Titel
Hitlerjugend. Aus dem Englischen von Jürgen Peter Krause


Autor(en)
Kater, Michael H.
Erschienen
Darmstadt 2005: Primus Verlag
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
EUR 24,90 bis zum 31.12.05, danach EUR 29,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Dr. Wolfgang Gippert, Universität zu Köln

Nach mehreren Studien zum Nationalsozialismus legt der renommierte nordamerikanische Historiker Michael H. Kater mit „Hitler-Jugend“ – so der schnörkellose Titel des Buches – erneut eine Untersuchung über die Zeit des ‚Dritten Reiches’ vor.

Der Klappentext verspricht „einen neuen und fundierten Überblick“ zu einem breit diskutierten Thema: „was die Hitler-Jugend war und wie Jugend unter Hitler erlebt wurde“. In der Organisationsgeschichte, die anhand von Einzelschicksalen und Lebenserinnerungen illustriert wird, leitet den Autor die Frage nach Verantwortung und Schuld der Jugend, „nach einer Komplizenschaft jüngerer wie älterer HJ-Mitglieder“ (S. 9) bei der Festigung der NS-Diktatur. Damit knüpft Kater an den aktuellen Täter-Opfer-Diskurs an und lässt auf neue Erkenntnisse auch aus erziehungshistorischer Perspektive hoffen.

Die Gliederung des Bandes erfolgt ohne Zählung. Gerahmt von Einleitungskapitel („’Macht Platz, Ihr Alten!’“) und Fazit („Die Verantwortung der Jugend“) besteht der Hauptteil aus vier großen Abschnitten, die wiederum in zwei bis vier Unterpunkte aufgeteilt sind. Die thematischen Schwerpunkte sind mit den Überschriften „Dienst in der Hitlerjugend“, „Mädchen im Dienst der NS-Politik“, „Dissidenten und Rebellen“ sowie „Hitlers Jungen und Mädel an der Front“ benannt. Im Anhang findet sich ein Abkürzungs- und Personenregister sowie ein rund 1150 Endnoten fassender Anmerkungsapparat. Ein gesondertes Literaturverzeichnis gibt es allerdings nicht, was die Suche nach den Quellen und Studien, aus denen Kater sein Wissen schöpft, höchst umständlich und zermürbend gestaltet. Hinzu kommt, dass er auf eine Skizze des Forschungsstandes und eine Begründung seiner Vorgehensweise verzichtet, was eher auf eine breite interessierte Öffentlichkeit und weniger die Fachwelt als Adressaten verweist.

Ausgehend von (auto-) biografischen Beispielen, die die Attraktivität der Hitler-Jugend für Heranwachsende verdeutlichen sollen, entfaltet Kater in seiner Einleitung These und Fragestellung. Nach der von Wirtschaftskrisen und Kriegsängsten geschüttelten Weimarer Republik hätte gerade der autoritäre Charakter des NS-Regimes den Jugendlichen als schützende Gemeinschaft enorme Sicherheiten geboten. Jugendliche hätten sich als Mitglieder in der HJ im Sinne einer Komplizenschaft schuldig gemacht, wenn sie z. B. „ihren Untergebenen bewusst nationalsozialistische Werte vermittelten und sie dadurch zu Rassenhass und Kriegslüsternheit aufstachelten“ (S. 10). In der Frage nach der Mitverantwortung der Hitler-Jugend an den Verbrechen des NS-Regimes sieht Kater allerdings verschiedene Probleme, etwa wenn ehemalige HJ-Mitglieder erst in einer späteren Lebensphase als Soldaten in den Krieg zogen. Eigene Handlungsspielräume der Jugendlichen, wie die freiwillige Annahme einer Führungsposition in der HJ, könnten jedoch Aufschluss in der Frage nach ihrer Täterschaft geben. Als „NS-regimespezifische Jugendkohorte“ (S. 16) macht Kater jene Personen aus, die zwischen 1916 und 1934 geboren wurden. In eingeschränktem Sinne könne man bei den Angehörigen dieser Geburtsjahrgänge auch von einer ‚Generation’ sprechen, da sie innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne dieselbe wesentliche Erfahrung geteilt hätten.

Bei der folgenden Darstellung der kollektiven Erfahrung dieser Personengruppe begegnet dem kundigen Leser im Hauptteil zunächst viel Bekanntes. Im Kapitel „Dienst in der Hitlerjugend“ bereitet Kater die vielfältigen und ambivalenten Facetten der nationalsozialistischen Jugendorganisation detailreich, anschaulich und dennoch bündig auf. Das Themenspektrum erstreckt sich zunächst auf die Monopol- und Uniformitätsbestrebungen der HJ und den schrittweisen Prozess der ‚Gleichschaltung’ der Jugendverbände. Darin eingebettet sind eine kurze Organisationsgeschichte der HJ, die Biografien der beiden ‚Reichsjugendführer’ sowie die Kennzeichnung der wichtigsten Gesetze und Verordnungen. Im weiteren Verlauf stehen die verschiedenen Aktionsformen in der Hitler-Jugend im Focus, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf die paramilitärische Ausrichtung. Die abschließende Schilderung der Schulungs-, Disziplin- und Führungsprobleme in der HJ verdeutlicht das grundlegende Dilemma der Organisation, in der ‚Jugend durch Jugend geführt’ werden sollte.

