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Titel
Nataschas Tanz. Eine Kulturgeschichte Russlands


Autor(en)
Figes, Orlando
Erschienen
Berlin 2003: Berlin Verlag
Anzahl Seiten
720 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Stadelmann, Institut für Geschichte, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Als Natascha Rostowa, zentrale Frauenfigur in Lew Tolstois Roman „Krieg und Frieden“, in der Landhütte ihres so genannten Onkels weilte, geriet sie unwillkürlich in den Bann eines russischen Volksliedes. Das adelige Mädchen, das in seinem Leben noch nicht viel von Russlands bäuerlicher Kultur mitbekommen hatte, „warf das Tuch ab, in das [es] sich eingehüllt hatte, lief auf den Onkel zu, stemmte die Arme in die Seiten, wiegte die Schultern hin und her und blieb dann stehen. Wie, wo und wann hatte diese kleine Komtesse, die von einer französischen Emigrantin erzogen worden war, aus der russischen Luft, die sie einatmete, jenen Geist in sich aufgesogen? [...] Denn dieser Geist und diese Art zu tanzen waren so unnachahmbar, so unerlernbar russisch [...]“ (S. 17f.). Orlando Figes glaubt in dieser Szene aus Tolstois Roman, eine Schlüsselszene russischer Kulturgeschichte gefunden zu haben: Eine Art urrussischer Geist erwacht in dem europäisiert erzogenen Adelsmädchen, wie von selbst bricht ein Stück russischer Identität in Natascha hervor, obgleich sie doch durch ihre Akkulturierung keinerlei Voraussetzungen dafür mitbrachte.

Diesem typisch „Russischen“, auf die Spur zu kommen, ist das Anliegen von Figes’ Kulturgeschichte Russlands, dem besagte Tolstoische Szene ihren Namen gegeben hat. Figes möchte das „russische Wesen“, die viel zitierte „russische Seele“ ergründen und beschreiben, und er bedient sich dazu insbesondere der Kunst und (Hoch-)Kultur, die für ihn einen „Zugang zum Innenleben einer Nation“ (S. 20) ermöglichen. Dabei distanziert sich der Autor von einer dekonstruktivistischen Kulturhistorie, die russische Kultur und Identität vornehmlich als Konstruktionen begreift, und fordert das „reale Russland“ ein, denn: „[E]s gibt durchaus ein russisches Temperament, eine Ansammlung einheimischer Sitten und Überzeugungen, etwas, das aus dem Bauch kommt, etwas Emotionales und Instinktives.“ (S. 22)

Der Autor beginnt seine Suche nach diesem „Russischen“ dort, wo er es gerade nicht zu finden glaubt, in St. Petersburg, in jenem „beinahe utopischen Projekt, den Russen mit kulturellen Mitteln zu einem Europäer umzuformen“ (S. 36). Die Abgrenzung Peters gegenüber dem „alten Russland“ und die ihm zunächst widerstrebend folgende Adelswelt dienen dazu, die versuchte Distanzierung der oberen Zehntausend von russischen Eigentümlichkeiten darzustellen. Dazu führt uns Figes zum russischen Adel, exemplifiziert etwa an den Scheremetjews, und zu dessen oft auf den Leistungen von Leibeigenen basierenden Kulturleben. Die hierbei geschilderte „Idealisierung Europas“ (S. 93) erfuhr vor und nach der Wende zum 19. Jahrhundert schwere Schläge – zum einen durch die Französische Revolution, zum anderen durch 1812, dessen „Kindern“ das zweite Kapitel gewidmet ist. Das (adelige) Kollektiverlebnis der napoleonischen Jahre wird in diesem zweiten Kapitel beleuchtet, die Entwicklung der späteren Dekabristenbewegung geschildert. Figes stellt eine Art vornehme Explosion des Russischen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fest: Zögerlich, aber unaufhaltsam wandte sich die bessere Gesellschaft den im 18. Jahrhundert verdrängten russischen Eigentümlichkeiten zu.

