Ch. Begass: Armer Adel in Preußen 1770–1830

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Titel
Armer Adel in Preußen 1770–1830.


Autor(en)
Begass, Chelion
Reihe
Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 52
Erschienen
Anzahl Seiten
457 S.
Preis
€ 99,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Paul Beckus, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Armut und Adel, das erscheint uns noch allzu oft als Antagonismus. Während Adel bis heute gewöhnlich mit politischer wie kultureller und ökonomischer Macht in Verbindung gebracht wird, sind wir es gewohnt, Armut mit einem nichtadligen ständischen Prekariat oder randständischen Gruppen zu assoziieren. Chelion Begass verfolgt in ihrer Dissertationsschrift das Ziel, diesem gängigen Bild vom Oben und Unten der ständischen Gruppen am Übergang zur Moderne eine neue Facette hinzuzufügen und den vermeintlichen Gegensatz zwischen Adel und Armut aufzulösen. „Armer Adel in Preußen 1770–1830“ beschäftigt sich mit Armutsphänomenen und Prekarisierung insbesondere im Adel der ostelbischen Provinzen der Hohenzollernmonarchie. Dabei stehen die Entstehung, Verfestigung und Ausbreitung von Armutsgefährdung und Armut im Adel sowie deren gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen in der Sattelzeit im Fokus.

Das innovative Thema betrachtet Begass unter drei Gesichtspunkten: Beleuchtet werden alltägliche Kontingenzerfahrungen des in Armut geratenen oder von Armut bedrohten Adels, die Auswirkungen der Verarmung von Teilen der Aristokratie auf die Beziehung von Adel und preußischem Staat sowie der Einfluss dieser Prekarisierung adliger Lebenswege auf die gesellschaftliche Ordnung und Differenzierung im 19. Jahrhundert. Berücksichtigt werden dabei sowohl die semantische als auch die materielle Seite von Armut. Als Grundlage dient der Arbeit eine breite empirische Quellenbasis, in deren Mittelpunkt bisher weitgehend unbeachtete Bestände stehen, insbesondere Bittbriefe und das durch sie ausgelöste Verwaltungsschriftgut der preußischen Behörden.

Ausgehend von der Vermessung des Umfangs adligen Eigentums in den östlichen preußischen Provinzen und der Eigentumsentwicklung in der Frühen Neuzeit zeigt die Autorin, dass verarmte Adlige im späten 18. Jahrhundert kein neues Phänomen waren, sondern große Teile des Adels seit dem 16. Jahrhundert immer wieder von Phasen sozioökonomischer Veränderungen getroffen wurden, die Abstiegsprozesse auslösen konnten, sich jedoch mit Phasen der Restaurierung abwechselten. So blieb Armut im Adel bis ins 18. Jahrhundert laut Begass immer ein ständisches Randphänomen. Ab 1750 rekonstruiert die Autorin dann jedoch eine drastische Entwicklung, welche die Verarmung weiter Teile der ostelbischen Aristokratie vorantrieb und zu einer Prekarisierung eines Großteils des Adels führte. Für diese Entwicklung macht die Autorin vor allem teils unintendierte Auswirkungen der königlichen Adelsschutzpolitik – insbesondere Friedrichs II. von Preußen (1740–1786) – verantwortlich. Die Einschränkung der standesgemäßen Betätigungsfelder bei gleichzeitiger Belastung des Gutsbesitzes, insbesondere durch Kriege, aber auch Naturkatastrophen und konjunkturelle Schwankungen, löste den ökonomischen Abstieg vieler Adelshäuser aus. Der ohnehin häufig nur geringe und überschuldete Gutsbesitz ostelbischer Adelsfamilien wurde aufgrund der herrschaftlichen Interventionspolitik sowie ständischer und familiärer Verpflichtungen mit immer neuen Krediten belastet und ging schließlich nicht selten durch Zwangsverkauf ganz verloren. Die daraus resultierenden massiven Besitzumschichtungen entfernten diese Teile des Adels von ihrer herrschaftlichen Grundlage, die bis dato in ihren Gütern bestanden hatten. Eine immer größere Zahl von ihnen suchte deshalb weitgehend besitzlos in den Städten ein Auskommen. Dieser Umstand korrespondierte mit dem Ausbau staatlicher Strukturen im 18. Jahrhundert, die in Preußen insbesondere das Militär betrafen. Zahlreiche von Armut bedrohte Adlige machten von ihrem privilegierten Zugang zu Ämtern in Zivilverwaltung und Militär Gebrauch, um ihrer prekären wirtschaftlichen Lage zu entkommen. Dort fanden sie sich dann jedoch meist auf schlecht bezahlten Posten mit geringen Beförderungsaussichten wieder. Die Abhängigkeit von den kargen staatlichen Transferleistungen ließen einen Dienstaustritt kaum zu, sodass zahlreiche Adlige oft ihr Leben lang im Dienst verweilten. Zugleich reichten die beschränkten finanziellen Möglichkeiten jedoch nicht aus, um die notwendigen Repräsentationsverpflichtungen zu erfüllen und die häufig kinderreichen Familien zu versorgen, sodass selbst die in Dienst befindlichen Adligen in Armut gerieten. Die Autorin prägt für diese Gruppe vermögensloser Adliger den Begriff des versorgungsabhängigen Dienstadels, den sie als zentrale Formation des von Armut betroffenen Adels ausmacht.

