S. Krug: Die "Nachrichtenstelle für den Orient" im Kontext globaler Verflechtungen

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Titel
Die "Nachrichtenstelle für den Orient" im Kontext globaler Verflechtungen (1914-1921). Strukturen – Akteure – Diskurse


Autor(en)
Krug, Samuel
Reihe
Global- und Kolonialgeschichte 2
Anzahl Seiten
378 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Willert, Fachgebiet Kunstgeschichte der Moderne, Technische Universität Berlin

In seiner im Herbst 1914 erstellten „Denkschrift betreffend die Revolutionierung der islamischen Gebiete unserer Feinde“ erarbeitete Max von Oppenheim (1860–1946) „eine umfangreiche politische Handlungsanweisung zur politischen Veränderung des gesamten Raumes von Marokko bis Ägypten und vom Bosporus bis Indien.“1 Dieses schriftliche Zeugnis des deutschen Diplomaten und Forschungsreisenden galt in der Forschungsliteratur nicht nur als Wegmarke der zur Kriegspropaganda eingerichteten „Nachrichtenstelle für den Orient“ (NfO), sondern auch als nahezu dogmatische Analysegrundlage zur Erforschung deutscher Aufwiegelungsstrategien der muslimischen Bevölkerung in den von der Entente beherrschten Territorien während des Ersten Weltkriegs.

Die Buchfassung der von Samuel Krug 2019 an der Freien Universität Berlin eingereichten Dissertation knüpft an die Forschungsliteratur an, welche die NfO in wenigen Fällen explizit als Untersuchungsgegenstand analysiert.2 Entgegen der dominierenden Charakterisierung der NfO als eine aus Berlin zur Destabilisierung durch Propaganda gesteuerte Institution, erarbeitet Krug die Errungenschaften der von ihm als „Plattform“ (S. 20) bezeichneten Entität in Bezug zu ihren globalen Netzwerken und Diskursen. Der Verfasser untersucht die NfO – unter besonderer Berücksichtigung der Arabischen Abteilung – als einen Raum zur Umsetzung individueller, auf „religiöse, politische und berufliche Ziele“ (S. 20) gerichteter Interessen. Die Publikationen der deutschen wie nichtdeutschen Akteur/innen werden hinsichtlich der Korrelation zwischen Herkunftsort und politischer, respektive religiöser Zielsetzung beleuchtet. Die Heterogenität der NfO impliziert divergierende Eigeninteressen und daraus resultierende Konflikte, sodass die Kooperation von „gegenseitigem Misstrauen“ (S. 20) geprägt war. Vor diesem Hintergrund zielt der Autor darauf, „die Handlungsoptionen in der transnational ausgerichteten Organisation“ (S. 12) aufzuzeigen. Methodologisch charakterisiert der Verfasser die Studie als „Kollektivbiografie transnationaler Akteure und Diskursanalyse der Publikationen dieser Akteure“ (S. 25).

Krug gliedert die Arbeit in Anlehnung an den Untertitel „Strukturen – Akteure – Diskurse“ in drei Kapitel und einen Epilog, der das Schicksal der NfO über das Jahr 1918 hinaus skizziert. Basierend auf einem konzisen Forschungsstand und der klaren Benennung der Desiderate, wendet sich der Autor zunächst der Anatomie der NfO zu (S. 37–92). Basierend auf dem Drei-Phasen-Modell (konstitutive, Konsolidierungs- und gesetzte Phase) werden neben der Genese der Organisationsstruktur und -form auch die verschiedenen Abteilungen sowie die Leitungsebene benannt.