Der Frage nach der Beteiligung von Mädchen und jungen Frauen an der Gestaltung des ‚Dritten Reiches’ widmet Kater das zweite Kapitel. Das Thema verortet er zwischen den beiden Polen ‚Mittäterschaft’ und ‚Opferstatus’. Er geht davon aus, dass sich auch Mädchen mit zunehmenden Alter und zunehmender Verantwortung schuldig gemacht hätten (S. 65). Auch wenn die Befehlsstrukturen im ‚Bund Deutscher Mädel’ ebenso aufgebaut waren wie in der HJ für Jungen, ergaben sich in der konkreten Ausgestaltung der Freizeitaktivitäten erhebliche Unterschiede, die Kater auf die grundlegende Geschlechterpolarität im NS-Staat zurückführt. Erst im Kriege habe paramilitärischer Drill Einzug in die Erziehung der weiblichen Jugend erhalten – in den Lagern des ‚Reichsarbeitsdienstes’ und in den verschiedenen Formen der Kriegshilfsdienste. Irritationen hinterlässt der Punkt „Eugenik als ‚Rassenpflege’“. Nach einer Skizze der Aufgaben und Ziele des Projektes ‚Glaube und Schönheit’ – jenem NS-Werk für junge Frauen, das insbesondere der Propagierung eines rassistischen Frauenideals diente – wendet sich Kater dem Thema ‚weibliche Jugend und Sexualität’ zu. Er führt aus, dass es im Krieg zu zahllosen Affären zwischen BDM-Mädchen und Wehrmachtssoldaten bzw. Kriegsgefangenen oder Zwangsarbeitern gekommen sei. Selbst zwölfjährige Mädchen hätten sich „den Soldaten quasi an den Hals“ (S. 97) geworfen. Kater schließt generell auf eine „gesteigerte sexuelle Freizügigkeit“ (S. 95) der Mädchen im Krieg, die er „auf die allgemeine sexuelle Frustration der Mädchen und Frauen“ (S. 95) zurückführt und die bei den Jugendlichen eine „dreist praktizierte Promiskuität“ (S. 94) bis hin zu „heimlicher Prostitution“ (S. 97) bewirkt hätte. Seine Ausführungen illustriert Kater mit zahlreichen, willkürlich aneinander gereihten Beispielen, die eher den Eindruck vermitteln, als wolle der Autor eine voyeuristische Lesart erzielen, als dass sie eine erkennbare Funktion im Rahmen eines Kapitels zum Thema „Eugenik“ haben.

Mit seinem Kapitel über „Dissidenten und Rebellen“ erweitert der Autor das im Titel angekündigte Untersuchungsfeld um widerständige und nonkonforme, z. T. kriminelle Jugendliche. Dabei fragt er sich, ob Letztere gegen das Regime handelten, weil sie „kriminell veranlagt“ (S. 100) [sic!] gewesen seien, oder ob ihr abweichendes Verhalten vom NS-Regime nur als kriminell definiert worden ist. Breiten Raum nimmt die Darstellung der Widerstandsgruppe um die Geschwister Scholl ein, die Kater „zu den wenigen wahren Helden der uneinheitlich organisierten Widerstandsbewegung gegen das NS-Regime“ (S. 113) rechnet. Ferner widmet er sich jenen Gruppen, die oftmals in Anlehnung an bündische Traditionen eine selbstbestimmte, unkontrollierte Jugendzeit verleben wollten. Sie schlossen sich in Cliquen zusammen, nannten sich ‚Blasen’, ‚Meuten’ oder ‚Edelweißpiraten’ und gingen teilweise in offene Konfrontation mit Gruppierungen der Hitlerjugend. Unangepasste Jugendliche aus der oberen Mittelschicht imitierten hingegen einen anglo-amerikanischen Lebensstil, der sich durch eine gewisse Lässigkeit auszeichnete. Auch in der Darstellung der sog. ‚Swing-Jugend’ wirkt der Detailreichtum, mit dem das „lebenssprühende[...] sexuelle[...] Verhalten“ (S. 124) der Jugendlichen rekonstruiert wird – Kater stützt sich hier u. a. auf Gestapoberichte –, befremdlich. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass die nonkonformen Jugendgruppen Unterschiede in ihrer „moralischen Qualität“ (S. 142) aufweisen würden, abhängig von dem Grad ihrer Bereitschaft zur Selbstaufopferung. ‚Swing-Anhänger’ und die Gruppierungen der ‚Blasen’ hätten in dieser „Kategorie [...] offensichtlich keinen Platz, weil sie nach dem Lustprinzip lebten und sich durch die HJ einfach daran gehindert fühlten.“ (S. 142)

