Titel
Mein Leben für die Schule.


Autor(en)
Schmidt, Loki
Erschienen
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Dr. Silke Traub, PH Schwäbisch Gmünd

„Mein Leben für die Schule“: Die besondere Beziehung zwischen Loki Schmidt und all dem, was mit Schule zu tun hat, steht im Mittelpunkt des vorliegenden Buches. Dadurch entsteht ein umfassendes Werk über Schule und Bildung, in dessen Zentrum die eigene Schulbiografie Loki Schmidts und ihre Tätigkeit als Lehrerin steht. Von diesem historischen Kontext ausgehend, werden Überlegungen zu Bildungsfragen in einem Gespräch zwischen der engagierten Lehrerin Loki Schmidt und dem Hamburger Pädagogen Reiner Lehberger erörtert. Dieses Gespräch passt auch in die heutige, aktuelle Debatte über Gesamtschulunterricht, Werteerziehung, selbständiges Lernen, die Gestaltung von Lernumgebungen und die Lehrerbildung, wodurch das Buch eben nicht bei einer reinen Beschreibung des Lebens Loki Schmidts „für die Schule“ stehen bleibt, sondern auch Loki Schmidts Auffassung zur heutigen Schuldebatte aufgreift.
Das Buch lässt sich in vier große zeitliche Epochen unterteilen:

(1) Loki Schmidt als Schülerin

Loki Schmidt, geborene Glaser, stammt aus einer Arbeiterfamilie und wächst in Hamburg mit drei weiteren Geschwistern in eher einfachen Verhältnissen auf. Die Eltern sind sehr bildungsorientiert, besuchen Volkshochschulkurse und bieten den Kindern durch Gespräche und Bücher gewisse vorschulische und schulbegleitende intellektuelle Anregungen.
Die Eltern entscheiden sich – angeregt durch sozialdemokratische Einflüsse und durch Kontakte zu reformerischen Lehrkräften sowie zum Leiter der Volkshochschule Kurt Adams - für eine Hamburger Reformschule, so dass Loki und ihre Geschwister in die Schule „Burgstraße“ eingeschult werden. 1925 beginnt dort der erste Schulabschnitt der jungen Loki Glaser.
Von Reiner Lehberger erfährt der Leser Interessantes über die Hamburger Reformschulen: Sie entstanden dort nach der Novemberrevolution 1918 und ihre Gründung war durch die Ablehnung der meist vorherrschenden sog. Buch- und Drillschulen motiviert. Es gab vier Versuchsschulen und acht weitere Schulen, die sich das Ziel gesetzt hatten, ihren Schulalltag und ihre Pädagogik neu zu gestalten. Dieser Kreis von Schulen nannte sich „Hamburger Schulengemeinschaft“. Hamburg galt wegen der Vielzahl an Reformschulen als Zentrum der Reformpädagogik in der Weimarer Republik. Angelehnt an Rousseau und Pestalozzi, so erfährt man, stand in diesen Schulen das Kind im Mittelpunkt der pädagogischen Bemühungen, die sogenannte natürliche Erziehung stand im Vordergrund, was sich in pädagogischen Konzepten wie Gesamtunterricht, Koedukation, Landschulheime, der offenen Gestaltung des Schullebens und anderen wichtigen Bereichen zeigte.
Das pädagogische Konzept der Schule „Burgstraße“ beinhaltete ebenfalls die Koedukation, den Verzicht auf die Prügelstrafe und das Sitzen bleiben. Es zeichnete sich durch eine starke Schulgemeinschaft aus, in der Schüler, Eltern und Lehrer intensiv zusammen arbeiteten und so ein wirkungsvolles Schulleben gestalten konnten. Auch Vater und Mutter Glaser, so erfährt man von Loki Schmidt, brachten viel Zeit, Energie und Kraft für diese Schule auf.
Als Unterrichtsprinzipien galten das allseitige, selbständige und fächerübergreifende Lernen, eine Betonung auf praktische Unterrichtsfächer wie Technik, Kunst und Musik sowie auf die sogenannten Realienfächer.
Außerschulisches Lernen wie Exkursionen, Besichtigungen, Anlegen von Biotopen, Beobachtung von Vögeln usw. wurde vor allem im Schullandheim praktiziert.
Die Zeit in der Schule „Burgstraße“ (Ostern 1925 bis Ostern 1929) war – so kann man es sicher im Nachhinein sehen – das Fundament der schulischen Erfahrungen Loki Schmidts und der Grundstein ihrer eigenen pädagogischen Arbeit.
In der Lichtwarkschule, der einzigen höheren Reformschule in Hamburg, hat Loki Glaser ihre Schullaufbahn fortgesetzt. Diese Schule wurde 1918/19 neu gegründet und bekam ihren Namen von Alfred Lichtwark, einem der bedeutendsten frühen Reformpädagogen aus der sogenannten Kunsterziehungsbewegung. Erster Schulleiter war Peter Petersen, der später in Jena seine berühmte Jena-Planschule gründete und dort sein pädagogisches Konzept umsetzte.
Auch hier galten wieder die pädagogischen Prinzipien eines fächerübergreifenden Unterrichts, des selbständigen und praktischen Lernens sowie einer starken Konzentration auf den musisch-ästhetischen Unterricht. Neben der Jahresarbeit, bei der sich jeder Schüler einem eigenen, nach seinen Interessen ausgewähltem Thema widmen und dieses selbständig bearbeiten konnte, wurden auch hier vielfältige außerschulische Lernorte aufgesucht und sowohl Schwimmen als auch Turnen unterrichtet. Die Lichtwarkschule war auch geprägt von einem guten Verhältnis zwischen den Schülern und den Lehrern. Wahrscheinlich war es auch diesem guten Verhältnis zu verdanken, dass der Geist des Nationalsozialismus in diese Schule nur langsam eindrang und kaum von den Lernenden wahrgenommen wurde. Dies scheint wenig glaubhaft zu sein, wenn man bedenkt, dass die Lichtwarkschule eine freigeistige, eher sozialdemokratisch orientierte Schule war. Hier gehen wohl die Blickrichtung der Schülerin Loki und die tatsächlichen historischen Ereignisse etwas auseinander. Reiner Lehberger ergänzt aber gekonnt die zum Teil doch sehr subjektiv gefärbten Einschätzungen Loki Schmidts anhand von Quellen, aus denen sich die sogenannte „Säuberung“ der Lichtwarkschule durch die Nationalsozialisten rekonstruieren lässt. So musste auch Loki Schmidt die Schule kurz vor dem Abitur verlassen, da diese geschlossen wurde und das Abitur an einer anderen Schule erwerben. Außerdem wurde sie Mitglied im Orchester des BDM, was sie wohl vor weiterer Einflussnahme durch die Nationalsozialisten bewahrte, da sie so von den sonst üblichen BDM-Treffen befreit war.
Neben Loki Schmidt besuchte auch ihr späterer Mann - Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt - mit Begeisterung die Lichtwarkschule. In der Erinnerung von Loki Schmidt schätzten sie beide das selbständige Arbeiten, das Entwickeln eines positiven Selbstbewusstseins, das Wecken von Neugierde und Wissensdurst, das Gemeinschaftsleben und die Gestaltung des Schullebens sowie die Erziehung zu Toleranz als wichtige Bildungsziele der Lichtwarkschule und sehen diese Ziele auch für heutige Schulen als sinnvoll und notwendig an. Nicht zufällig betonen auch aktuelle didaktische Theorien Ziele wie Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidaritätsfähigkeit, die erst durch Toleranz, Selbstbewusstsein und Gemeinschaftsleben entwickelt werden können. Außerdem entsprechen die von Loki und Helmut Schmidt genannten Aspekte auch gegenwärtigen Überlegungen über Ansprüche an eine aktive, soziale, situierte und konstruktivistische Lernumgebung.

