschke herausgearbeitet.

Nach der Einleitung (Kapitel 1) beginnt Stockhusen die Analyse mit der biografischen Darstellung ab 1479 (Kapitel 2), als Dunkelgud eine Pilgerreise nach Santiago de Compostela unternahm, sich in Lübeck niederließ und Kuneke Meyer, eine Tochter des Lübecker Krämers Hans Meyer, heiratete. Gleichzeitig wird das Rechnungsbuch F, das neben den nüchternen Einträgen auch neun Testamente enthält, ausführlich als Grundlage für quantitative Auswertungen beschrieben, der allgemeine Aufbau erläutert und als Schuldbuch für Einnahmen und Ausgaben des entstehenden Haushalts typisiert. Damit stellt sich Stockhusen gegen die bisherige These, es habe sich um ein ‚Memorial‘ der Lübecker Führungsschicht gehandelt, da nicht zwischen privatem Haushalt und Geschäft unterschieden wurde (S. 42f.). Kern der Untersuchung sind die Analysen des Hauses und Haushalts (Kapitel 3) sowie der kaufmännischen Handelspraxis (Kapitel 6). Detailliert und mit Verweisen auf die umfänglichen Diagramme im Anhang rekonstruiert Stockhusen den Immobilienbesitz, die familiären und geschäftlichen Beziehungen in Lübeck über Danzig und Stockholm bis Reval, den Gesellschafts- und Warenfernhandel, Widerlegungsgeschäfte sowie den Detailhandel und die Warenverarbeitung in Lübeck.

Dazwischen kontextualisiert Stockhusen zum einen die Testamente und weitere Einträge zu Besitztümern (Kapitel 4), die sich als persönliche Rechtssicherung deuten lassen, sowie zum anderen Dunkelguds Mitgliedschaft in der Krämerkompanie (Kapitel 5), der er fünf Mal als Äldermann vorsaß. Abschließend skizziert Stockhusen die Pilgerreise, die Mitgliedschaft in der Antoniusbruderschaft sowie zahlreiche Stiftungen und Schenkungen an verschiedene Klöster und Bruderschaften in Stockholm, Reval und im Lübecker Umland als typische Frömmigkeitsform des Krämers und Fernhändlers (Kapitel 7).

Als Ergebnisse hält Stockhusen in Kapitel 8 fest, dass Dunkelgud noch zu Beginn der 1470er-Jahre Waren aus Flandern, später oberdeutsche und Ostseewaren nach Stockholm und anschließend nach Danzig und Reval handelte, wo sich seine ehemaligen Schüler niedergelassen hatten (S. 185–190). Neben dem Fernhandel baute er sich im Lübecker Detailhandel und Immobiliengeschäft ein zweites Standbein auf. Dabei beherrschte er die zeitgenössischen Handelspraktiken der Buchführung über Ein- und Ausgaben des Handels-, Renten- und Immobiliengeschäfts sowie die Umrechnungsarten der Gewichts- und Geldeinheiten. Seine Geschäftsbeziehungen und Netzwerke knüpfte er entlang freundschaftlicher und familiärer Beziehungen, wie die Handelsnachweise und die Testamente zeigen. Mit der Eheschließung übernahm er zunehmend den Haushalt sowie den Krämerbetrieb und erweiterte diesen um den Fernhandel. Sein politisches, ökonomisches und kulturelles Handeln orientierte sich an der Gruppe der Krämer in Lübeck, wie es auch seine memorialen Stiftungen und Schenkungen belegen (S. 239f., 263).

Das Rechnungsbuch F bildete den Gesellschaftshandel mit seinen Lehrlingen Hans Borne und Peter Kegeben überproportional ab, während sich der Detailhandel nur indirekt erschließen lässt und der weitere Fernhandel nur bruchstückartig rekonstruiert werden kann (S. 173, 239). Dennoch beschreibt Stockhusen anhand der Immobiliengeschäfte den Betrieb ebenso kritisch wie plausibel. Mit den neun Testamentsentwürfen wird das freundschaftliche, familiäre und geschäftliche Netzwerk nachvollziehbar. Es gelingt Stockhusen darüber hinaus, das Rechnungsbuch F nicht nur als ein Handelsbuch zu deuten, sondern auch es mit den zahlreichen und unterschiedlichen Einträgen zugleich als juristisches Mittel zu beschreiben, das mit dem Ziel geführt wurde, Besitzverhältnisse zu sichern (S. 39f., 107f.). Dafür zieht die Autorin unter anderem die Verwaltungsquellen der Stadt Lübeck und weitere ergänzende Quellen heran, die die Ergebnisse unterstreichen und ergänzen.

