Cover
Titel
Rationalitäten des Lebensendes. Interdisziplinäre Perspektiven auf Sterben, Tod und Trauer


Herausgeber
Bauer, Anna; Greiner, Florian; Krauss, Sabine H.; Lippok, Marlene; Peuten, Sarah
Reihe
Gesundheitsforschung. Interdisziplinäre Perspektiven 3
Erschienen
Baden-Baden 2020: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
326 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bettina Hitzer, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der TU Dresden

Der Tod war im vergangenen Jahr äußerst präsent: Bilder von Särgen, die in Militärlastern abtransportiert, in provisorischen Kühlkammern gelagert, in Folie eingeschlagen und markiert wurden. Diese Bilder prägten sich ein als Ikonen eines drohenden medizinischen Kontrollverlustes, der zuvor kaum für möglich gehalten worden war. Der „Alltag“ der Pandemie brachte dagegen eine schwer erträgliche veränderte Realität des Sterbens mit sich: ein Sterben in intensivmedizinischer Betreuung, umgeben von Menschen in Schutzanzügen, oft, ohne dass Angehörige oder nahestehende Personen den sterbenden Menschen begleiten konnten. Ein solches Sterben erscheint trauriger noch als das Bild, das Norbert Elias 1982 über „Die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen“ zeichnete. Es negiert all das, was seit Beginn der Sterbeforschung in den 1960er-Jahren als Elemente eines „guten Sterbens“ benannt und seither von der Hospiz- und Palliativbewegung mit einigem Erfolg in die Praxis umgesetzt wurde. Die Rationalitäten der Pandemie haben die bisher gültigen Rationalitäten des Lebensendes zumindest zeitweise überschrieben.

Genau diese bis zum März 2020 gültigen Rationalitäten des Lebensendes stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Sammelbandes, der noch in Vor-Pandemiezeiten geschrieben wurde und auf einen im März 2019 veranstalteten Workshop der Initiative Junges ZIG (= Zentrum für Interdisziplinäre Gesundheitsforschung) der Universität Augsburg zurückgeht. Ziel des Bandes ist es, die in der Sterbeforschung dominierenden „Großbegriffe zu hinterfragen und die dahinter liegenden Prämissen empirisch zu überprüfen und zu präzisieren“ (S. 19), wie der Historiker Florian Greiner in seiner Einleitung stellvertretend für das fünfköpfige Herausgeberteam darlegt. Gemeint ist, dass sich die Sterbeforschung ebenso wie die Praxis in Hospizen und in der Palliativversorgung lange Zeit an Konzepte angelehnt hat, die in der Pionierzeit der 1960er- bis zu den frühen 1980er-Jahren im Kontext einer breiteren Medizin- und Modernitätskritik formuliert wurden. Forschung und politischer Aktivismus fielen hier oft zusammen und dieses normative „Gepäck“ schultern die in kritischer Absicht gebrauchten Begriffe der Institutionalisierung, Technisierung, Mechanisierung und Hospitalisierung des Sterbens bis heute (S. 18). In den letzten Jahren mehren sich jedoch die Stimmen, die zu einer kritischen Überprüfung und zugleich zu einer Vertiefung und Erweiterung des Wissens über das „gute Sterben“ und der daran angelehnten Formen des Trauerns und Gedenkens aufrufen.1 In diese Stoßrichtung fügt sich der Band ein, der Perspektiven aus der Soziologie, der Anthropologie, der Kommunikationswissenschaft, der Pflegewissenschaft und der Palliativmedizin zusammenführt, um die gegenwärtig wirksamen Rationalitäten des Lebensendes zu entschlüsseln und im Hinblick auf die bereits genannten „Großbegriffe“ zu diskutieren.