Der Autor argumentiert gegen die von Salvador Oberhaus beschriebene „sukzessive Professionalisierung der Orientpropaganda und der Insurrektionsmethoden“3 durch die NfO und charakterisiert diese vielmehr als von „Ad-hoc-Entscheidungen, Missverständnissen und Fehlentscheidungen“ (S. 55) geprägt. Gegründet und finanziert vom Auswärtigen Amt (AA), beeinflussten partiell auch der Generalstab des Feldheeres sowie die Oberste Heeresleitung die Entscheidungen. Die Zielsetzungen variierten je nach Leiter und wurden „durch publikations- und personenbezogene sowie geheimdienstliche Aktivitäten in Deutschland und der Welt“ (S. 91) umgesetzt. Die NfO ist an „der Schnittstelle“ (S. 76) zwischen Nachrichtenagentur und Geheimdienst zu verorten, da die Mitarbeiter/innen propagandistischen wie auch nachrichtendienstlichen Tätigkeiten nachgingen. Einen Exkurs innerhalb des Kapitels bildet die Untersuchung der „Nachrichtensaal-Organisation“ (S. 86–90), die nicht nur als ein „(wirtschafts-)politisches Instrument“ des Deutschen Reichs, sondern auch als „ein Ausdruck deutschen zivilisatorischen Sendungsbewusstseins“ (S. 87) gewertet wird.

Im Kapitel „Die Akteure“ (S. 93–177) skizziert Krug den Weg der Akteur/innen in die NfO und geht gesondert auf die Rekrutierungsmechanismen ein. Das AA stellte „einen wichtigen Rekrutierungspool“ (S. 110) dar, zumal ehemalige Angestellte in der NfO Verwendung fanden.

Die nichtdeutschen Akteur/innen versuchten durch die Flucht ins europäische oder osmanische Exil, dem Zugriff lokaler Kolonialbehörden zu entgehen, und wurden nach Kriegsausbruch in die NfO rekrutiert. „Die Wahl des Exils“ (S. 117) wirkte unmittelbar auf die in den Publikationen vertretenen Positionen, sodass die Akteur/innen im Osmanischen Reich proosmanische Argumente vertraten, während aus Europa kritischere Meinungen zur Rolle der Hohen Pforte publiziert wurden. Die divergierenden Meinungen unter den Akteur/innen, strukturelle Asymmetrien und Hierarchisierungen resultierten in nicht aufzulösenden Spannungen. Indes entwickelten sich drei Arten der Kooperation, die die Arbeit der NfO prägten: „1. Herausgabe gemeinsamer Publikationen, 2. Gründung von Komitees sowie Verbänden und 3. Teilnahme an gemeinsamen Reisen sowie Konferenzen“ (S. 153).

Auf eine „Leerstelle der Überlieferung“ (S. 166) verweist Krug hinsichtlich der Rolle von Frauen in der NfO. Zwar arbeiteten zahlreiche Mitarbeiterinnen in Berlin, doch lässt sich ihr Wirken aufgrund der Aktenlage kaum rekonstruieren. Einzig die Tätigkeiten der Sprachwissenschaftlerin Ruth Buka konnten partiell nachgezeichnet werden.

Das umfangreichste Kapitel Die Diskurse (S. 179–302) spezifiziert neben der durch die NfO geförderten Wissensproduktion auch die Einflüsse von Debatten der Vorkriegszeit um deutsche Interessen im Nahen Osten und die Rolle des Islam. Schließlich untersucht der Autor die in den Publikationen der NfO verwendeten Themen und Stilmittel. Zentrale Themenkomplexe bildeten die Bereiche „Kolonialismus und Islam“ (S. 228) sowie die Hohe Pforte, die als Führungsmacht im Sinne der islamischen Einheit stilisiert werden sollte. Hier traten religiöse und nationale Differenzen unter den Akteur/innen hervor, zumal die Publikationen auf die Legitimierung oder Delegitimierung einzelner politischer und religiöser Akteure zielten.

Im Epilog (S. 303–317) skizziert Krug die ihrer Auflösung vorangegangene Umbenennung der NfO in das „Deutsche Orient Institut“ sowie die damit einhergehenden beruflichen Veränderungen der Akteur/innen. Die Studie schließt mit einem Fazit (S. 319–323), in dem der Verfasser seine Definition der NfO als eine von Spannungen geprägte Plattform bestätigt. Das Engagement in der NfO diente dem Austausch und der Vernetzung mit „Gleichgesinnten“ (S. 320), sodass sie nicht ausschließlich als eine Propaganda- oder Nachrichtenorganisation des Deutschen Reichs gewertet werden kann, sondern „von individuellen bzw. gruppenspezifischen Zielen her gedacht werden“ (S. 321) muss. Die Akteur/innen partizipierten – wenn auch nicht in Bezug zu den von Berlin beanspruchten Kolonien – an der „kolonialen Diskursproduktion“ (S. 321).

