A. Pietrobelli (Hrsg.): Contre Galien

Titel
Contre Galien. Critiques d’une autorité médicale de l’Antiquité à l’âge moderne


Herausgeber
Pietrobelli, Antoine
Erschienen
Anzahl Seiten
300 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lutz Alexander Graumann, Sektion Kinderchirurgie, Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Thorax-, Transplantations- und Kinderchirurgie, UKGM GmbH, Standort Gießen

Bei dem zu besprechenden Band handelt es sich um eine Sammlung von zwölf Essays, die aus der vom Herausgeber und Roberto Lo Presti 2016 in Reims geleiteten internationalen Tagung zum Thema „Contre Galien“ hervorgegangen sind.1 In einer weitgespannten Einleitung gibt Pietrobelli zunächst einen thematischen Überblick (S. 1–30): Galen von Pergamon (129 bis ca. 210) war Arzt am römischen Kaiserhof, Philosoph und vor allem griechisch-sprachiger Vielschreiber, der posthum Begründer eines umfassenden medizinischen Systems wurde, dem „Galenismus“, welcher vom 4. bis ins 16. Jahrhundert hinein in der gelehrten Medizin maßgeblich war.2 Dann aber mutierte Galen zur antimodernen Innovationsbremse gegenüber all den neuzeitlichen revolutionären Entdeckungen: in der menschlichen Anatomie (Andreas Vesalius), der Physiologie (Herzkreislauf, William Harvey), der Pharmakologie (Paracelsus) und der Mikroskopie (Antonie van Leeuwenhoek). So verflüchtigte sich im Laufe der Frühen Neuzeit der medizinische Klassiker der Antike sowohl aus der praktischen wie auch aus der Universitätsmedizin komplett. Warum nun, fragt Pietrobelli, soll man sich also mit ihm, dem „großen Unbekannten der Moderne“ (S. 9) überhaupt beschäftigen? Warum sollte Anti-Galenismus heute noch ein Thema sein? Bemerkenswerterweise gab es schon zu Galens Lebzeit so etwas wie anti-galenischen Tendenzen, wie beispielsweise die despektierliche Titulierung Galens als „Eselskopf“ durch Alexander von Aphrodisias (S. 14). Eine kritische Auseinandersetzung mit Galen und seinem Werk gestaltete und gestaltet sich insbesondere aus zwei Gründen bekanntermaßen schwierig: einerseits macht der Umfang seines überlieferten Ouevres es jedem Forscher unmöglich, es komplett zu lesen; zum anderen fordert sein langatmiger, weitschweifiger, häufig polemisierender Prosastil („prolixité“) eine gewisse Ausdauer bei jedem Leser. So bemerkte schon im 9. Jahrhundert Photios treffend: „seine langen Ausführungen verleiten den Leser zur Indifferenz“ (S. 10). Pietrobelli möchte diese altbekannten Debatten präzisieren: unter Berücksichtigung einerseits der positiven Ansichten (Wiederentdeckung des antiken Klassikers mit diversen Denkanstößen), andererseits der negativen Auseinandersetzung mit dem bis in die Früh-Renaissance noch auf einen hohen Sockel gehobenen medizinischen Klassiker. Enthusiastisch ruft er zu einer Neureflexion der etablierten medizinischen wie auch der philosophischen Wissenschaftsgeschichte auf anhand einer dynamisch interpretierten Rezeption Galens: eine „andere Geschichte des Galenismus“ (S. 11), in der die diversen Facetten im Werk Galens wiederentdeckt und neu interpretiert, wie auch im Rahmen dieser Rezeptionsgeschichte neue Aspekte offenbar werden. Zusammenfassend benennt Pietrobelli eine Art „Schema der historischen Galen-Kritik“: wiederholtes Aufzeigen interner Widersprüche in den Schriften Galens, besonders Widersprüche zu den beiden ebenfalls hoch angesehenen antiken philosophischen Autoritäten Platon und Aristoteles, und überkonfessionelle religiöse Kritik am Agnostiker Galen. Für das Gesamtbild sind dabei aber auch immer all die zu jeder Zeit aufgetretenen „Verteidiger“ Galens mit ihren jeweils zeitgebundenen Beweggründen zu berücksichtigen. Die folgenden Beiträge sind nun unter diesen Prämissen chronologisch gestaffelt, beginnend mit der Antike bis zur Renaissance.

