Cover
Titel
Elias Canetti. Masse, Macht, Politik


Herausgeber
Angelova, Penka; Müller, Manfred
Reihe
Transkulturelle Forschungen an den Österreich-Bibliotheken im Ausland 19
Erschienen
Anzahl Seiten
222 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Baberowski, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

In seinen Erinnerungen berichtet Elias Canetti (1905–1994) von einem verstörenden Ereignis, das zur Initialzündung für sein Denken über den Menschen in der Masse wurde. Am 1. August 1914, als der Weltkrieg ausbrach, befand er sich mit seiner Mutter und seinen Brüdern in Baden, einem Kurort in der Nähe von Wien. Im Kurpark spielte eine Kapelle. Plötzlich unterbrach der Dirigent die Darbietung und verkündete, dass der Krieg ausgebrochen sei. Sogleich ertönte die österreichische, danach die deutsche Hymne. Alle Anwesenden stimmten in den Gesang ein, auch Canetti und seine Brüder. Aber sie sangen in englischer Sprache, weil sie in England aufgewachsen waren und glaubten, dass es einerlei sei, wie zu dieser Melodie gesungen werden müsse. Nun geschah das Unerwartete, im Nu veränderte sich die Stimmung und die Masse geriet außer sich. „Plötzlich sah ich wutverzerrte Gesichter um mich, und Arme und Beine, die auf mich losschlugen. Selbst meine Brüder, auch der kleinste, Georg, bekamen etwas von den Schlägen ab, die mir, dem Neunjährigen, galten. Bevor die Mutter, die ein wenig von uns weggedrängt worden war, es gewahr wurde, schlugen alle durcheinander auf uns los. Aber was mich viel mehr beeindruckte, waren die haßverzerrten Gesichter. Irgendjemand muß es der Mutter gesagt haben, denn sie rief sehr laut: ‚Aber es sind doch Kinder!‘ Sie drängte sich zu uns vor, packte uns alle drei zusammen und redete zornig auf die Leute ein, die ihr gar nichts taten, da sie wie eine Wienerin sprach, und uns schließlich sogar aus dem schlimmsten Gedränge hinausließen. Ich begriff nicht ganz, was ich getan hatte, umso unauslöschlicher war dieses erste Erlebnis einer feindlichen Masse.“1

Zeitlebens blieb Canetti von diesem Thema ergriffen, denn er hatte gesehen und gespürt, dass der Mensch nicht in der Masse ist, sondern die Masse die Menschen besitzt. Was immer die Masse auch tun mag, als „Hetzmasse“, „Fluchtmasse“ (Canetti), stets zieht sie die Menschen mit sich, die kaum eine andere Wahl haben, als sich vom Strom des Geschehens forttragen zu lassen. Die Masse und ihre Menschen – aus diesem Thema entfaltete Canetti sein großes Lebenswerk „Masse und Macht“ (1960), ein Jahrhundertbuch, das als Versuch verstanden werden muss, menschliches Verhalten anthropologisch zu deuten.

Historiker, Ethnologen und Soziologen haben Canetti, den Literaturnobelpreisträger von 1981, lange ignoriert. Zu dunkel, pessimistisch, unakademisch und unsystematisch erschien ihnen sein Hauptwerk. Ein Buch ohne Fußnoten, von literarischer Eleganz, das ganz ohne Hinweise auf Theorien, Forschungsstand und historische Kontroversen auskam. Was konnte das schon sein? Die Antwort lautet: Es ist bedeutsam, geist- und folgenreich, was Canetti uns zu sagen hat. So sehen es auch die Autoren des Sammelwerks, Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen, die von der Anregung Canettis berichten, Geschichten vom Leben zu schreiben. Es fällt schwer, ein Buch zu rezensieren, dessen Beiträge gedanklich nicht miteinander verbunden sind und leider auch keinem roten Faden folgen. Manches ist abwegig, vor allem die Versuche, Canettis Anthropologie als politische Handlungsanweisung zu lesen, manches bloß eine Zusammenfassung des schon Bekannten. Ich möchte hier deshalb nur auf jene Fragen eingehen, die mir für die Arbeit von Historikern interessant und nützlich zu sein scheinen.

