C. Caruso: Befristete Migration und transnationaler Lebensstil

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Titel
Befristete Migration und transnationaler Lebensstil. Italienerinnen und Italiener in einer wallonischen Bergbaugemeinde nach 1945


Autor(en)
Caruso, Clelia
Reihe
Industrielle Welt 93
Erschienen
Anzahl Seiten
666 S.
Preis
€ 90,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
David Templin, Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück

Bereits seit den 1990er-Jahren diskutiert die Migrationsforschung über Konzepte des Transnationalismus und transnationaler Lebensstile. Dabei wird davon ausgegangen, dass die „Integration“ von Migrant:innen in die Ankunftsgesellschaft nicht per se die Schwächung von Bindungen zum Herkunftsland impliziert, sondern durchaus mit dem dauerhaften Aufrechterhalten entsprechender grenzüberschreitender Kontakte und Netzwerke einhergehen kann.1 Clelia Caruso greift in der 2019 publizierten Fassung ihrer Dissertation diesen Ansatz aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive auf und wendet ihn auf die italienische Arbeitsmigration nach 1945 an, die sie am Beispiel der kleinen belgisch-wallonischen Bergbaugemeinde Seraing, einem Vorort von Liège (Lüttich), untersucht. Ihre Dissertation entstand im Rahmen des DFG-Sonderforschungsbereiches 600 „Fremdheit und Armut“ an der Universität Trier und wurde dort bereits 2010 angenommen.

Zum Ausgangspunkt ihrer Frage nach transnationalen Lebensweisen macht Caruso die Diskrepanz zwischen der Prämisse der Befristung, die die Arbeitsmigration kennzeichnete, und dem letztlich oft dauerhaften Aufenthalt vieler Migrant:innen. Sie beginnt ihre voluminöse, über 600 Seiten lange Studie zunächst mit einem akribisch recherchierten „Forschungsbericht“, der einen Überblick über verschiedene Aspekte der italienischen Emigration im 20. Jahrhundert liefert (S. 19–57), und entwickelt dann ein Theoriegerüst für ihre Untersuchung. Dafür rekurriert sie einerseits auf den Transnationalismus-Ansatz und andererseits auf das Sozialraum- und Feldkonzept Bourdieus sowie die Systemtheorie Luhmanns. Mit Blick auf die „Zentralität der fortgesetzten Heimat- und Rückkehrorientierung italienischer Migrantinnen und Migranten“ (S. 48) entwickelt sie die These eines „dauerhafte[n] Vorbehalt[s] der Vorläufigkeit“ (S. 57), der die Migrationserfahrungen und Alltagswelten vieler Italiener:innen im Ausland prägte. Mit dem Terminus „transnationaler Lebensstil der dauerhaften Vorläufigkeit“ (S. 57; passim) bringt sie diese Analyse begrifflich auf den Punkt.

Mit Bezug auf den Migrationsforscher Michael Bommes fragt Caruso des Weiteren nach Modi der Inklusion und Exklusion italienischer Migrant:innen in verschiedenen Sozialräumen. Während Nationalstaaten „als Moderatoren von In- und Exklusion“ (S. 65) wirkten, böten etwa transnationale Netzwerke und Organisationen die Gelegenheit zur „Exklusionsüberwindung“ (S. 67). Auf diese theoretische Fundierung folgen fünf Kapitel, von denen die Kapitel 2 und 4 die historischen Kontexte italienischer Arbeitsmigration nach Belgien beleuchten, während sich die Kapitel 3, 5 und 6 der lokalen Fallstudie Seraing zuwenden.