Bereits zu Lebzeiten hatte sich Galen viele Feinde gemacht, reelle wie rein literarische. Susan P. Mattern versucht, die Motive von Galens eigener, mit teils sehr derber Rhetorik bestückter Kritik an seinem stilisierten Intimfeind Lykos dem Makedonen näher zu skizzieren (S. 31–43). Dieser Lykos, ein Anhänger der Empirischen Schule, war Schüler des angesehenen Arztes Quintus von Pergamon und hatte seinerzeit ein umfangreiches anatomisches Werk hinterlassen. Mattern zeigt, dass Galens eigene redundante Kritik an den Schriften Lykos‘ – die ihm seine späteren Kritiker wiederholt vorwerfen werden – nicht nur inhaltlicher Natur ist, sondern auch den Zweck verfolgt, sich selbst im Gegensatz zu Lykos als Quintus‘ legitimen Nachfolger zu präsentieren und damit dessen ärztliche Reputation als die eigene zu nutzen, was ihm auf lange Sicht tatsächlich gelungen ist.

Anna Motta befasst sich mit dem antiken philosophischen Diskurs zur Etymologie (S. 45–62), ein Thema, das in zahlreichen Schriften Galens Widerhall findet. Anhand der ältesten europäischen etymologischen Diskussion in Platons Dialog Kratylos stellt sie dabei Galens sehr eigene, über die Grenzen der Medizin hinausgehende, antistoische Ansichten zum richtigen wissenschaftlichen Wortgebrauch denen des spätantiken Neuplatonikers Proklos gegenüber. Für Proklos war Platons Kratylos kein trivialer, bloß Logik vermittelnder Dialog über die Etymologie-Frage, sondern ein Vehikel zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Theologie. Galen dagegen erweist sich für Motta als ein sehr spezieller Platon-Interpret („dissident“), der Theologie für keine Wissenschaft und das frühere Wissen auf der Suche nach Wahrheit für irrelevant hielt (S. 62). Matyáš Havrda diskutiert ein weiteres philosophisches Thema: die Seele als Mischung der postulierten Elementarqualitäten bei Galen und bei seinem spätantiken „obskuren“ Widersprecher Nemesios von Emesa, der erste bekannte christliche Autor, der Galens Meinung kritisierte (S. 63–76).

Es folgen drei Beiträge aus der Islamwissenschaft: Pauline Koetschet (S. 77–97), Herausgeberin einer neuen kritischen Edition von Rhazes‘ (Abū Bakr al Rāzī, gest. 925) kritischer Schrift Zweifel an Galen (Šukūk ‘alā Gālīnūs), diskutiert die Bedeutung der medizinischen und philosophischen Ansichten Galens innerhalb der islamischen Medizin am Beispiel der bisher einzig überlieferten und noch nicht edierten progalenischen Replik auf Rhazes' Schrift von Avenzoar (Abū al-‘Alā' ibn Zuhr, gest. 1131). Dabei arbeitet Koetschet präzise die jeweiligen Kontexte und philosophischen Ansichten der Akteure heraus, beispielsweise den konsequenten Anti-Atomismus Galens, wie auch den konträren, für seine Zeit eher exzeptionellen Atomismus von Rhazes (S. 89).3 Philippe Vallat präsentiert in einer weiteren philosophischen Analyse die vorläufigen Ergebnisse seiner neuen Übersetzung der Schrift „Gegen Galen“ von al-Fārābī (um 872–950), in der dieser diverse Aussagen Galens denen von Aristoteles bzw. Alexander von Aphrodisias gegenüberstellte (S. 99–114). Galens Physiologie, insbesondere sein Enzephalozentrismus, widerspreche der von Aristoteles postulierten Gesamteinheit des menschlichen Körpers, so die Hauptkritik al-Fārābīs. Joël Chandelier beschäftigt sich mit der recht scharfen Kritik an Galen im medizinischen Werk von Averroes (Ibn Rušd, 1126–1198), welcher vornehmlich in der westlich-lateinischen Welt des Spätmittelalters durch sein Kompendium Colliget (al-Kulliyât) bekannt wurde (S. 115–139). Averroes‘ Ziel sei es gewesen, ein korrigiertes Werk Galens, insbesondere mit Korrektur seiner philosophischen Aussagen, als wissenschaftliche Grundlage für die aktuelle Medizin zu konservieren (S. 138). Interessanterweise blieb dieser Teil von Averroes Wirken, wie auch seine zahlreichen Kommentare zu verschiedenen galenischen Einzelschriften, in der arabischen Welt selbst weitgehend unbeachtet.