In der Kontextualisierung und den zahlreichen, oft unübersichtlichen Einzelaspekten des Rechnungsbuches F zieht Stockhusen nicht nur nachvollziehbare rote Fäden durch das Material und zeichnet detailreich die verschiedenen Aspekte des Handels, der sozialen und politischen Netzwerke, der ökonomischen Organisation des Detail- und Fernhandels sowie der Besitztümer nach, sondern sie historisiert diese zugleich. So werden die Veränderungen bei der Wahl der Testatoren von familiären zu geschäftlichen und administrativen Akteuren ebenso deutlich wie der Wandel des Warenhandel von westeuropäischen zu Ostsee- und oberdeutschen Waren oder die Veränderung der Handelswege, die zunächst von Flandern nach Lübeck und Stockholm, später von Lübeck nach Danzig und Reval führten, ferner die Vermögensentwicklung vom Fern- und Detailhandel über den Immobilienbesitz bis zum Renteneinkommen und das zunehmende Interesse an dem Brigittenorden in Wolbeck, Stockholm und Reval als Stiftungsempfänger.

Auch wenn sich die inhaltlichen Ausführungen durch große Klarheit auszeichnen, erweist sich die getrennte Darstellung von familiären und geschäftlichen Netzwerken in der Studie als problematisch, da die Autorin die fehlende Scheidung von Haushalts- und Betriebsorganisation auf der einen und Fernhandel auf der anderen Seite wiederholt herausstellt. Eine gemeinsame Analyse hätte diese plausible These deutlicher unterstrichen. Es fehlt darüber hinaus eine stärkere Orientierung an der Quelle und eine Bearbeitung etwa der Frage, welche Aspekte schwerer gewichtet wurden. Wünschenswert wäre außerdem eine intensivere Auseinandersetzung mit der aktuellen Hanseforschung gewesen. Die Autorin beschränkt sich auf einige wenige Vergleiche mit anderen Detail- und Fernhändlern, ein Gesamtzugriff im Sinne einer wirtschafts- und sozialhistorischen Forschungsintegration unterbleibt hingegen. Die zuerst in Kapitel 6 formulierte Erkenntnis, dass im Rechnungsbuch F nur für einen Teil des Gesellschaftshandels Aufzeichnungen vorliegen, hätte schon in Kapitel 2 zur Quellentypologie geboten werden können.

Insgesamt zeigt die Monografie die Stärken und Schwächen der mikrohistorischen Akteurszentrierung gleichermaßen: Die Nähe zur Quelle und die Des- wie anschließende Reintegration Dunkelguds in die Handels- und Stadtgeschichte Lübecks müssen als Vorbild für wirtschafts- und sozialhistorische Untersuchungen zur Vormoderne gelten. Die Kategorien der Lebensform und der sozialen Gruppen überzeugen methodisch, entfalten jedoch ihre analytische Wirkung nicht und werden kaum erneut aufgegriffen. Die anschließenden Fragen nach der Bedeutung der Brigittenorden oder der sozialen und ökonomischen Netzwerke bleiben daher weitestgehend offen. Die Orientierung Dunkelguds an den Krämern und der Familie werden zwar deutlich, die Autorin verschenkt jedoch das hierin liegende analytische Potential. Die schiere Masse der behandelten Aspekte zum Rechnungsbuch F ist in den einzelnen Betrachtungen sehr gelungen, ein Gesamtbild bleibt die Untersuchung jedoch schuldig. Die Edition, die Diagramme und Auswertungen sowie ihre enge Verbindung mit der Untersuchung sind hingegen an jeder Stelle transparent und nachvollziehbar. Trotz der angeführten Kritik bleibt festzuhalten, dass Stockhusen eine beispielhafte Edition und Auswertung vorgelegt hat.

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