Titel
La maggiore felicità possibile. Untersuchungen zur Philosophie der Aufklärung in Nord- und Mittelitalien


Autor(en)
Rother, Wolfgang
Erschienen
Basel 2005: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
445 S.
Preis
€ 50,20
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Sylvia Bürkler, Pädagogisches Institut, Universität Zürich

Im Vorwort der Beiträge zur Begriffsgeschichte der italienischen Aufklärung im europäischen Kontext schreiben die Herausgeber (1), dass die italienische Aufklärung begriffsgeschichtlich bisher wenig erforscht wurde. Mit ihrem Band, der eine interdisziplinäre Tagung dokumentiert, leisten sie einen ersten Beitrag zur Klärung. Jetzt, fünf Jahre später, erscheint das Buch, das beabsichtigt, die Forschungslücke zu schließen, die im Jahre 2000 angemahnt und in Ansätzen bearbeitet wurde. Wolfgang Rother untersucht den bis jetzt von der Aufklärungsforschung kaum beachteten Raum – das philosophische Denken in Nord- und Mittelitalien.
Ausgehend von je spezifischen Auffassungen von Philosophie und Philosoph vergleicht Wolfgang Rother Aufklärungsbewegungen in Frankreich, England und Deutschland mit den nord- und mittelitalienischen sowohl in ihrem historischen Verlauf als auch an Figuren, Lebensformen und Stilen. Rother beschränkt sich in seiner Untersuchung auf die historische Definition der Epoche obgleich er anmerkt, dass das philosophische Zeitalter der Aufklärung noch nicht zum Abschluss gekommen ist, weil es seine Ziele noch nicht erreicht hat. Der Autor will nicht ein Handbuch zur Philosophiegeschichte Italiens schreiben, sondern Italiens Philosophie am Grundbegriff ‚Glück’ im aristotelischen Sinne von ‚eudaimonia’ analysieren und darstellen.
In der Einleitung werden die Forschungslücken damit erklärt, dass die Auseinandersetzung um die italienische Aufklärung ausschließlich in Italien selbst stattfand und international keine Bedeutung hatte. Damit im Zusammenhang steht auch, dass die europäische Aufklärungsforschung Italien keine eigenständige Aufklärungsbewegung zugesteht. Des Weiteren wurde der philosophiehistorische Zugang, wenn überhaupt, nur für Süditalien insbesondere für Neapel gesucht. Gerade weil die italienische Aufklärung wenig Beachtung fand, berücksichtigt Rother in seiner Untersuchung sowohl ihre Rezeption als auch ihre Originalität.
Im Folgenden werde ich Rothers Analyse von Glück in der nord- und mittelitalienischen Aufklärung aus einer bildungshistorischen Perspektive betrachten, auch wenn der Fokus seiner Untersuchung nicht auf Erziehung und Bildung gelegt wurde und auch die italienischen Aufklärungsdenker sich selbst primär als Philosophen verstanden.

Ein interessanter Aspekt ist die Erziehung der Mädchen und Frauen (S. 11 ff.). Hier entwickelten die nord- und mittelitalienischen Aufklärungsphilosophen ein eigenständiges Profil. Im europäischen Vergleich gingen die italienischen Philosophen von einem „modernen“ Verständnis der Geschlechterrollen aus: Sie legten die emanzipatorischen Ansätze weder schichtspezifisch aus, noch konzentrierten sie sich ausschließlich auf die Bildung oder auf die private Rolle der Frauen, sondern sie zielten auf eine vollumfängliche Gleichberechtigung der Frau hin. Pietro Verris pädagogische Reflexionen und Ratschläge, die für seine Tochter und nicht für eine Publikation bestimmt waren, sind ein Beispiel für diesen Geschlechterdiskurs und das daraus resultierende Bildungsverständnis. Nach Verri zeigte sich die Geschlechterdifferenz am stärksten in der öffentlichen Meinung. (2) Er sah diese Differenz als sozial bedingt an: Die Frau soll in der Öffentlichkeit dem Bild einer Wohlerzogenen entsprechen; Frauen seien nicht von Natur aus bescheiden, scheu, zurückhaltend, empfindsam und mitleidvoll, sondern würden mit diesen Tugenden den gesellschaftlichen Erwartungen gehorchen. Während der Mann durch seine Karriere im Militär, in der Kirche, in der Wissenschaft oder im Staat einen gewissen gesellschaftlichen Rang erhalte, erreiche die Frau nur durch ihre Tugendhaftigkeit Anerkennung. Verris Absicht mit dem Manuskript an seine Tochter war, dass sie zu einer wohlerzogenen Frau werde. Das Manuskript enthielt auch Ermahnungen, die ausdrücklich an Frauen und Männer gerichtet waren. Verri plädiert aus drei Gründen für eine frühzeitige Bildung der Mädchen. Erstens sieht er in der Bildung der Frauen die grundlegende Bedingung für ihr Glück. Zweitens wird die Frau wegen ihrer Bildung nicht so schnell Opfer von Galanterie und drittens sollte die Frau gewohnt werden, Dinge zu erforschen und lesen zu können für die Zeit nach dem dreißigsten Altersjahr, in der ihre Funktion als Ehefrau nicht mehr zentral ist.
Für Sebastiano Franci liegt die Lasterhaftigkeit der Frau nicht in ihrer Natur, sondern in der fehlenden Chancengleichheit, weil ihr der Zugang zum Studium der Wissenschaften und der schönen Künste verwehrt ist und sie auch keine Ausbildung in den Tugenden erhält. Dieser neue Bildungsansatz ist ein sozialpolitisches Reformkonzept. Wenn Franci gar explizit von politischen, militärischen und ökonomischen Führungsqualitäten der Frauen spricht, wird der Einfluss von Maria Theresia als fortschrittliche Regentin des Herzogtums Mailand sichtbar.