Historisch eingeordnet wird dieses Unterfangen in der Einleitung Florian Greiners, während in den übrigen Beiträgen eine historische Perspektivierung der Ergebnisse weitgehend fehlt. Greiner macht deutlich, dass die disziplinenübergreifende Thanatologie seit ihren bescheidenen Anfängen in der amerikanischen Psychologie und Soziologie Ende der 1950er-Jahre bis heute zu einer weit ausdifferenzierten, einflussreichen akademischen Disziplin heranwuchs, die nicht nur eigene Zeitschriften und Studiengänge verantwortet, sondern auch mit unterschiedlichen Praxisfeldern in der Pflege, Medizin und Psychologie ebenso wie in der Museumslandschaft und Bestattungskultur eng vernetzt ist. Drei „analytische Fluchtpunkte“ (S. 12) greift Greiner schließlich heraus. Da ist zunächst die Frage danach, wie das Sterben zwischen den Polen Krankheit und Gesundheit verortet wurde. Lange dominierten hier zwei komplementäre historische Narrative: eine an Philippe Ariès angelehnte „Romantisierung des Sterbens“ in der Vormoderne (S. 17) sowie die Vorstellung einer im 19. Jahrhundert beginnenden und im Laufe des 20. Jahrhunderts beschleunigten „Medikalisierung“ des Sterbens (S. 14). Beide Narrative sind in den letzten Jahren relativiert worden, doch Greiner betont hier vor allem die forschungspragmatischen Folgen dieser Narrative: die Unterbelichtung der gesundheitspolitischen und marktabhängigen Logiken des Sterbens sowie die „pauschale Diskreditierung“ der Klinik als Sterbeort (S. 15). Als zweiten Fluchtpunkt identifiziert Greiner die Nähe zwischen Forschung und Protest, die ebenfalls eine Reihe von Brüchen und Leerstellen nach sich gezogen habe. Darunter versteht Greiner nicht nur den andauernden Einfluss der frühen Thanatologie und ihrer heute oft als problematisch geltenden Modelle auf die gegenwärtige Praxis der Sterbebegleitung, sondern etwa auch die Gleichsetzung von Säkularisierung und Verdrängung, die eine systematische Unterschätzung religiöser Sinnstiftungen in der thanatologischen Forschung zur Folge gehabt habe. Schließlich weist Greiner, drittens, auf die Forschungskontroversen im Anschluss an die These einer zunehmenden „Mediatisierung des Todes“ (S. 20) hin, die eine neue „Sichtbarkeit“ des Todes gegen die ältere Annahme einer Tabuisierung in Stellung brachten.2 Auch hier plädiert Greiner dafür, diese an Großbegriffen geknüpfte Kontroverse hinter sich zu lassen, um sich intensiver der Dynamik zwischen Medienwandel einerseits, Weiterentwicklung von Sterbe- und Trauerpraktiken andererseits zu widmen.

Die Beiträge des Bandes sind in drei Sektionen organisiert, die die von Greiner umrissenen Fluchtpunkte nicht direkt aufgreifen, sondern anderen, an der Gegenwartssoziologie orientierten Perspektivierungen folgen, deren Verhältnis zu den zuvor aufgeworfenen Fragen nicht näher bestimmt wird. So steht in Teil 1 die Frage danach im Vordergrund, welche „Verhaltens-, Repräsentations- und Kommunikationsanforderungen“ das Ideal des selbstbestimmten Sterbens nach sich zieht (S. 24). Der zweite Abschnitt wendet sich den vielgestaltigen und ambivalenten Rationalitäten zu, die sich aus dem in der Palliativ- und Hospizversorgung der jüngeren Vergangenheit entwickelten Care-Begriff ergeben, der die individuellen Bedürfnisse des Sterbenden zur Richtschnur der Versorgung und Begleitung gemacht hat. Die Beiträge des dritten Teiles schließlich setzen sich mit den Folgen einer stetigen Zunahme von Optionen auseinander, die Sterbenden einerseits mehr Entscheidungsfreiheit im Blick auf die Gestaltung ihres Sterbens und der Erinnerung an sie gibt, andererseits jedoch auch permanent den Anspruch von Wahl, Entscheidung und Gestaltung an sie heranträgt.