(2) Loki Schmidt als Lehramtsstudentin

Im Wintersemester 1938/39 nahm Loki Schmidt ihr Studium an der Hochschule für Lehrerbildung auf. Die Ausbildung war sehr verschult. Das Studium war für die junge Frau trotzdem sehr attraktiv, da es kein Geld kostete und relativ kurz war. Außerdem war der Umgang mit Kindern Loki Schmidt von ihrer Mithilfe in der Schule „Burgstraße“ schon vertraut. Sie schätzte am Lehrerberuf vor allem das gegenseitige Nehmen und Geben. So empfand sie es als eine Bereicherung von den Kindern etwas zu lernen, sich in ihr Denken hineinzuversetzen, was für sie ebenso wichtig war, wie ihr eigenes Wissen an die Kinder weiter zu geben.
Im Studium vorgegeben waren die Fächer Erziehungswissenschaft, Charakter- und Jugendkunde, Vererbungslehre, Rassenkunde, Allgemeine und Besondere Unterrichtslehre sowie zwei Praktika je Semester.
Letztere hält Loki Schmidt auch für die heutige Lehrerausbildung für unverzichtbar. Hier stimmt sie mit vielen Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftlern überein, die es ebenfalls als notwendig ansehen, dass zukünftige Lehrerinnen und Lehrer möglichst früh an Schulen gehen, um dort zu hospitieren, zu unterrichten, das Schulleben aus der Perspektive der Lehrerrolle zu erfahren, um so rechtzeitig erkennen zu können, ob der Beruf geeignet ist oder nicht. Außerdem werden hier erste wertvolle pädagogische Erfahrungen gesammelt.