Begass zeigt im weiteren Verlauf ihrer Studie, dass das Risiko Adliger, temporär in Armut zu geraten oder sogar dauerhaft zu verarmen, stark von den individuellen Lebenslagen der Aristokraten abhing: Kriterien, die auch für die übrige Bevölkerung relevant waren wie Familienstand, Alter und Geschlecht, bestimmten ebenso über die Schwere und Dauerhaftigkeit der Armut wie persönlichen Netzwerke und der Erfolg der eigenen Karriere. So vielfältig wie die Lebenslagen, die in die Armut führen konnten, war auch die Wahrnehmung der adligen Armut. Je nachdem aus welchen Gründen die preußischen Edelleute in Armut gerieten und wie sie diese bewältigten, wurde ihre Bedürftigkeit als standesgemäß oder unstandesgemäß wahrgenommen, was entsprechende Folgen für ihre Behandlung durch staatliche Stellen wie das gesellschaftliche Umfeld zeitigte. Auf eine breite materielle Unterstützung ihrer begüterten adligen Standesgenossen konnten sie jedoch kaum hoffen. Diese beschränkte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zusehends auf den engsten familiären Kreis.

Die Arbeit besticht durch ihre anschauliche Schilderung der Dynamik von Verarmungsprozessen und Armutsphänomenen im Adel sowie die Skizzierung einer komplexen, oft widersprüchlichen Adelsgesellschaft. Insbesondere die zahlreich geschilderten Beispiele vermitteln einen lebendigen Eindruck von dem Elend, dem sich Teile der vermeintlichen Oberschicht ausgesetzt sahen. Eindrücklich und überzeugend beschreibt die Autorin die Behauptungsschwierigkeiten adliger Akteure vor dem Hintergrund einer sich zusehends um Eindeutigkeit – nicht zuletzt in rechtlichen Fragen – bemühenden Welt, in der für arme Adlige kein Platz mehr zu sein schien. Allerdings wären bisweilen klarere Begrifflichkeiten wünschenswert gewesen: Während Begass sich überzeugend mit Armutsbegriffen auseinandersetzt und deutlich bestimmte Kriterien für Verarmungsrisiken Adliger herausarbeitet, werden Adelsgruppen allzu oft nur vage abgegrenzt: So wird etwa Kleinadel, Niederadel und kleingrundbesitzender Adel weitgehend synonym verwendet. Eine Eingrenzung erfährt allein der von Begass konzipierte versorgungsabhängige Dienstadel, den sie vor allem im Zeitraum nach 1806 verortet (S. 116f.), wobei nicht dargelegt wird, warum diese Gruppe dem untitulierten Kleinadel entstammen musste. Was unter Kleinadel zu verstehen ist, schwingt zwar mit, bleibt aber im Ungefähren. Gemeint ist vor allem der (vormals) kleine und mittlere Güter besitzende Adel (siehe zur Einordung der Gütergröße im Untersuchungsraum im Buch S. 37–52), wobei Begass erkennen lässt, dass für sie vor allem der Verarmungsprozess altadliger Familien von Interesse ist. Problematisch erscheint diese Unschärfe vor allem mit Blick auf die unmittelbaren Statuskonkurrenten: So werden Nobilitierte, deren Familien