E. Lohr: Nationalizing the Russian Empire

Cover
Titel
Nationalizing the Russian Empire. The Campaign Against Enemy Aliens During World War I


Autor(en)
Lohr, Eric
Reihe
Russian Research Center Studies
Erschienen
Anzahl Seiten
237 S.
Preis
$45.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Teichmann, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt Universität zu Berlin

Die Geschichte Russlands verändert sich. Die politischen Entwicklungen der letzten zwei Dekaden und die Öffnung der Archive seit 1991 führten zu grundsätzlichen Neubewertungen. Zwei historiografische Trends sind dabei auszumachen: Russland wurde als Vielvölkerreich entdeckt und es kehrte auf neue Weise in die Geschichte der europäischen Moderne zurück. Während Russland im europäischen Vergleich lange Jahre als defizitär und rückständig interpretiert wurde, lautet nun die Fragestellung, welche Wirkungen die ideologischen Prämissen der europäischen Aufklärung und des Nationalstaats im russischen Imperium entfalteten. Ein herausragendes Beispiel für die innovative Aufnahme beider Trends ist das Buch "Nationalizing the Russian Empire" von Eric Lohr.

Thema des Buches ist die Reaktion des russischen Ancien régime auf die Herausforderungen einer mit nationalistischer Rhetorik operierenden Massenpolitik in der Zeit vom Kriegsbeginn bis zum Herbst 1917. Wie Lohr im Eröffnungskapitel "Nationalist Challenges, Imperial Dilemmas" (S. 10-30) zeigt, war das Ziel dieser Massenpolitik sowohl die Nationalisierung der Wirtschaft durch Enteignungen der zu "Feinden" erklärten "Ausländer" als auch die ethnische Homogenisierung der Bevölkerung. Während die Zivilbehörden in den ersten Kriegsmonaten die Unverletzlichkeit des Eigentums und der Person von "feindlichen Ausländern" als unverrückbar ansahen und in erster Linie an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung interessiert waren, ging die Armee rücksichtslos gegen die Zivilbevölkerung im Frontgebiet vor. Im Generalstab herrschte nicht nur Konsens über die nötige Deportation von deutschen, jüdischen und dann auch polnischen "Feinden", sondern er war auch der Initiator einer großangelegten Pressekampagne gegen "Spione".

Die nationalistische Radikalisierung der Presseberichterstattung über die angeblichen Machenschaften "feindlicher Ausländer" wurde jedoch nicht nur vom Generalstab befürwortet. Neben einer großen Gruppe von Politikern unterstützten vor allem Unternehmervereinigungen die Kampagne tatkräftig. Diese Gleichlage der Interessen führte während des ersten Kriegsjahres zur Formulierung einer kohärenten Nationalisierungsagenda, die nicht nur die Regierung unter stetigen Handlungszwang setzte, sondern im Ergebnis zu einer Hinterfragung der Grundlagen des Imperiums als Ganzes führte. Denn die Kampagne gegen "feindliche Ausländer" richtete sich nicht gegen eine marginale Bevölkerungsgruppe, sondern gegen einen wesentlichen Teil der wirtschaftlichen Elite des Landes. Eine Schlüsselrolle in Industrie und Landwirtschaft fiel dabei den Deutschen zu, deren Schicksal sich Lohr in seiner Untersuchung schwerpunktmäßig widmet.

Jeder, der einen ausländisch klingenden Namen trug, geriet unter Verdacht. Lohr schildert im Kapitel "The Moscow Riots" (S. 31-54), wie sich der von der Presse angeheizte Volkszorn gegen vermeintliche "Feinde" austobte. In den letzten Tagen des Mai 1915 kam es in Moskau zu einem dreitägigen blutigen Pogrom, das sich zunächst gegen Fabriken richtete, in denen Ausländer arbeiteten oder die (angeblich) Ausländern gehörten. Bald weiteten sich die Angriffe gegen Geschäfte im Zentrum aus und ergriffen dann das ganze Stadtgebiet. Auf dem Roten Platz entstand in Windeseile ein Schwarzmarkt mit geplünderten Waren. Die Polizei war ohne die Hilfe der Moskauer Garnison nicht in der Lage, die Kontrolle wiederzuerlangen. Nach diesen Geschehnissen brachte auch der Rücktritt des Innenministers Maklakov Gerüchte nicht zum Verstummen, die Regierung hätte das Pogrom unterstützt. Es wirkte daher wie ein Signal zum Weitermachen. Diesen Eindruck verstärkte die amtliche Untersuchung, die unter so großer Geheimhaltung stattfand, dass am Ende nicht einmal alle Regierungsmitglieder den Untersuchungsbericht lesen durften. Hier hätten sie erfahren können, dass Russland 1915 kein starker Staat war, der Pogrome hätte dirigieren können, sondern ein schwacher Staat, dessen Beamte aus der Angst heraus handelten, die öffentliche Ordnung könne jeden Moment in sich zusammenbrechen.