Es schließen sich drei Arbeiten zum Mittelalter an: Antoine Pietrobelli beleuchtet zwei individuelle byzantinische Galen-kritische Lesarten (S. 141–171). Traditionell gelten die Byzantiner als Bewahrer der antiken griechischen Texte. In der Medizin wurden die spätantiken medizinischen Enzyklopädien (Oreibasios von Pergamon, Alexander von Tralles, Aëtios von Amida, Paulos von Ägina) im Original gelesen und praktisch angewendet. Symeon Seth (um 1035–1110), ein Experte der alten Texte wie auch der zeitgenössischen arabischen Literatur (insbesondere Rhazes‘ „Zweifel an Galen“), und Johannes Zacharias Aktuarios (um 1275–1328), selbst Arzt und guter Kenner des Corpus Galenicum, stellten mit den Erkenntnissen der arabischen Medizin und unter dem Aspekt der christlichen Theologie (Kritik am Agnostizismus Galens) zahlreiche Aussagen Galens in Frage (Seth sehr offen, Aktuarios eher subtiler). Nicoletta Palmieri beschäftigt sich am Beispiel des mittelalterlichen Scholastikers und Arztes Bartholomäus von Salerno mit dem bereits seit dem 6. Jahrhundert tradiertem Topos der Weitschweifigkeit Galens (S. 173–197). Obwohl ihm nur ein wirklich kleiner lateinischer Ausschnitt der aus dem arabischen Schrifttum tradierten originalen Werke Galens vorlag, versuchte Bartholomäus in seinen Kommentaren diese geschwätzige Autorität Galens intellektuell zu würdigen. Danielle Jacquart untersucht einige spätmittelalterliche universitäre Lesarten Galens, in denen sich eine spezifische, wiederum kritische Rezeption der überlieferten arabischen Interpretation der galenischen Lehre bei Avicenna und Averroes widerspiegelt (S. 199–214). Die spätere, stärkere Galen-Kritik durch die Humanisten der Renaissance sollte ihrer Einschätzung nach heute mehr als direkte Fortsetzung dieser kritischen Haltung als ein kompletter Traditionsbruch gesehen werden.

Den Reigen beschließen zwei Arbeiten zur Rezeptionsgeschichte in der Renaissance mit mehr medizinischen Inhalt: Vivian Nutton stellt anhand eines Parforcerittes durch die Anatomiegeschichte der Renaissance die bleibende Bedeutung und Flexibilität der wiederentdeckten Galenschriften zur Anatomie in den Mittelpunkt (S. 215–227).4 Gerade die beiden Revolutionäre Andreas Vesalius (1514–1564) und William Harvey (1578–1657) blieben selbst wie auch für ihre Zeitgenossen ausgesprochene Galenisten. Vesalius‘ reich illustriertes Anatomiewerk De humani corporis fabrica (1543, 2. Aufl. 1555), so Nuttons kühne These, könne inhaltlich als Wiederaufnahme der antiken alexandrinischen Anatomielehre gesehen werden, die bis dahin durch Galens Rhetorik und seinen Rückgriff auf Tieranatomie verdrängt worden sei (S. 223). Schließlich sieht er noch Parallelen in der wissenschaftlichen Einstellung (Rechthaberei, Rhetorik) zwischen dem Eklektiker Galen und dem Sonderling Vesalius (S. 227).