(3) Loki Schmidt als Lehrerin

Als Lehrerin war Loki Schmidt an verschiedenen Volksschulen eingesetzt. Sie unterrichtete nach reformpädagogischen Vorstellungen. So führte sie Ganztagesbetreuung ein, bezog viele außerschulische Lernorte in den Unterricht ein und betonte das praktische und selbständige Arbeiten. Ein Jahr lang war sie mit einer Gruppe von Mädchen bei der Kinderlandverschickung, wo sie aber eher als Erzieherin denn als Lehrerin tätig war.
Auch nach dem Krieg und ihrer „Entnazifizierung“ unterrichtete sie die erste Klasse einer reformpädagogisch orientierten Grundschule. Sie führte die Klasse bis zum vierten Schuljahr, um auch hier ein Gemeinschaftsleben zu entwickeln. Gesamtunterrichtsthemen (z. B. der Hamburger Hafen), Lehrspaziergänge, der Besuch von Freiluftschulen, das Lernen durch praktisches Tun und selbständige Arbeit sowie der Einsatz vielfältiger Sozialformen bildeten das pädagogische Programm Loki Schmidts. Dazu kam eine intensive Betreuung der Kinder sowie deren Eltern durch viele Elterngespräche und deren Einbeziehung in das Schulleben.

(4) Loki Schmidts Engagement für Schule und Bildung

Nach ihrer aktiven Zeit als Lehrerin besuchte Loki Schmidt Schulen im Ausland, half beim Aufbau einer Schule in Brasilien, übernahm den Vorsitz des Vereins der Freiluftschulen in Hamburg und arbeitete intensiv mit dem Schulmuseum in Hamburg zusammen, wodurch sie auch mit Reiner Lehberger in Kontakt kam.
Zentral war ihre Tätigkeit in der Jury des LERN-WERKS der Zeit-Stiftung. Dabei handelt es sich um ein Projekt, das sich um die Förderung von schwächeren Hauptschülerinnen und Hauptschüler kümmert und bei dem das praktische Lernen und die Arbeit in einem Betrieb im Vordergrund stehen.

Ergänzt werden die Erinnerungen Loki Schmidts durch Hintergrundinformationen Reiner Lehbergers. Diese bleiben allerdings überwiegend im Kontext der Schulbiografie Loki Schmidts und sind deshalb vor allem auf die damalige reformpädagogische Bewegung bezogen.
Wer das Buch „Mein Leben für die Schule“ liest, muss sich also darüber im Klaren sein, dass es sich um eine besondere Schulbiografie handelt, die im Rahmen der reformpädagogischen Bewegung steht und deshalb wahrscheinlich nicht mit anderen Schulbiografien dieser Zeit vergleichbar ist. Aber genau das macht diese Biografie lesenswert, da die Reformpädagogik immer noch auch für aktuelle Fragen der Bildungsdiskussion eine Vorbildfunktion hat und viele ihrer Aspekte in unser gegenwärtiges Schulsystem integriert werden sollen. Entsprechende Schulerfahrungen von Zeitzeugen bzw. deren biographische Reflektionen über Erfahrungen mit frühen Reformschulen haben so durchaus auch einen Gegenwartsbezug.
Allerdings muss dabei auch bedacht werden, dass es sich um individuelle, subjektiv geprägte und möglicherweise auch geglättete Erfahrungen handelt, die nicht immer verallgemeinerbar sind. Trotzdem halte ich die Analyse von Schüler- und Lehrerbiografien für ein interessantes Forschungsgebiet, das auch für die weitere Entwicklung unseres Schul- und Bildungswesen von Nutzen ist.
Loki Schmidt jedenfalls hat auf die Frage, was für Schule, Unterricht und Lehrerbildung wichtig wäre, prompte Antworten zur Hand: Jede Person, die Lehrer/Lehrerin werden möchte, muss mit Kindern umgehen können, die Kinder ernst nehmen und ein natürliches Verhältnis zu ihnen aufbauen. Dies kann nur bedingt erlernt und muss als Fähigkeit deshalb schon relativ früh festgestellt werden. Die zukünftigen Lehrpersonen sollten möglichst rasch mit Praktika beginnen, damit sie selbst entscheiden können, ob sie für den Beruf geeignet sind. Dies gelingt aber nur, wenn die Praktika vor Ort durch erfahrene Lehrer und Hochschuldozenten so gut betreut werden und damit die zukünftige Lehrperson auch danach weiter fachlich und methodisch fundiert ausgebildet werden kann. Hierzu gehört neben fachwissenschaftlichen Kenntnissen vor allem auch die Entwicklung sozialer und methodischer Kompetenzen sowie die Fähigkeit Lernumgebungen gestalten zu können. Außerdem hält Loki Schmidt die von ihr zeitlebens praktizierten Unterrichtsprinzipien des selbständigen, differenzierenden und individualisierenden Lernens für ebenso notwenig wie eine intensive Elternarbeit mit dem Ziel für alle am Schulleben Beteiligten Transparenz herzustellen.
„Mein Leben für die Schule“ ist der umfassende Erfahrungsbericht dieser pädagogischen Richtlinien. Bildungsforschern und –forscherinnen können es als Beispiel einer reformpädagogischen Schul- und Lehrerbiografie analysieren.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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