Den Auftakt des ersten Teils gibt eine ethnologische Studie, in der Julia Dornhöfer den Prozess der Erstellung von Patientenverfügungen unter die Lupe nimmt. Sie zeigt eindrücklich, dass der autonome Patientenwille – als dessen ultimativer Ausdruck die Patientenverfügung gedacht ist – oft alles andere als autonom ist. Denn die Abfassung von Patientenverfügungen beruht auf spezialisierten Wissensbeständen, deren Vermittlung im Gespräch handlungssteuernd wirkt – eine Funktion, die die oft genutzten Ankreuzformulare unterstützen. Darum schlägt Dornhöfer vor, Patientenverfügungen als „Ko-Produktion von Akteuren und Dingen aus wissenschaftlichen, technischen, medizinischen und juristischen sowie alltäglichen Welten“ (S. 58) zu betrachten. Welche massenmedialen Bilder des Lebensendes im Hintergrund solcher Entscheidungen kursieren, erkunden die Kommunikationswissenschaftler:innen Anna J.M. Wagner, Manuel Menke, Susanne Kinnebrock und Marina Drakova durch die Inhaltsanalyse von TV-Sendungen und Printmedien aus den Jahren 2010–2017 beziehungsweise 2014. Sie zeigen, dass zwei Bilder des Sterbens geradezu dichotomisch gegeneinandergestellt werden: das „gute Sterben“ zuhause ohne lebensverlängernde Maßnahmen gegenüber dem entfremdeten „schlechten Sterben“ in profitorientierten Krankenhäusern. „Gesundheitliches Vorausplanen“ erfährt hier eine eindeutige Ausrichtung, ohne dass Betroffene in der von Journalist:innen, Ärzt:innen und Politiker:innen dominierten Diskussion zu Wort kämen. Eben diesem Sterben zuhause wendet sich Michaela Thönnes zu. Dabei hinterfragt sie genau jene Gegenüberstellung des „guten“ häuslichen Sterbens und des „schlechten“ Sterbens im Krankenhaus, indem sie das in der thanatologischen Diskussion verwandte Begriffspaar Individualisierung (= häusliches Sterben) versus Institutionalisierung (= Sterben im Krankenhaus) im Blick auf die ambulante Pflege Sterbender diskutiert. Aufgrund einer von ihr geleiteten Modellstudie macht sie deutlich, dass die vom Gesetz vorgesehene Aufteilung in allgemeine ambulante Pflege einerseits, spezialisierte ambulante Palliativversorger und allgemeine Palliativversorgung andererseits in der Praxis oft unterlaufen wird, weil die Mitarbeiter:innen der allgemeinen ambulanten Pflege Menschen, die sie bereits jahrelang gepflegt haben, auf deren Wunsch hin auch im Sterben weiterversorgen. Die individuellen Wünsche Sterbender geraten hier in Konflikt mit institutionellen Vorgaben, da die allgemeine ambulante Pflege für die Palliativversorgung nicht ausreichend qualifiziert ist, ein Austausch mit den Palliativversorgern allerdings oft an den institutionellen Zuordnungen scheitert oder gar nicht erst versucht wird.

Diesen Blick auf die Praxis der Sterbeversorgung in Deutschland vertiefen die Beiträge der zweiten Sektion. Lilian Coates lotet hier aus ethnomethodologischer Perspektive die „praktischen Rationalitäten“ (S. 126) im Hospiz aus. Ähnlich wie Thönnes in Bezug auf die ambulante Pflege arbeitet Coates heraus, dass Medikalisierung und Individualisierung im breiter gefassten Blick auf das „Sterbend-Sein“ (S. 142) der Hospizbewohner:innen ständig ineinanderlaufen. Die Pflegewissenschaftlerin Mara Kaiser richtet ihre Aufmerksamkeit ausdrücklich auf die Gefühls- und Beziehungsarbeit der Pflegenden im Hospiz. Besondere Relevanz erlangt dieser Beitrag, weil er die Auseinandersetzung mit dem Gefühl des Ekels in den Mittelpunkt stellt – ein Gefühl, das Pflegende vor bedeutende Herausforderungen stellt, in der Pflegewissenschaft aber bis vor wenigen Jahren kaum thematisiert wurde. Kaiser betont hier die Bedeutung von Reflexionsräumen, in denen Pflegende Unterstützung und Entlastung gerade im Umgang mit einem derart komplexen Gefühl wie dem Ekel erleben. Im Beitrag der Soziologin Sabine H. Krauss geht es um die tagtägliche Herausforderung durch den Faktor Zeit, der Pflegende in der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung zu begegnen haben. Denn – wie Krauss ausgehend von den Ergebnissen einer Interviewstudie demonstriert – ein Zuviel oder Zuwenig an Zeit lässt sich jeweils unterschiedlich im Horizont zweck- oder wertrationaler Logiken verstehen, die beide für die spezialisierte ambulante Palliativversorgung Gültigkeit haben, deren Verhältnis aber systematisch ungeklärt bleibt. Zeit, das wird auch im Beitrag der Palliativmedizinerin Anna Kitta über ein am Allgemeinen Krankenhaus Wien durchgeführtes Pilotprojekt deutlich, ist ein grundlegender begrenzender Faktor im Bemühen um eine an den Bedürfnissen der Sterbenden orientierte Rationalität des Lebensendes. Dennoch veranschaulicht Kitta, wie der Sterbeort Klinik durch die Integration alternativer Ansätze wie der Würdetherapie nach Harvey Chochinov oder der von Rita Charon entwickelten Narrative Medicine weiterentwickelt und dem Wunsch nach Fürsorge und individueller Sterbebegleitung entgegenkommen könnte.3 Wie dies allerdings auch außerhalb eines Pilotprojektes bei anhaltend geringen zeitlichen und personellen Ressourcen in der Klinik gelingen kann, bleibt – vorerst – offen.