Adam Paulsen zeigt, wie sehr Canettis Denken von den Arbeiten der Anthropologie und der teilnehmenden Beobachtung inspiriert war. Zwar habe Canetti weder die Quellen seiner Inspiration genannt, noch sei er selbst ins Feld gegangen. Aber er habe sich am Schreibtisch eine Welt errichtet und dann versucht, sich in ihr zu den Bedingungen der Beschriebenen zu bewegen. Canetti beobachtete, was in der Welt geschah, die er sich aus der Erinnerung sowie aus der Lektüre ethnologischer und psychoanalytischer Texte erschuf. Mit Recht schreibt Paulsen, dass Canetti als Gegenaufklärer gesehen werden müsse, als jemand, der sich vom kritischen Stil der Aufklärung leiten ließ, ihre Heilsversprechen und ihr Befreiungsprogramm aber ablehnte. Canetti sprach von einer Erkenntnis des Gefühls, die allen Begriffen vorausgeht, von Wahrheiten, die nicht rational sind und die vom Körper ausgesprochen werden. Jedes Denken, das sich in Systemen bewegt, so Canetti, sei eine Vergewaltigung des Lebens, eine Entmündigung des Menschen und eine Widerlegung des Faktischen. Die eigentliche Wahrheit sei im Augenblick des Erlebens verborgen. Ein Mensch, der die Mythen verschluckt habe, wisse, dass sie das Gegenteil des Systems sind, in das die Wissenschaft die Ereignisse zwingen wolle. Für den Denker geht es also darum, die Unterscheidung von Subjekt und Objekt zu überwinden, mit dem Beobachteten eins zu werden, sich selbst im Objekt aufzulösen. Canetti spricht von der Verwandlung, die für Paulsen der Schlüssel zum Werk des Schriftstellers ist. Man ist Beobachter und erlebt sich selbst als Teil der beobachteten Welt, wenn man sich darauf einlässt, seinen Körper fühlen und sprechen zu lassen. „Wem es wirklich auf Erkenntnis und Wahrheit ankommt“, schreibt Paulsen über Canettis Methode, „der darf nur seinen eigenen Erfahrungen trauen.“ (S. 25) Man versteht sogleich, warum Historiker sich solchem Denken verschließen, das radikal in Frage stellt, woran die meisten von ihnen glauben: an Objektivität, an die Trennung von Subjekt und Objekt, an die Geschichte und die Vernunft, die in ihr regiert. Canetti aber lehrt uns, dass die eigentliche Wahrheit in der vorrationalen Erkenntnis zu Hause ist.

Canettis Anthropologie der Macht unterscheidet sich fundamental von Thomas Hobbes, wie Leonard Mazzone zeigt, obgleich es auf den ersten Blick so scheinen mag, als sähen beide den Menschen als Wolf, der lieber ein Schaf gewesen wäre. Hobbes' Machtkonzeption ist defensiv, er versteht den Menschen als ein Wesen, das nach Schutz und Sicherheit verlangt. Canettis Modell lebt hingegen vom Gedanken des Angriffs. Vor nichts fürchtet sich der Mensch mehr als vor der „Berührung durch Unbekanntes“, in der Masse aber streift er diese Furcht ab und wird zum Jäger, der seine Beute aufspürt, sich verstellt, damit das Opfer nicht bemerkt, dass es erlegt werden soll. Menschen haben die Fähigkeit, zu greifen, aber sie können das Opfer auch loslassen, es in der Hoffnung wiegen, doch noch davonzukommen. Macht ist, wenn die Gewalt sich mehr Zeit lässt, hat Canetti selbst gesagt. Nichts von alldem verschafft uns Trost, aber es versöhnt uns mit der Wirklichkeit, der wir nicht entkommen können.

So steht es auch um Canettis Beschäftigung mit dem Tod, eine lebenslange Obsession, die erst mit seinem eigenen Tod ein Ende fand.2 Die Abschaffung des Todes als die Bedingung einer jeden Utopie, darauf sei es ihm angekommen, so Elisabeth Heyne, die in einem instruktiven Beitrag zeigt, was Canetti mit der Arbeit an der Überwindung des Todes bezweckte: dessen sprachliche Eliminierung, die uns den Weg ins Offene weist, die Linearität der Zeit überwindet. Gäbe es keinen Tod, könnte einem nichts mehr misslingen, man könnte immer wieder einen neuen Versuch unternehmen, weil nichts vergeblich wäre. Die Zeit, die nicht länger vom Tod vergiftet ist, löst sich im Raum auf, befreit uns von Kontinuität und vom Fortschritt. Der träge Strom des Geschehens wird durch den Wind ersetzt, so Heyne. Die Versuchsanordnung Canettis wirkt befreiend, weil sie zeigt, was eine Existenz sein könnte, die nicht zum Tode hinlebt.

Matjaž Birk untersucht, wie Canetti in seinem Werk „Die Stimmen von Marrakesch“ (1967) auf sensible und subtile Weise die Erinnerungen marginalisierter Gruppen an den Zweiten Weltkrieg in Nordafrika zum Sprechen bringt.3 Von Larissa Cybenko erfährt man, dass Canetti ein Bewunderer Nikolai Gogols war, und jeder aufmerksame Leser versteht sofort, warum die Lektüre des Grotesken seine Bewunderung fand und warum er sie szenisch und sprachlich nachahmte, er, der von der Lächerlichkeit der menschlichen Existenz schon nichts mehr erwartete.

Man sollte das Buch als Anregung verstehen, sich mit Elias Canettis Werk zu befassen und aus ihm zu lernen. Diesem Anspruch werden die meisten Beiträge gerecht. Mehr kann von einem Sammelband nicht verlangt werden.

Anmerkungen:
1 Elias Canetti, Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend [1977], München 1994, S. 113.
2 Ders., Das Buch gegen den Tod, München 2014 (postum erschienen).
3 Ders., Die Stimmen von Marrakesch. Aufzeichnungen nach einer Reise, München 1967.