Im zweiten Kapitel geht es um die „Möglichkeitsbedingungen der dauerhaften Vorläufigkeit als Lebensstil“, worunter migrationspolitische und aufenthaltsrechtliche Regelungen gefasst werden. So kam es bereits 1946 zu einem italienisch-belgischen Anwerbeabkommen; in den folgenden zehn Jahren migrierten rund 200.000 Italiener:innen nach Belgien. Der italienische Staat hatte ein Interesse an dieser Migration, aber auch an der Aufrechterhaltung von Bindungen der Migrant:innen an die Heimat. Caruso geht in diesem Kapitel auf belgische, italienische und europäische Entwicklungen ein, insbesondere auf die schrittweise Einführung der Freizügigkeit für EWG-Migrant:innen bis 1968, um nach den Auswirkungen entsprechender Regelungen für transnationale Lebensstile zu fragen. Sie kommt dabei zu dem Schluss, dass die Freizügigkeit diese beförderte, „indem sie Migrationen in beide Richtungen erleichterte“ (S. 152). Auch wenn die ausschließliche Fokussierung auf den italienischen Fall nachvollziehbar ist, wäre an dieser Stelle ein kontrastierender Blick auf die transnationalen Formationen anderer Migrant:innengruppen interessant gewesen, um den realen Einfluss entsprechender rechtlicher Regelungen besser taxieren zu können.

In Kapitel 3 nimmt Caruso dann Praktiken von Mobilität und Lebensführung italienischer Arbeitsmigrant:innen in den Blick, die sie primär anhand eines aus den Fremden- und Melderegistern Seraings gewonnenen Datensatzes sowie durch ergänzende Hinweise aus lebensgeschichtlichen Interviews rekonstruiert. Dabei arbeitet sie den Rückgriff von „Rückkehrmigrantinnen“ auf familiäre Netzwerke heraus, beleuchtet den spezifischen Fall von „Wiederholungszuwanderern“ nach Seraing (als „deutlichste[m], wenn auch nicht repräsentativem „Ausdruck eines von dauerhafter Vorläufigkeit geprägten Lebensstiles“, S. 199) und geht auf Muster in Eheschließungen sowie Berufskarrieren ein.

In den folgenden Kapiteln wendet sich Caruso italienisch-migrantischen Vereinen als Akteuren der Migrationspolitik und Promotoren eines „transnationalen Lebensstils der dauerhaften Vorläufigkeit“ zu. Dazu liefert sie in Kapitel 4 zunächst einen Überblick über die verschiedenen Akteure im Feld der Betreuungsarbeit (die etwas irritierend als „private“ Organisationen bezeichnet werden, um sie von staatlichen Institutionen abzugrenzen) – von der Katholischen Kirche und ihren Missioni Cattolici Italiani (MCI) im Ausland über italienische und belgische Gewerkschaften bis zu lokalen Migrant:innenvereinen und den international agierenden Dachverbänden der Diaspora. In Kapitel 5, das mit über 200 Seiten rund ein Drittel der Studie ausmacht und den Kern der Arbeit bildet, entwickelt Caruso am lokalen Fallbeispiel ihre These, dass diese Organisationen transnationale Lebensstile beförderten, indem sie sich für „doppelte Inklusionen“ in Herkunfts- und Aufnahmegesellschaften einsetzten bzw. diese ermöglichten. Die italienisch-migrantische Vereinslandschaft in Seraing war in den Jahrzehnten nach 1945 von einer Konkurrenz zwischen katholischen Vereinsaktiven um die MCI und kommunistischen um den lokalen Verein „Leonardo da Vinci“ geprägt. Die Vereinsaktiven waren dabei einerseits „sesshafter“ als durchschnittliche italienische Migrant:innen (S. 311), andererseits stärker der Italianità verhaftet als diese, was beispielsweise in einer höheren Zahl inneritalienischer Ehen (S. 317) und der offensiven Propagierung der Rückkehr nach Italien (S. 315) zum Ausdruck kam.