Den Ambivalenzen und Möglichkeiten postmoderner Optionssteigerung widmet sich schließlich die dritte und letzte Sektion. Einmal mehr steht im Beitrag der Soziologin Anna Bauer die spezialisierte ambulante Palliativversorgung im Mittelpunkt. Es gelingt ihr zu zeigen, wie stark normative Vorstellungen vom „guten Sterben“ zuhause in die Routinen der ambulanten Versorgung hineinreichen. Dies ist besonders deshalb von Bedeutung, weil das Zuhause als Sterbeort in der Praxis eben nicht immer so „funktioniert“, wie es das professionelle Selbst der einbezogenen Ärzt:innen und Pflegenden will. Eindrücklich arbeitet Bauer diese Bruchstellen heraus, indem sie Fallgeschichten nachgeht, in denen „schwierige Familien“ (S. 233ff.) die Kommunikations- oder Organisationsanforderungen der ambulanten Palliativversorgung unterlaufen oder die Selbstbestimmung von Sterbenden auf ein anderes, nämlich einsames oder „verwahrlostes“, Sterben (S. 242) hinausläuft. Die Kommunikations- und Medienwissenschaftlerin Anke Offerhaus richtet ihren Blick dagegen auf eine ganz andere Facette des Lebensendes. Sie erkundet die außerordentliche Vielfalt neuer mediatisierter Formen der Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben sowie des Gedenkens im Zeichen der Digitalisierung und diskutiert, wie diese Form der Optionssteigerung Sterben und Gedenken verändert sowie bereits bestehende Tendenzen etwa zur Individualisierung von Sterben und Trauer weiterführt und verändert. Die dritte Sektion beschließt ein Beitrag des Soziologen Thorsten Benkel, der in Auseinandersetzung mit Erving Goffman, Norbert Elias und Zygmunt Bauman die Entwicklung der Eigenlogiken institutioneller Sterbebegleitung in der kontinuierlichen Spannung zu den Forderungen nach einer Subjektivierung des Sterbens erkundet.

Der vorliegende Band präsentiert ein breit gefasstes Panorama gegenwärtiger „Rationalitäten des Lebensendes“. Immer wieder führen die Beiträge auf die einleitend von Greiner skizzierte Dichotomie zwischen „gutem“ und „schlechten“ Sterben zuhause oder in der Klinik zurück. Sie machen deutlich, wie produktiv es ist, diese Dichotomie und die mit ihr einhergehenden Rationalitäten zu hinterfragen. Auf die Grenzen und Potentiale einer solchen Forschungsperspektive verweist der lesenswerte kurze Epilog Werner Schneiders. Einigen Aspekten jedoch wäre mehr Beachtung zu wünschen gewesen – gerade auch im Licht der von Florian Greiner eingangs benannten Perspektiven. Dazu gehört etwa ein vertiefender Blick auf die marktabhängigen Logiken des Lebensendes, der Grenzen und Möglichkeiten der psychologisch, medizinisch oder pflegerisch bestimmten Rationalitäten noch anders hätte rahmen können – so wie es beispielsweise im Beitrag von Sabine H. Krauss zum Faktor „Zeit“ anklingt. Auch hat Greiner zu Recht die thanatologische Unterschätzung religiöser Sinnstiftungen beklagt – und so wäre auch ein Beitrag zu Spiritual Care eine willkommene Ergänzung gewesen. Aufschlussreich wäre es ebenfalls gewesen, wenn hier und da der Blick auf Praktiken und Rationalitäten von Sterben und Trauer außerhalb Deutschlands geweitet worden wäre. Doch Sammelbände müssen – und können – ein Forschungsfeld nicht abschließend und erschöpfend vermessen. Wenn sie wie der vorliegende zur weiteren Auseinandersetzung mit etablierten Begriffen anregen und neue Forschungsperspektiven aufzeigen, haben sie ihr Ziel erreicht.

Anmerkungen:
1 Vgl. im deutschsprachigen Raum vor allem das von Armin Nassehi, Christof Breitsameter und Irmhild Saake geleitete DFG-Forschungsprojekt „Vom ‚guten Sterben‘. Akteurskonstellationen, normative Muster, Perspektivendifferenzen“ (https://www.gutessterben.uni-muenchen.de/index.html), in dem Anna Bauer, eine der Herausgeberinnen, arbeitet, sowie die Tagungen und Veröffentlichungen des 2010 gegründeten disziplinenübergreifenden Netzwerkes „transmortale“ (https://www.sepulkralmuseum.de/forschung/forschung-zur-sepulkralkultur/transmortale--neue-forschungen-zum-thema-tod:transmortale-x--dieses-jahr-digital).
2 Vgl. vor allem Thomas Macho / Kristin Marek, Die neue Sichtbarkeit des Todes, München 2007.
3 Harvey M. Chochinov, Diginity and the Essence of Medicine. The A, B, C, and D of Dignity Conserving Care, in: British Medical Journal 3335, 7612 (2007), S. 184–187, und Rita Charon, Narrative Medicine. Honoring the Stories of Illness, New York 2006.