nicht selten nie über Gutsbesitz verfügten, nur am Rande thematisiert. Auch der Zuzug adliger Familien nach Preußen, gerade auch in Folge des Ausbaus des preußischen Militärs, wird nicht berücksichtigt. Deren Armut wird entsprechend wenig einkalkuliert. Aufhorchen lässt zudem die Verwendung des Begriffs bürgerlich: So wird er in der Arbeit schon für das 18. Jahrhundert umstandslos für die gleichfalls von Armut betroffenen nichtadligen Nachbarn mittelloser Offiziere in städtischen Mietshäusern wie für nichtadlige Rittergutsbesitzer, Offiziere und Staatsbeamte bis hin zu Räten verwendet, die im Untersuchungszeitraum keineswegs eine gemeinsame Identität als „Bürgertum“ teilten, geschweige denn eine homogene ständische Gruppe bildeten. Diese relativ scharfe Trennung von Adel einerseits und Bürgertum andererseits verwundert angesichts einer Arbeit, die ja explizit Verarmungsprozesse und den damit potentiell verbundenen Statusverlust – also soziale Mobilität – thematisiert. Sie schwingt auch mit, wenn schon die Tatsache, dass Adlige in ihren Mietshäusern nichtadlige Nachbarn hatten, als Kriterium für sozialen Abstieg gelesen wird, auch wenn unter diesen Nachbarn Handwerksmeister, Kaufleute oder die Witwe eines Landgerichtsrats zu finden sind (S. 111f.).

Nicht zuletzt wegen dieser Wahrnehmung wäre eine stärkere Berücksichtigung der relativen Armut wünschenswert gewesen: So arbeitet die Autorin zwar anschaulich die Armutskarrieren und das bisweilen große Elend armer Adliger heraus, setzt die Armut jedoch selten in Beziehung zum Umfang prekärer Lebensverhältnisse in der Gesamtbevölkerung, die insbesondere in der Zeit nach 1806, aus der Begass die Mehrheit ihrer Beispiele schöpft, um sich griff. Wenngleich überzeugend die Verarmung von Teilen des Adels geschildert wird, bleibt der Leser deshalb im Unklaren darüber, wie diese Armut vor dem Hintergrund des allgemeinen Elends einzuordnen ist. Dies erscheint insbesondere mit Blick auf die geschilderte Wahrnehmung von Armut im Adel von Interesse: Dass politische und publizistische Akteure diese Armut eigens thematisierten, kann ohne die nötige Vergleichsfolie eben auch als Ausdruck der privilegierten Stellung der Aristokratie gelesen werden.

Diese kritischen Anmerkungen sollen jedoch die überzeugende Gesamtleistung der Arbeit nicht infrage stellen. Begass leistet mit ihrer Dissertation einen bedeutenden Beitrag zur Erforschung der Sozialformation Adel und richtet den Blick auf ein bisher sträflich vernachlässigtes Thema. Wodurch Adlige in Armut gerieten, was dies für sie selbst und ihre Wahrnehmung durch ihre Standesgenossen bedeutete und wie sie versuchten, diese Situation (un)standesgemäß zu bewältigen, hat Chelion Begass in einer sehr lesenswerten Studie gezeigt.

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