Hervorzuheben ist das von Krug vorgenommene Entrücken der Analyseperspektive vom Narrativ der verfehlten Revolutionierungsstrategie hin zur Untersuchung der transnationalen Netzwerke und Diskurse unter Einbeziehung der nichtdeutschen Akteur/innen der Arabischen Abteilung. Die Auswertung deutsch- und arabischsprachiger Artikel der NfO-Publikationen in Kombination mit umfangreich analysiertem Aktenmaterial verdeutlichen die die internen Spannungen generierenden divergierenden Zielsetzungen. Dem Verfasser gelingt die im Klappentext erwähnte „Neukontextualisierung“ der NfO. Der das Quellen- und Literaturverzeichnis ergänzende biographische Anhang der Akteur/innen (S. 365–372) bietet ein nützliches Werkzeug für weitergehende Forschungen.

Anzumerken bliebe die zur positiven Bewertung neigende These, dass der Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Mobilität antikolonialer Akteure wie die Wissensproduktion anregte: „Der Krieg machte die transnationale Produktion von Wissen nicht nur möglich, sondern förderte sie sogar“ (S. 321). Krug klammert hier nach Meinung des Rezensenten die Negativfolgen wie die kriegsbedingte Beendigung wissenschaftlicher Netzwerke aus und berücksichtigt nicht, dass es auch vor Kriegsausbruch transnationale Formen der Wissensproduktion gegeben hatte. Hinsichtlich der pro-osmanischen Publikationen der antikolonialen Akteur/innen, die während des Ersten Weltkriegs im Osmanischen Reich lebten, wäre eine weitreichendere Differenzierung und Kontextualisierung hinsichtlich der osmanischen Zensur4 wünschenswert.

Diesen Kritikpunkten zum Trotz stellt das Werk eine Bereicherung zur Erforschung des Ersten Weltkriegs und insbesondere für die Analyse der Tätigkeiten und Zielsetzungen der NfO dar. Das überzeugende Hinterfragen etablierter Ansätze sowie insbesondere die Integration arabischer Quellen und Literatur verdeutlichen die Bedeutung multilingualer sowie quellenbasierter und -kritischer Forschung.

Anmerkungen:
1 Stefan M. Kreutzer, Dschihad für den deutschen Kaiser. Max von Oppenheim und die Neuordnung des Orients (1914–1918), Graz 2012, S. 7.
2 Exemplarisch zu nennen: Maren Brugalla, Die Nachrichtenstelle für den Orient. Fallstudie einer Propagandainstitution im Ersten Weltkrieg, Saarbrücken 2007; Peter Heine, „Die Nachrichtenstelle für den Orient“ und die deutsche Öffentlichkeit, in: Spektrum Iran 19/2 (2006), S. 8–13; Salvador Oberhaus, „Zum wilden Aufstande entflammen“. Die deutsche Propagandastrategie für den Orient im Ersten Weltkrieg am Beispiel Ägypten, Saarbrücken 2007.
3 Oberhaus, „Zum wilden Aufstande entflammen“, S. 155.
4 Zur Zensur im Osmanischen Reich: Ekin Enacar, Press/Journalism (Ottoman Empire), in: Ute Daniel u. a. (Hrsg.), 1914-1918-online. International Encyclopedia of the First World War, https://encyclopedia.1914-1918-online.net/article/pressjournalism_ottoman_empire (21.10.2020); Deniz Dölek-Sever, Propaganda at Home (Ottoman Empire), in: Ute Daniel u. a. (Hrsg.), 1914-1918-online. International Encyclopedia of the First World War, https://encyclopedia.1914-1918-online.net/article/propaganda_at_home_ottoman_empire (29.09.2020).