Unter dem Druck des Volkszorns und der Presse, die jeden Schritt der Regierung akribisch überwachte, begann eine groß angelegte Kampagne gegen "ausländisches" Eigentum. In den Kapiteln "Nationalizing the Commercial and Industrial Economy" (S. 55-83) und "Nationalizing the Land" (S. 84-120) analysiert Lohr den Prozess der Enteignung von Eigentum im Hinblick auf die Gesetzgebung sowie ihre Implementierung und die Folgen. Nicht nur der ökonomische Schaden der Kampagnen war enorm, sondern auch der außenpolitische. Zunächst waren "Deutsche" die Zielgruppe, aber schnell kamen andere ausländische Unternehmen unter Verdacht, wie Lohr am Beispiel der amerikanischen Firma Singer zeigt. Ohnehin war die Zielgruppe der ökonomischen Nationalisierung sehr weit gefasst, denn sie betraf neben Staatsbürgern gegnerischer Länder auch alle "feindlichen Ausländer", die nach dem 1.1.1880 die russische Staatsbürgerschaft erhalten hatten. Lohr folgert daraus, die Enteignungen hätten unter dem Vorwand der nationalen Sicherheit vor allem zu einer Stärkung des ethnisch russischen Elements in der Wirtschaft führen sollen.

"Forced Migrations" (S. 121-165) sind eines der bekanntesten Kapitel des russischen Ersten Weltkriegs. Lohr schildert zunächst die Deportation von deutschen Kolonisten aus Kongresspolen ab Herbst 1914 und vergleicht diese relativ geordneten Eisenbahntransporte mit dem Chaos, das wenig später über die jüdische Bevölkerung des Frontgebiets hereinbrach, deren Vertreibung von Pogromen begleitet war. Besonders eindringlich wird die Analyse, wenn Lohr die politischen Konstellationen hinter den Deportationen aufzeigt und ihre Chronologie im Zusammenhang mit der Verkleinerung und der schließlich erfolgten Auflösung des "Ansiedlungsraions" dokumentiert. Ausführlich wird auf die von der Armee praktizierten Geiselnahmen eingegangen, durch die die Loyalität der als "Spione" und "Feinde" verdächtigten Juden erzwungen werden sollte. Doch nicht nur von der russischen Westfront, sondern auch von der Kaukasusfront wurden "feindliche" ethnische Gruppen deportiert. So wurden ab Januar 1915 circa 10.000 muslimische Andscharen aus Georgien nach Zentralrussland verbracht.

Die konservativen und nationalistischen Kräfte, die die Kampagne befürworteten und tatkräftig unterstützten, erwiesen Russland einen Bärendienst. Die wirtschaftlichen und politischen Folgen waren verheerend. In der Provinz führten die Enteignungen und die administrativen Blockaden zum teilweisen Zusammenbruch der Regionalwirtschaft und zu Missernten. An den Zielorten der Deportationen verlieh die Lokalbevölkerung ihrer Unzufriedenheit über die Neuankömmlinge Ausdruck. Die verfolgten Minderheiten organisierten und radikalisierten sich, was ethnische Spannungen verschärfte. Trotzdem setzte die Regierung die Kampagne eifrig fort, weil sie sich vom Vorwurf freizumachen versuchte, die militärischen Misserfolge Russlands seien durch die Verschwörung einer "deutschen" Kamarilla mit der Zarin im Zentrum verursacht. Je mehr die Regierung auf radikale Forderungen einging, desto schneller entglitt die Situation ihren Händen. Die russische Innenpolitik hatte endgültig mit der imperialen Strategie gebrochen, ökonomisch potente Ausländer zu assimilieren, und war vom Kriterium des Standes und der Staatsbürgerschaft zur ethnischen Kategorisierung der Bevölkerung übergegangen.

Eric Lohrs Untersuchung beeindruckt durch die Präzision der Analyse, die mit knappen Worten auskommt. Nicht gewagte Thesen, sondern der Detailreichtum lässt neue Bilder der russischen Gesellschaft im Ersten Weltkrieg entstehen. Die Verschiebung der Untersuchungsperspektive - von einer Geschichte des Innenlebens von Minoritäten hin zu einer Geschichte nationalisierender Staatspraktiken – macht die Leistung von Lohrs Buch aus. Ihm geht es darum, Nationalisierung nicht als Produkt von Langzeitentwicklungen zu beschreiben, sondern als ein plötzliches, kontingentes Umschlagen der Kategorien im öffentlichen und privaten Leben. Lohr dokumentiert dieses Umschlagen in vier detaillierten Fallstudien. Zugunsten dieser Vorgehensweise drängt er die Chronologie der Kampagne gegen "feindliche Ausländer" zurück. Die Dramaturgie des Buches steigert sich von einem Pogrom in Moskau über die Enteignung von Besitz bis zur Beschreibung von Deportationen. Die Chronologie der Ereignisse lässt den Höhepunkt der Deportationen in das erste Kriegsjahr fallen, während die meisten Landenteignungen Anfang 1917 stattfanden und eine große Anzahl deutscher Firmen erst nach der Februarrevolution liquidiert wurde.

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