Akribisch zeichnet Caruso nach, wie es seit den 1960er-Jahren, unter anderem durch eine linke Politisierung der katholischen Missionare, zur Neuausrichtung des politischen Feldes der Vereine und zur Kooperation zwischen den beiden Strömungen kam. Dabei wirkt hier, aber auch an anderen Stellen der Arbeit störend, dass die Autorin lange Quellenzitate auf Italienisch oder Französisch zur Illustration in den Fußnoten unterbringt, sodass diese mitunter zwei Drittel einer Seite einnehmen. Ungeachtet dieser formalen Kritik versteht Caruso es, die transnationalen Aktivitäten der Vereine (etwa organisierte Fahrten nach Italien, Austauschprogramme, Spendenaktionen usw.) ebenso herauszuarbeiten wie deren Kontakte zu belgischen und italienischen Institutionen und ihre Rolle in Kampagnen wie der zur Anerkennung der Silikose als Berufskrankheit der Bergarbeiter zu Beginn der 1960er-Jahre. Schließlich analysiert sie begriffliche Selbstkategorisierungen im Spannungsfeld multipler Zugehörigkeiten. Deutlich wird, dass die Vereine einerseits in einem transnationalen politischen Feld agierten, sich andererseits aber zunehmend als politische Interessenvertretung der Migrant:innen vor Ort profilierten. In den 1980er-Jahren geriet das Vereinswesen dann in eine Krise, was auf die Verschiebung in der Altersstruktur der Aktiven verweist, aber für Caruso auch damit zusammenhing, dass die Vereine, parallel zu ihren politischen Erfolgen und der Stärkung ihrer institutionellen Position, an sozialer Bedeutung insbesondere für die „zweite Generation“ verloren.

Kapitel 6 schließlich widmet sich der Erinnerungskultur der italienischen Arbeitsmigration in Seraing und Umgebung. Caruso integriert diese Perspektive überzeugend in die Struktur ihrer Studie, indem sie nach der Bedeutung entsprechender Erinnerungsinitiativen und -praxen für die fortgesetzte transnationale Orientierung der Migrant:innen und ihrer Nachkommen fragt. Sie zeigt, wie in lebensgeschichtlichen Erzählungen und dann kanonisiert durch Aktivitäten und Publikationen der Migrant:innenvereine, aber auch von Akteur:innen wie der Historikerin Anne Morelli, ein „Opferdiskurs“ entwickelt wurde. Dieser verknüpfte die Arbeitsmigration mit Erfahrungen des Leidens und stellte insbesondere eine Verbindung zu den Erinnerungen an die tödlichen Grubenunglücke der 1950er-Jahre in der Region her. Zunehmend gewannen aber auch „Heldenerzählungen“ an Bedeutung, etwa mit Bezug auf den antifaschistischen Widerstand oder die jeweils eigene Vereinsgeschichte nach 1945. Im Fazit ihrer Studie diskutiert Caruso schließlich die Frage, inwieweit für die Zeit seit den 1990er-Jahren noch von einem „transnationalen Lebensstil dauerhafter Vorläufigkeit“ die Rede sein kann oder ob sich entsprechende Praktiken, etwa Auslandsaufenthalte zum Studium, auch ohne Migrationsbezug und Rückkehrorientierung normalisiert haben.

Clelia Caruso hat eine Studie vorgelegt, die das Transnationalismus-Paradigma historiographisch überzeugend operationalisiert und auf das Phänomen der italienischen Arbeitsmigration nach Belgien seit 1945 anwendet. Unter Rückgriff auf sozialwissenschaftliche Theorieangebote und mit speziellem Blick auf die Welt der migrantischen Vereine in der kleinen Bergbaugemeinde Seraing entwickelt sie dabei ein Panorama langjähriger transnationaler Aktivitäten und Orientierungen, das mit rund 60 Jahren einen großen Zeitraum abdeckt. Dabei kann es nicht verwundern, dass manche Aspekte in der Studie blass bleiben – so etwa der Umgang (lokaler) belgischer Akteur:innen mit der Migration, aber auch der Ort Seraing selbst. Eine stärkere Reflexion der Spezifika dieses lokalen Falls, aber auch des Verhältnisses zu Akteur:innen und der Vereinswelt im benachbarten Liège (die im Buch immer mal wieder in Erscheinung treten), wären wünschenswert gewesen. Nichtdestotrotz hat Caruso eine Arbeit vorgelegt, an der künftige geschichtswissenschaftliche Arbeiten zu transnationalen Aspekten der europäischen Arbeitsmigration der Nachkriegsjahrzehnte nicht vorbeikommen werden.

Anmerkung:
1 Vgl. etwa Thomas Faist / Margit Fauser / Eveline Reisenauer, Transnational Migration, Cambridge 2013; Nina Glick Schiller / Linda Basch / Cristina Szanton Blanc, From Immigrant to Transmigrant: Theorizing Transnational Migration, in: Anthropological Quarterly 68 (1995), 1, S. 48–63.

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