Fabrizio Bigotti (S. 229–263) untersucht die epistemische Verwendung von Bebilderung und geometrischen Elementen in der anatomischen Schule von Padua von Vesalius bis zu Santorio (1561–1636) anhand zahlreicher Text- und Bildbeispiele (anatomische Zeichnungen). Er sieht hierin eine Fortsetzung und Weiterentwicklung galenischer Lehrprinzipien (endeiksis). Geometrie und Illustration als Substitution des menschlichen Körpers unterstützten ähnlich wie heute durch didaktische Reduktion und Abstraktion auf das Wesentliche die Verbreitung anatomischen Wissens (S. 262).

Ein sehr gutes Literaturverzeichnis aufgeteilt in Primärquellen (S. 265–270) und Sekundärliteratur (270–294), ein Namensindex (295–297) sowie ein Inhaltsverzeichnis (299–300) beschließen diesen exzellent edierten, inhaltlich kohärenten Band.5 Die hervorragende Essay-Sammlung vertieft neben der Rezeptionsgeschichte vornehmlich einige philosophische Spezialaspekte mit neueren Forschungsbefunden. Einige Facetten des Eklektikers Galen (Anti-Atomismus, Anti-Stoizismus, Agnostizismus) werden hierdurch etwas deutlicher. Dabei sind die einzelnen Essays nicht unbedingt für den Einsteiger geeignet. Speziell für Mediziner sind sicherlich vor allem die beiden letzten Beiträge sowie die einleitende Übersicht zusammen mit der Untersuchung zur byzantinischen Medizin von Pietrobelli interessant. Wie vom Herausgeber explizit empfohlen (S. 29), sind die hier auf den engen Rahmen der metachronen Galen-Kritik fokussierten Themen ergänzend zur Gesamtdarstellung des Galenismus im aktuellen Brill-Band zu sehen.6 Dementsprechend bleibt die kombinierte Lektüre beider Bände unumgänglich.

Anmerkungen:
1 Colloque international „Contre Galien“, URL: <https://abm.hypotheses.org/131> (18.05.2021).
2 Vivian Nutton, Galen. A Thinking Doctor in Imperial Rome. London / New York 2020; vgl. Lutz Alexander Graumann, Rezension zu: Vivian Nutton, Galen. A Thinking Doctor in Imperial Rome. London, New York 2020, in: H-Soz-Kult, 18.01.2021, <https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-50325>.
3 Bereits früher diskutiert: Gundolf Keil / Ahmed M. Mokhtar / Hans-Jürgen Thies, Galenkritik bei Rhazes. Zur Wertung der Autoritätskritik im islamischen Mittelalter, in: Medizinische Monatsschrift 25 (1971), S. 559–563.
4 Ergänzend: Robert Herrlinger / Fridolf Kudlien (Hrsg.), Frühe Anatomie. Eine Anthologie, Stuttgart 1967.
5 Fehler: S. 9, Anm. 7 sowie S. 292 TEMKIN, Owsei, Galenism, 1973 (nicht 1976); S. 10, Anm. 10 Photios zitiert, fehlt aber im Namensindex sowie in der Primärquellenangabe; S. 219, Anm.14 sowie S. 290: SINGER, Charles et RABIN, Chaim, A Prelude to modern science => RABIN, Coleman Berley; S.291, Anm.17 sowie S. 280 VAN HEE, Robrecht (nicht Robert); S. 233, Anm. 14 sowie S. 291 SUDHOFF, Karl, „Anatomishe Zeichnungen“ (Anatomische); ebd. SUDHOFF, Karl, „Aberlmals eine neue Handshrift“ (Abermals eine neue Handschrift).
6 Petros Bouras-Vallianatos / Barbara Zipser (Hrsg.), Brill’s Companion to the Reception of Galen. Leiden / Boston 2019; siehe meine Rezension: Lutz Alexander Graumann, Rezension zu: Petros Bouras-Vallianatos / Barbara Zipser (Hrsg.), Brill's Companion to the Reception of Galen Leiden, in: H-Soz-Kult, 18.05.2020, <https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28250>.

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