In dieser knapp und eindringlich gefaßten Einführung und Dokumentation legen die beiden Autoren einen besonders heiklen Punkt der modernen Kirchengeschichte in Deutschland offen: das lange Zeit verdrängte Versagen der Institution Kirche, ihrer leitenden Instanzen und der großen Mehrheit der Christen angesichts der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Dabei werden drei wichtige Einschränkungen vorgenommen: Es geht nur um die deutsche evangelische Kirche und um ihre christlichen Angehörigen jüdischer Herkunft. Seit den Nürnberger Gesetzen waren auch sie der Diskriminierung und Verfolgung durch den nationalsozialistischen Staat ausgesetzt. Zudem steht die "Perspektive der Opfer" im Mittelpunkt. So geht es diesem kleinen Buch sechzig Jahre nach dem Novemberprogrom von 1938 um Bedenken und Erinnerung der "Leiden" und des "Widerstandes".
Die Forschung nach den Motiven, Ursachen und Gründen für das Versagen und Handeln der kirchlichen Institutionen und ihrer Mitglieder bleibt damit noch zu leisten. Ein systematischer und differenzierter Gesamtüberblick über die Reaktion der deutschen Protestanten auf die nationalsozialistische Judenverfolgung steht noch aus. Das gilt aber in gleicher Weise auch für die katholische Kirche und die Katholiken. Weder die Darstellung von einzelnen Heroen- oder Märtyrerschicksalen noch eine papstzentrierte oder hierarchische Darstellung ersetzen dabei eine sozial- und strukturgeschichtliche Untersuchung und Erklärung. Hier hat auch dieses Buch Defizite, die allerdings den beiden Autoren selbst nur zu bewußt sind, da ihr Anspruch eher bescheiden im Bereich der Erinnerung und Anregung zur weiteren Forschung liegt. Damit werden allerdings schon ausreichend empfindliche Punkte des christlichen Selbstverständnisses und des kollektiven Eigenbildes der Protestanten berührt. Beunruhigung, Anfechtung und Scham wünscht sich Martin Greschat als Reaktion der Leser. (S. 122)
In ihrem ersten Überblicksbeitrag behandelt Ursula Büttner die "von der Kirche verlassenen" deutschen Protestanten jüdischer Herkunft im "Dritten Reich" und die ständige Verschlechterung ihrer Situation wie die der Juden unter dem Druck der Verfolgung. Dabei kann sie sich in starkem Maße auf ihre verschiedenen eigenen Untersuchungen stützen, die u.a. 1988 als Buch unter dem Titel "Die Not der Juden teilen. Christlich-jüdische Familien im "Dritten Reich". Beispiel und Zeugnis des Schriftstellers Robert Brendel" erschien. Auch die in den letzten zehn Jahren erschienen Arbeiten von Werner Jochmann, Jochen-Christoph Kaiser, Martin Greschat, Kurt Nowak, Sigrid Lekebusch, Eberhard Röhm und Jörg Thierfelder konnten den Zusammenhang von protestantischer Judenfeindschaft und der Duldung der Verfolgung von "Judenchristen" aufhellen.