Sein drittes Kapitel widmet Figes Moskau. Die Gegenüberstellung mit St. Petersburg liegt nahe und der Autor lässt sich diese Chance nicht entgehen, den russischen Geist der Stadt im Gegensatz zu Peters Symbol der Fremdartigkeit zu erklären. Das üppige Moskauer Essen gehört hier her, ebenso der exorbitante Alkoholkonsum (auch ein Kriterium des Russischen), aber auch der entstehende „neorussische“ Stil in Malerei und Musik. Der Aufstieg der Moskauer Kaufmannschaft darf nicht fehlen, Pawel Tretjakow und Sawwa Mamontow sorgen für den kulturellen Bezug. „Die Bauernhochzeit“ ist das folgende, vierte Kapitel überschrieben. Figes beschreibt die Haltung der Intelligenz zur Bauernfrage sowie die künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem „Volk“ etwa bei Ilja Repin oder Modest Mussorgski. Von den Kultfiguren der Malerei und Musik gelangt Figes endlich zu jener Persönlichkeit, die ganz offensichtlich seine Konzeption russischer Kulturgeschichte maßgeblich geprägt hat. Kam es bereits bislang zu etlichen Rekursen auf das Monumentalopus „Krieg und Frieden“, so steht nun dessen Schöpfer selbst mit seinen eigenen Vorstellungen von Russen- und Bauerntum im Mittelpunkt. Tolstois Idealisierung des (von ihm stilisierten) russischen Bauern wurde durch Tschechows „Bauern“ in Frage gestellt. Figes leitet über zu Wandlungen der bäuerlichen Lebenswelt am Ende des „langen“ 19. Jahrhunderts und deren Widerspiegelungen in der Literatur, Kunst und Musik.

Nachdem er das russische Bauerntum in vielfältigen Widerspiegelungen in der Hochkultur gesucht und gefunden hat, macht sich Figes im nächsten Kapitel auf die Suche „nach der russischen Seele“. Im Gegensatz zu anderen trachtet er nicht danach, diese in endlosen Kornfeldern, Birkenwäldern und Balalaikaklängen zu suchen, sondern in der Religion. Der Autor spricht über Liturgie und Rituale der orthodoxen Kirche, die seiner Ansicht nach nicht nur „das Zentrum des russischen Glaubens“, sondern auch des „Nationalbewusstseins“ (S. 329) bildeten, eine These, die nicht allzu ausführlich begründet wird.

Dass das „Russische“ im zarischen Vielvölkerreich eine komplexe Angelegenheit war, verdeutlicht das folgende, sechste Kapitel „Die Nachfahren des Dschingis Khan“. Die Bedeutung der östlichen, asiatischen Reichsteile und ihrer „Wildheit“, „Primitivität“ und nichteuropäischen Andersartigkeit für das Selbstverständnis der russischen Kulturschaffenden wird, auch unter Einbringung der eurasischen Bewegung, diskutiert und ihre Folgen für die russische Identität am Ende bildlich zusammengefasst: „Die Russen ahnten von Kindheit an, was es bedeutete, ‚auf einem Steppenross dahinzusprengen‘. Sie spürten das Donnern, mit dem die Hufe über die asiatische Steppe jagten, unter ihren Füßen.“ (S. 449)

Ein ganz anderes Donnern überzog im Jahre 1917 das Land. „Russland aus sowjetischer Sicht“ überschreibt Figes sein Kapitel über die Kulturgeschichte im Lande der Bolschewiki. Als „Einführerin“ in die Epoche dient hier Anna Achmatowa, deren Einzug in ehemaligen Palast der Scheremetjews an der Fontanka nicht nur den Bezug zur Vergangenheit herstellt, sondern auch weiterführt zur bolschewistischen Revolution der Wohnkultur. Von der Vorstellung des zu schaffenden neuen Sowjetmenschen wird der Bogen geschlagen zum Proletkult, von dort weiter zur Avantgarde im sowjetischen Kino, zu Eisenstein, schließlich zu Mejerchold und Majakowski. Dessen Selbstmord wird als symbolischer Ausgangspunkt der Veränderungen in der sowjetischen Kultur genommen, die der beginnende Stalinismus zum Postulat des Sowjetischen Realismus drängte. Terror, Krieg und Nachkriegskampagnen brachten schwierige Zeiten für die sowjetischen Kulturschaffenden, denen es freilich in Figes’ Anschauung gelang, eindrucksvolle Symbole für die Größe der russischen Kultur zu liefern, trotz der sie behindernden sowjetischen politischen Barbarei.

Der kulturellen Emigration gilt Figes‘ letztes Kapitel. Es schildert die Fluchtpunkte Berlin und Paris, spürt manch prominentem individuellen Schicksal nach und demonstriert daran die Persistenz russischer Identitätsstrukturen auch in der Fremde. Figes schildert die Seelenqualen der russischen Künstler-Emigranten im Ausland, aber auch diejenigen der späteren Rückkehrer unter ihnen und führt an beiden Erscheinungen die besondere emotionale Intensität des „Russe-Seins“ vor. Zu ihr musste sich auch der sich so lange als nüchterner Kosmopolit gebende Igor Strawinski bekennen: „Es ist mein Russland und ich liebe dieses Land.“ (S. 605)

Orlando Figes‘ Kulturgeschichte Russlands ist, daran besteht kein Zweifel, von einem Kenner geschrieben, ihre Lektüre ist abwechslungsreich und kurzweilig, sie teilt dem Leser viel Bemerkenswertes, viel Richtiges und Wichtiges über die russische (Hoch-) Kultur im historischen Kontext mit, sie leistet streckenweise eine dichte deskriptive Annäherung an das „Russische“. Es ist wohl ein großes Buch – und dennoch kein großer Wurf, da das Konzept von Figes insgesamt nicht zu überzeugen vermag. Zu sehr geriert sich der Autor als Romancier, der aus seiner persönlichen Warte Geschichten über Russlands Kultur und Historie erzählt. Verschiedene Schicksale werden vorgeführt, verschiedene Fäden gesponnen, fallen gelassen und manchmal überraschend wieder aufgegriffen. Dazwischen Exkurse, gedankliche Sprünge, willkürliche Verknüpfungen, oft unter Verzicht auf Chronologie und Kausalität – ein solch rhapsodischer Stil macht die Lektüre unbeschwert, geht aber zu Lasten von Systematik und analytischer Konsequenz. Letztere scheint Figes’ Anliegen auch kaum zu sein, stattdessen führt er den Leser in essayistischer Manier auf seinen persönlichen, oft recht gewundenen Routen durch Russlands Kultur vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Dass da nicht immer zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem unterschieden, die Komplexität der Konstellationen nicht immer gewürdigt wird, Anekdoten sich mit Essentials vermengen, gehört zum vielleicht allzu populistischen Konzept plakativer Pauschalisierung. Heraus kommt ein kulturgeschichtliches Potpourri aus Geschichte und Hochkultur, durchsetzt mit biografischen Skizzen, knappsten, dünn belegten Elementareinführungen in historische Strukturen und feuilletonartigem Philosophieren über „das Russische“. Sicher mag dahinter die ehrenwerte Idee stecken, dem Unkundigen Russlands Kulturgeschichte auf leicht lesbare Weise näher zu bringen. Gerade der Unkundige aber wird nicht über die nötige Trennschärfe verfügen, um in Figes’ Erzählstrom einen klaren Kopf zu behalten. So sehr auch das Buch für die Faszinationskraft Russlands sensibilisiert, lässt sein bisweilen strukturloses Netzwerk von Beobachtungen doch kein klares Gesamtbild entstehen. Kulturgeschichte auf der Grundlage assoziativer Beliebigkeit liefert ein schönes historisches Lesebuch, stellt aber für die professionelle Historie einen Irrweg dar.

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