Im Kapitel zur Moralphilosophie (S. 111 ff.) finden sich Ansätze, wie die italienischen Philosophen die Erziehung zur Moral verstanden. Das Ideal des „Christiano Cavaliere“ in Gian Rinaldo Carlis Elementi morali vereint christliche und bürgerliche Normen. Carli unterscheidet zwischen Individual- und Sozialmoral. Glücklich wird das Individuum, wenn es den moralischen Verboten befolgt. Dem zufolge bezeichnet Carli die Individualmoral als „Wissenschaft das Böse zu unterlassen“. Gemäss der Moralkonzeption von Carli ist es notwendig, dass die Individualmoral mit der Sozialmoral, der „Wissenschaft das Gute zu tun“ verbunden wird. Das Glück des Menschen hängt von sozialen Beziehungen ab, die auf Tugenden wie Freundschaft, Achtung, Klugheit, Anstand und Großmut bauen. Diese werden durch das richtige Anwenden des Wissens aus den beiden Ebenen erreicht.
Ähnlich wie Carli bestimmte Verri das Glück als Verhältnis von Vergnügen und Schmerz. Das bestehende Unglück zu reduzieren sei der Weg zum Glück. Weil die richtige Anwendung der Vernunft zur Verminderung des Unglücks beiträgt, soll nach Verri der Vernunftgebrauch früh eingeübt werden. Erst mit Hilfe der Vernunft kann sich der Mensch von Wünschen befreien, die der Vernunft widersprechen, und gleichzeitig sinnvolle Wünsche erfüllen. Als tugendhaftes Handeln erweisen sich solche Handlungen, die im Allgemeinen nützlich für die Menschen sind. Die utilitaristische Moralkonzeption Verris baut auf das Glück der Individuen. Die Summe des Glücks der Individuen wird zum allgemeinen oder öffentlichen Glück. Sowohl Verri wie Carli sehen das Glück als Zusammenspiel von Individual- und Sozialmoral.

Regierungskunst, Reform und Revolution implizieren Bildungskonzepte. Rother beschreibt Verris Reflexionen zur praktischen Regierungskunst (S. 179 ff.). Verri geht davon aus, dass sich eine Reformpolitik nur durchsetzen lässt, wenn sowohl die Regierung als auch die Öffentlichkeit „aufgeklärt“ sind. Nachhaltige Aufklärung werde dadurch erreicht, dass aufgeklärte Männer die Jugend in Finanz- und Staatswirtschaft unterrichten. Die freie Einfuhr von Büchern, Presse- und Diskussionsfreiheit sieht er als zusätzliche Voraussetzung um die Öffentlichkeit für Reformen zu sensibilisieren. Bildung soll das Volk über seine wahren Interessen aufklären, die denen der korrupten Herrscher entgegenstehen. Die Menschen würden sich erst gegen Ungerechtigkeiten auflehnen, wenn sie über ihre eigenen Rechte Kenntnis hätten. Aufklärung könne mittels guter Bücher und durch Philosophen, die Grundsteine legen würden, erreicht werden.

Aus der Vielfalt der bearbeiteten Themen in Rothers Untersuchungen lassen sich noch weitere Problemstellungen für die Erziehungsphilosophie ableiten. Rother leistet damit nicht nur einen beeindruckenden Beitrag für die Philosophiegeschichte, sondern er lädt auch die historische Bildungsforschung ein, sich mit Themen und Problemen der italienischen Aufklärung zu befassen.
Für die Analyse der Vertreter der Mailänder Aufklärung (Cesare Beccaria, Pietro Verri) konnte Rother auf neuere Ausgaben zurückgreifen (S. 19). Der erleichterte Zugang zu diesen Werken ist in ihrer intensiveren Rezeption innerhalb der Forschungsarbeit spürbar, schmälert aber keineswegs die differenzierte und sorgfältige Arbeit. Der Autor hat ein umfangreiches Quellenmaterial, das bislang wenig erforscht war, in ein gut lesbares Werk eingearbeitet. Dabei hat Rother einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der „illuministica italiana“ geleistet und angeregt, die Forschungsarbeit fortzuführen sowie die Originalität der italienischen Aufklärung im internationalen Kontext besser zu würdigen.

Diese Rezension wurde angeregt und betreut von: Rita Casale, Universtiät Zürich, Pädagogigsches Instiut, rcasale@paed.unizh.ch

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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