In der kollektiven Erinnerung der Kirche fanden die Christen jüdischer Herkunft und ihre Ausgrenzung und Verfolgung bis heute keinen Platz - deutlich z.B. im Fall von Viktor Klemperer, dessen Christentum nicht thematisiert wird. So erfährt die nationalsozialistische rassistisch-biologistische Methode und gewaltsame Zuordnung zu einer völkisichen Kategorie im nachhinein noch einmal eine grausame Bestätigung, die Anlaß zur Reflexion über ihre tiefe Verwurzelung sein sollte. Es fand nach 1933 eine doppelte Ausgrenzung statt, da die Christen jüdischer Herkunft aus ihren eigenen Bindungen herausfielen und zugleich einer Gruppe zugezählt wurden, mit der die Mehrzahl nichts zu tun hatte und oft auch ausdrücklich nichts zu tun haben wollte. Aus religiösen und gesellschaftlichen Gründen hatten sich die "Judenchristen" in der Vergangenheit oft ebenso scharf vom Judentum abgegrenzt wie die anderen Mitglieder der christlichen Kirchen. Nach 1918 waren die Kategorien von "Volkstum, "Wesen" und "Rasse" so populär im deutschen Protestantismus geworden, daß die Fremdheit, das Mißtrauen und die Ausgrenzungen gegenüber den getauften Christen in den eigenen Reihen stark zunahmen. Eine Folge war aber auch, daß noch lange nach 1945 keine Überwindung der antijüdischen religiösen Traditionen thematisiert wurde oder gar stattfand. Es gab kein Bewußtsein dafür, gegenüber den aus dem Judentum stammenden Christen etwas versäumt zu haben oder ihnen gar besonders hilfreich begegnen zu müssen. So lehnte es der Leiter des Hilfswerks der Evangelischen Kirche in Deutschland, Eugen Gerstenmaier, entschieden ab, für die evangelischen Christen jüdischer Herkunft, soweit sie die Verfolgung überlebt hatten, eine besondere Unterstützungseinrichtung zu schaffen. (S. 68)
In drei exemplarischen Beiträgen wird die Biographie einzelner Persönlichkeiten dargestellt. Martin Greschat behandelt mit Marga Meusel die Leiterin einer diakonischen Einrichtung in Berlin, die selbst zwar nicht jüdischer Herkunft war, aber mit ihrem vergeblichen Bemühen um Hilfe für die als Juden verfolgten Mitchristen das Versagen ihrer Kirche besonders deutlich erfuhr. Mit dem Juristen Friedrich Weissler stellt M. Greschat das Schicksal eines von der antijüdischen Gesetzgebung betroffenen Mitglieds der Bekennenden Kirche dar. Weissler glaubte an eine öffentliche Distanzierung seiner Kirche von der NS-Gewaltpolitik und mußte seinen Irrtum mit der Ermordung im Konzentrationslager bezahlen. Ursula Büttner schließlich erörtert am bekannten Fall des evangelischen Dichters Jochen Klepper die kleine Gruppe von Christen und Christinnen, die Opfer der Verfolgung wurden, weil sie zu ihren jüdischen Familienmitgliedern hielten. Er ging mit der Ehefrau und der jüdischen Stieftochter schließlich in den Tod, als er sie vor der Deportation nicht mehr schützen konnte.
Immer wieder: Isolierung und Vereinsamung innerhalb der eigenen Kirche, gespiegelt in drei Schicksalen: ""'Nichtarische' Christen fühlten sich in ihren Kirchen sehr allein." (S. 148) Aber auch: Versagen der Mehrheit der Protestanten und ihrer Institutionen. So schrieb Klepper noch vor der Progromnacht 1938: "Wir stehen erschreckt vor dem Faktum, mit welcher Gleichgültigkeit die Christen, auch in Deutschland! an dem Geschick der Juden vorübergehen, geschweige denn, daß sie erkennten, wie ernst Gott hier mit den Christen redet." (S. 149) Hannah Arendt erinnert sich später an das Jahr 1933: "Das Problem, das persönliche Problem war doch nicht etwa, was unsere Feinde taten, sondern was unsere Freunde taten. Was damals in der Welle von Gleichschaltung (geschah), die ja ziemlich freiwillig war, jedenfalls noch nicht unter dem Druck des Terrors vorging: das war, als ob sich ein leerer Raum um einen bildete." (S. 26)
Weit über den konkreten historischen Gegenstand hinaus gibt diese Beobachtung Anlaß zur Frage, wieweit solche gesellschaftlichen Mechanismen der "Selbstgleichschaltungen" Teil unserer Moderne geworden sind und wie heute Ausgrenzungen stattfinden. Sowohl in diesem Geiste einer christlichen wie einer sozialen Herausforderung und auch im Sinne einer kritischen historischen Selbstreflexion ist diesem ansprechend zusammengestellten Taschenbuch eine weite Verbreitung in der politischen Bildung innerhalb wie außerhalb der Kirchen zu wünschen.