Im letzten Kapitel des Hauptteils, das die Fronterfahrungen thematisiert, greift Kater seine Ausgangsfrage nach Komplizenschaft, Verantwortung und Schuld der Jugend wieder auf. Um die „individuelle moralische Schuld“ beurteilen zu können, sei es hilfreich, etwas über die „jeweils vorhandene oder fehlende ideologische Kriegsmotivation der Jugendlichen“ zu wissen, ihre Einstellungen während der vormilitärischen Ausbildung, „ihre Handlungen und Reaktionen im Feld sowie ihre etwaigen Gedanken und Überlegungen angesichts der Niederlage“ (S. 145). Während in den ersten beiden Kriegsjahren die ‚Blitzsiege’ eine weit verbreitete Begeisterung in der Hitlerjugend bewirkt hätten – Kater flicht in dieses Kapitel häufig militärgeschichtliche Passagen ein –, sei dieser Optimismus nach 1941 einer „qualvolle[n] Desillusionierung“ (S. 152) gewichen. Davon waren vor allem jene ehemaligen HJ-Mitglieder betroffen, die als Soldaten an der Front standen, sich im Partisanenkrieg aufrieben oder als Flakhelfer eingesetzt wurden. Letztere Gruppe, die in der Regel aus 15- bis 17-jährigen Schülern bestand, sei durch ihren soldatischen Habitus schon früh in ein „Pseudo-Erwachsenendasein“ (S. 173) gezwungen worden, was zu Statusunsicherheiten, aber auch zu einem spezifischen „Identitätsgefühl“ geführt habe. Durch den beschleunigten Übergang in den Erwachsenenstatus hätten diese Heranwachsenden unter einer „abgebrochenen Jugend“ (ebd.) zu leiden gehabt.

Die aus bildungshistorischer Perspektive aufschlussreiche Fragestellung nach der kollektiven Verarbeitung des Aufwachsens in der NS-Diktatur beschäftigte bereits amerikanische und deutsche Sozialwissenschaftler in den 50-er Jahren. Es war Helmut Schelsky, der das griffige Schlagwort von der „skeptischen Generation“ prägte und damit die allgemeine Politikverdrossenheit jener Personengruppe zu erfassen suchte, die Kater als „NS-regimespezifische Jugendkohorte“ ausmacht und die 1950 etwa zwischen 16 und 34 Jahren alt war. Dass den Jugendlichen im ‚Dritten Reich’ eine Mittäterschaft zugeschrieben werden könne – so bilanziert Kater in seinem Fazit –, stehe für den Historiker außer Zweifel. Selbst wenn sie nur „kleine Rädchen in dem Getriebe des Verfolgungs- und Massenmordsystems und der Kriegsmaschinerie“ waren, so hätten die Jugendlichen doch dazugehört und gemeinsam für die Funktionstüchtigkeit gesorgt. Schwieriger sei indes die Frage nach der „moralischen Schuld“ zu beantworten. Sie sei in Abhängigkeit vom Alter der Jungen und Mädchen, von ihren Positionen innerhalb der NS-Hierarchie und von der „Gesamtmenge der verbrecherischen Aktivitäten, an denen sie beteiligt waren“ (S. 224), zu sehen.

Das Buch erfüllt seinen Anspruch, einen fundierten Überblick über die Hitlerjugend zu geben. Der Band überzeugt in der Vielfalt der angeschnittenen Themenfelder. Neben fakten- und organisationsgeschichtlichen Ausführungen stehen biografische Beispiele, Einzel- und Kollektivschicksale, die Aufschluss über die Funktions- und Wirkungsweise der Kinder- und Jugendorganisation sowie ihrer Anschlussinstitutionen im NS-Staat geben. Kater ist trotz seiner fokussierenden Frage nach der ‚Täterschaft’ um eine ausgewogene Darstellungsweise bemüht. Häufiger verweist er etwa darauf, dass Jugendliche auch Opfer des Regimes und des Krieges waren und in vielfältiger Weise traumatisiert worden sind. Die gut verständliche, detailreiche und durchgängig anschauliche Darstellung ist für Studienanfänger geeignet.

Das Verfahren Katers, biografische Fallbeispiele als pars pro toto zu verwenden, erweist sich jedoch häufig als problematisch, zumal dann, wenn sich der Autor zu fragwürdigen, generalisierenden Pauschalurteilen hinreißen lässt. Besonders deutlich wird dies, wenn sich der Autor zum vermeintlich libidinösen Verhalten der Jugendlichen äußert und dabei ohne eine dringend erforderliche Quellenkritik zeitgenössische Vorurteile reproduziert. Viele Ausführungen sind zudem in einem recht saloppen, unangemessenen Sprachgestus gehalten (z. B. „Hobbyeugeniker Himmler“, S. 138). Katers zentrale Frage nach der „moralischen“ Verantwortung und Schuld der Jugendlichen an der Festigung und den Verbrechen der NS-Herrschaft erscheint aus bildungshistorischer Perspektive eher unergiebig, zumal der Autor eine Begriffsklärung seiner leitenden Kategorien vermissen lässt. Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht geht es jedenfalls weniger um eine normative Bewertung von Einstellungen, Handlungs- und Verhaltensweisen der Jugendlichen, sondern darum, sie als Spiegel von Erziehungs, Sozialisations- und Identitätsbildungsprozessen zu verstehen.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension