N. Weck: Eisenbahn und Stadtentwicklung in Zentraleuropa

Cover
Titel
Eisenbahn und Stadtentwicklung in Zentraleuropa. Am Beispiel der Stadt Lemberg (Lwów, L'viv)


Autor(en)
Weck, Nadja
Reihe
Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Ostmitteleuropas 29
Erschienen
Wiesbaden 2020: Harrassowitz
Anzahl Seiten
VII, 342 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Rochow, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg / Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, Halle (Saale)

Das vorliegende Buch ist das Ergebnis einer im Jahre 2016 von Nadja Weck an der Universität Wien erfolgreich verteidigten Dissertation. Aufgrund der Affiliation der Autorin zum Doktoratskolleg „Das österreichische Galizien und sein multikulturelles Erbe“ fügt sich die Arbeit in eine Reihe von Veröffentlichungen, in denen sich die Autor/innen dezidiert mit dieser Region auseinandersetzen.1 Die Institution des Doktoratskollegs hat hierbei einen multiperspektivischen und interdisziplinären Ansatz gefördert, der sich auch in Wecks Arbeit widerspiegelt. So thematisiert sie darin zwar mit dem österreichischen Eisenbahnbau generell ein gut erforschtes Teilgebiet der ostmitteleuropäischen Geschichte, nähert sich ihm jedoch mithilfe von raumtheoretischen Überlegungen auf eine Weise an, die eine enorme Tiefe produziert. Ohne dass die Autorin bewusst daran anschließen würde, folgt sie mit ihrer Arbeit einem aktuellen Trend in der historischen Infrastrukturforschung, der Territorialisierungsprozesse moderner Staaten in den Mittelpunkt stellt.2

Weck grenzt ihre Arbeit in zwei Richtungen ab. Die erste Einschränkung erfolgt im Bereich der Methode und Theorie. So lässt sie sich nicht auf eine umfangreiche Diskussion raumtheoretischer Überlegungen ein, sondern bezieht sich klar auf Henri Lefebvres Konzept des wahrgenommenen, des konzipierten und des gelebten Raumes. Diese Trias dient ihr folglich auch als Grundlage zur Gliederung ihrer Arbeit, indem sie ihre Kapitel jeweils entsprechend strukturiert. Durch diese innere Kohärenz kann Weck ihre Argumentation sehr nachvollziehbar gestalten und sich auf die Darstellung ihres eigentlichen Forschungsobjektes konzentrieren.

Dass es Weck dabei trotzdem gelungen ist, eine Untersuchung vorzulegen, die in methodischer Hinsicht äußerst ausgereift erscheint, liegt an ihrer zweiten Abgrenzung. Diese erfolgte in geografischer Hinsicht, sodass ihr Fokus klar auf der ehemaligen galizischen Hauptstadt Lemberg ruht. Um sich ihr aber in umfassender Weise annähern zu können, folgt Weck einem dreistufigen Schema, nach dem sie erst die Gesamtstaatsebene in den Blick nimmt, anschließend die städtebauliche Dimension analysiert und sich zum Schluss ganz dem Hauptbahnhof der Stadt widmet. Sie nimmt damit drei verschiedene Ebenen von Räumlichkeit ins Visier, wobei deren Anordnung einem „Hineinzoomen“ gleichkommt, das auch Leser/innen ohne einschlägiges Galizien-Vorwissen einen problemlosen Einstieg ermöglicht. Obwohl zuweilen aufgrund der letztlich entstehenden dreifachen Dreiteilung der Eindruck einer starken Fragmentierung entsteht, gelingt es Weck, ein tatsächliches Auseinanderfallen inhaltlich über stets wiederkehrende Akteure zu verhindern. Darüber hinaus verliert sie sich nicht in weiteren theoretischen Überlegungen oder größeren Diskursen, zu denen die Arbeit vielfache Ansatzpunkte bietet, sondern bleibt mit ihrer Argumentation nah an den Quellen. Dies kommt nicht zuletzt der Lesbarkeit der Publikation sehr zugute.

Im ersten Teil der Studie, in der auch der zeitliche Beginn des Eisenbahnzeitalters in der Donaumonarchie im Fokus steht, stellt Weck die Bestrebungen galizischer Akteure denen des Zentralstaates gegenüber. Sie untersucht darin die Diskrepanz zwischen beiden Vorstellungen aufgrund unterschiedlicher räumlicher Bezugsgrößen. So stand für die zentralstaatlichen Akteure stets die gesamte Monarchie im Vordergrund, für deren wirtschaftlichen Erfolg zunächst der Anschluss anderer Provinzen als notwendig erachtet wurde. Aus galizischer Perspektive wurde jedoch die Eisenbahn als Instrument zur Förderung der innergalizischen Wirtschaft und zur inneren Konsolidierung der Provinz betrachtet. Auch wenn es Weck ein Anliegen ist, auf die agency der galizischen Akteure hinzuweisen, steht die Verzögerung des Baubeginns einer Bahnstrecke nach Lemberg paradigmatisch für den längeren Hebel, über den die zentralstaatlichen Institutionen verfügten. Nachdem aber einmal der Anschluss Lembergs an das k. k. Eisenbahnnetz erfolgt war (1861), verlief der weitere Ausbau und damit Lembergs Entwicklung zum Eisenbahnknotenpunkt recht zügig. Diese Entwicklung reichte bald auch über die Grenzen des Staates hinaus, sodass die Landeshauptstadt in fast alle Richtungen mit dem Ausland verbunden war. Eine Ausnahme, auf die Weck deutlich hinweist, bildete jedoch der Norden, der von der infrastrukturellen Integration ausgespart blieb. Galizien sollte demnach nicht direkt mit den anderen Teilungsgebieten Polen-Litauens verbunden werden. Die integrierenden Potentiale der Eisenbahn wurden von den zentralstaatlichen Akteuren also genauso erfasst wie die mit ihr einhergehenden desintegrierenden Gefahren.

In einer kurzen Darstellung zur Reiseliteratur dieser Zeit stellt Weck heraus, wie sich das bis dahin vorherrschende negative Bild Galiziens, das die deutschsprachige Literatur dominierte, durch einen romantisierenden Blick auf die Provinz veränderte. Ob es sich hierbei allerdings um einen wirklichen Paradigmenwechsel gehandelt hat, untersucht die Autorin nicht weiter.

Der zweite Teil folgt der Leitfrage, wie sich der Ausbau des Eisenbahnwesens auf die Stadt Lemberg auswirkte. Weck beansprucht hier, über die Konstatierung von parallelen Prozessen hinaus die genauen Mechanismen des Zusammenhangs zwischen beiden darzustellen. Sie bezieht sich dabei in erster Linie auf die Debatten um die drei in Lemberg errichteten Bahnhöfe und deren weiteren Ausbau. Ihre genaue Kenntnis der Stadt wird in diesem Teil der Untersuchung besonders deutlich, gelingt es ihr doch, eine detaillierte Darstellung der städtebaulichen Veränderungen Lembergs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts anschaulich vorzulegen. Angereichert mit statistischem Material zeichnet sie ein Bild des sich urbanisierenden Lembergs nach, das an einigen Stellen jedoch etwas suggestiv wirkt. Ein quellenkritischerer Blick auf Statistiken und Stadtkarten wäre zuweilen wünschenswert gewesen, um jenseits der allgemein bekannten Prozesse der Urbanisierung Einsichten in die Spezifika Lembergs zu bekommen.

Mit den enttäuschten Erwartungen des Lemberger Magistrats in Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt und den späteren Plänen für ein „Groß-Lemberg“ widmet sich Weck zwei Aspekten der modernen Großstadtvorstellung. Sie knüpft damit an weitere zeitgenössische Diskurse an, die auch international geführt wurden, hier aber nur im lokalen bzw. in ihrer Kommunikation an die Hauptstadt der Monarchie im staatlichen Kontext dargestellt werden. Dass diese isolierte Betrachtungsweise allerdings wichtige Aspekte der städtebaulichen Entwicklung ausspart, haben Eszter Gantner und Heidi Hein-Kircher mit ihrem Konzept der „emerging cities“ und ihrem Fokus auf Wissenszirkulation hinlänglich belegt.3

Der letzte Teil des Buches bezieht sich ganz auf den Lemberger Bahnhof. Weck ergänzt Lefebvres Theorie hierzu um Jurij Lotmans „Semiosphären“ und dessen Verständnis von Grenzräumen. Sie geht wiederum dreistufig vor, was sich in diesem Teil auch dadurch bemerkbar macht, dass jedes Unterkapitel durch ein eigenes methodisches Herangehen gekennzeichnet ist. Im ersten erfolgt eine architekturgeschichtliche Betrachtung des ersten und zweiten Lemberger Hauptbahnhofs. Durch den Vergleich beider Bauten, zwischen deren Erbauungszeit gerade einmal 40 Jahre lagen, streicht Weck die enorme Entwicklung im Bahnhofsgebäudebau und die veränderte Bedeutung dieses Bautyps heraus. So muss letzterer auch als Ort politischer Inszenierung zwischen zentralstaatlicher und städtischer Vereinnahmung verstanden werden, wie im folgenden Abschnitt genauer betrachtet wird. Weitere Aspekte des modernen Stadtlebens wie etwa der Versuch der strikten Reglementierung oder die Rolle des Religiösen klingen bei Weck ebenfalls an. Ergänzt werden diese Aspekte durch eine literaturwissenschaftliche Analyse der Werke Karl Emil Franzos‘, Alexander Granachs und Józef Wittlins in Bezug auf die Bedeutung des Bahnhofs im dritten Abschnitt.

Eine entscheidende Erweiterung der Perspektive nimmt Weck durch die kurze Betrachtung des Krakauer Bahnhofs vor. Daraus entwickelt sie einen konzisen Vergleich, der einerseits den Fokus auf Lemberg rechtfertigt, zugleich aber auch die Komplexität des Lemberger Falls im Kontrast zum Krakauer noch einmal illustriert.

Wecks Untersuchung ist insgesamt eine stark empirisch ausgerichtete Studie, die das Ergebnis einer gründlichen Quellenarbeit in österreichischen, polnischen und ukrainischen Archiven darstellt. Was ihr als Schwäche angelastet werden kann, besteht im Wesentlichen in der konsequenten Vermeidung weiterreichender Diskussionen zu methodischen Überlegungen und verwendeten Termini. Insbesondere letztere hätten durch klarere Definitionen an Schärfe gewonnen und somit zum Erkenntnisgewinn beigetragen. Dies schmälert aber nur in geringem Maße den Wert dieser Arbeit als ausgereifte Fallstudie, auf deren umfangreiche Rezeption zu hoffen bleibt.

Anmerkungen:
1 Hier sind auch die Sammelbände zu erwähnen, die die Tagungen des Kollegs dokumentieren. In Folgendem hat auch Weck einen Beitrag veröffentlicht: Elisabeth Hais / Stephanie Weismann / Burkhard Wöller (Hrsg.), Galizien. Peripherie der Moderne – Moderne der Peripherie?, Marburg 2013.
2 Siehe zum Beispiel Dirk van Laak, Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft – Geschichte und Zukunft der Infrastruktur, Frankfurt am Main 2018; Colin Turner, The Infrastructure State. Territoriality and the National Infrastructure System, Cheltenham 2020; Chandra Mukerji, Impossible engineering. Technology and territoriality on the Canal du Midi, Princeton 2009.
3 Eszter Gantner / Heidi Hein-Kircher, Imperiale Herausforderungen in Habsburgs Emerging Cities. Lemberg und Budapest zwischen Nationalisierung, Stadtentwicklung und Wissenstransfer, in: Bernhard Bachinger / Wolfram Dornik / Stephan Lehnstaedt (Hrsg.), Österreich-Ungarns imperiale Herausforderungen. Nationalismen und Rivalitäten im Habsburgerreich um 1900, Göttingen 2020, S. 257–274.

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