Synthesen zur US-amerikanischen Wirtschaftsgeschichte von der Kolonialzeit bis zur Gegenwart gibt es manche – schon etwas älter ist die wichtige Darstellung von Jeremy Atack und Peter Passell, die aber auch schon 1940 endet.1 Hinzu kommen einige Sammelwerke aus der eher volkswirtschaftlich orientierten Wirtschaftsgeschichte, die als unverzichtbare Referenz dienen, aber eine monografische Gesamtdarstellung nicht ersetzen können.2 Seit einigen Jahren hat zudem von Seiten der amerikanischen Geschichtswissenschaft eine intensive Diskussion unter dem Label der „New History of Capitalism“ die Rolle der Gewalt, der Sklaverei und des Rassismus als zentrale Deutungsachsen der US-Wirtschaftsgeschichte betont.3 Daher ist es sehr zu begrüßen, dass sich nunmehr Jonathan Levy der Aufgabe angenommen hat, eine Synthese der US-amerikanischen Kapitalismusgeschichte in Angriff zu nehmen – eine Synthese auch in dem Sinn, als er die Ergebnisse aus den verschiedenen methodischen Strömungen der Wirtschaftsgeschichte, sowohl ihrer qualitativen als auch ihrer quantitativen Ausrichtung, rezipiert und in seiner Darstellung verarbeitet. Mit dem Untertitel „A History of the United States“ signalisiert der Autor zugleich, dass das Buch mehr sein will als eine Kapitalismusgeschichte der USA, auch mehr als eine Wirtschaftsgeschichte, sondern vielmehr eine Geschichte der USA vor allem aus dem Blickwinkel ihrer Wirtschaft verfasst. Diesen letzteren Anspruch löst Levy nicht allein dadurch ein, dass er durchgängig gesellschafts- und politikhistorische Themen auf die Wirtschaft rückbezieht (wie etwa die geschlechtsbezogene oder rassistische Diskriminierung), sondern auch durch eine Reihe von klug ausgewählten Fotografien und Gemälden – manche sind bekannt und oft abgedruckt, andere eher entlegen, aber immer können sie bezeichnende Schlaglichter auf die jeweils behandelten Aspekte werfen.
Um die gewaltige Stoffmasse und die von einem Einzelnen kaum mehr zu überblickende Literatur allein der letzten 30 Jahre in den Griff zu bekommen, greift der Autor auf einen schon an anderer Stelle entworfenen Kapitalismusbegriff zurück: „Kapitalismus“ ist nicht in erster Linie das investierte Kapital zur Herstellung beispielsweise von Konsumgütern (das auch bzw. in bestimmten Phasen), sondern ein „Prozess“, ein Vorgang, in dessen Verlauf verschiedene Gegenstände oder (im Fall der Sklaverei) auch Personen in Vermögensgegenstände (assets) umgewandelt werden, an die sich wiederum Erwartungen künftigen Gewinns knüpfen.4 Indem es die Investition (oder – wie beispielsweise in den 1930er-Jahren – auch die ausbleibende Investition) ist, die den Fluchtpunkt des Kapitalismus definiert, weist er auch den finanziellen Dimensionen: dem Kredit, den Geldflüssen, dem Geldsystem generell eine Schlüsselbedeutung zu. Damit eng verbunden durchzieht das Buch die Frage, aus welchen Gründen in welchen Phasen der US-Geschichte die Investitionsneigung der Kapitalbesitzer die Oberhand bekommt über ihre Liquiditätspräferenz – also die Entscheidung, liquide Mittel eher zu horten als zu investieren. Vor allem in der Zeit nach 1980 kam die Möglichkeit hinzu, Kapital zwar zu investieren, es aber auch relativ schnell wieder zu verlagern, sodass das Gesamtsystem anfälliger wurde für rasche und umfassende Kapitalbewegungen – im Unterschied zur Investitionspraxis im industriellen Zeitalter, als das Kapital, einmal investiert, auf lange Zeit in Produktionsanlagen festgelegt war. Konzeptionell verwandt war diese Entwicklung mit den Funktionsprinzipien der IT-Branche, deren Innovationsschwerpunkte sich zur gleichen Zeit immer mehr auf der Absicherung fluiden geistigen Eigentums verlegten, nicht mehr auf greifbares Anlagevermögen. Wie liquide oder illiquide ein asset war, hing nicht zuletzt von dem Vertrauen („confidence“) in das Potential dieses Vermögensgegenstandes ab, künftig Gewinne hervorzubringen. Zu den Schlüsselkapiteln zählt daher auch für das frühe „age of commerce“ der literaturhistorische Exkurs im fünften Kapitel, in dem Levy den „confidence man“ (der Begriff geht wesentlich auf einen Roman Herman Melvilles zurück) als Sozialfigur des Hochstaplers vorstellt. Diese Figur verkörpert gewissermaßen eine seit dieser Zeit immer mehr prämierte Möglichkeit, Vertrauen in die eigene Fähigkeit zu wirtschaftlichem Erfolg zu schaffen, wie wenig fundiert bei genauerer Betrachtung diese Fähigkeit auch sein mochte. Somit ist das „confidence game“ eines der durchgängigen Leitmotive des Buches, bis hin zur Finanzkrise 2007/08.
„Kapital“ und damit auch „Kapitalismus“ nimmt bei Levy im Verlauf der Kolonial- und US-Geschichte vier verschiedene Ausprägungen an, denen auch die Grobgliederung des Buches folgt: „Age of Commerce“ (1660–1860), „Age of Capital“ (1860–1932), „Age of Control“ (1932–1980) und „Age of Chaos“ (seit 1980). Untergliedert sind diese großen Abschnitte wiederum in insgesamt 22 Unterkapitel. Freilich lassen sich diesen einzelnen Großphasen spezifische wirtschaftliche Verhaltensweisen nicht eindeutig und ausschließlich zuordnen: Mit Blick auf die alte Frage zum Beispiel, ob die Landwirtschaft der nördlichen Kolonien bereits auf Marktprinzipien ausgerichtet war, identifiziert Levy sowohl Aspekte der auf allmähliches Wachstum gerichteten Produktion, durchaus auch für den Markt, auf der einen Seite, dann aber auch das der Spekulation, die dann eher auf sich verselbständigende Dynamiken der finanziellen Ebene des Agrarkapitalismus gerichtet ist – beides konnte sich auch parallel in einem Farmbetrieb finden.
Es ist nicht möglich, alle Einzelthemen, die Levy innerhalb der 22 Kapitel ausführt, in dieser Rezension vorzustellen. Levy nimmt die ganze Bandbreite wirtschaftlichen Handelns in den Blick, und fast alle Themen, die man in einer solchen Darstellung erwarten würde, behandelt er, oft auch in pointierter Zuspitzung – von der Frage nach der Marktorientierung der Landwirtschaft im frühen 19. Jahrhundert über die Industrialisierung (und nicht nur auf diesem Gebiet einschließlich der regionalen Differenzierung), die Weltwirtschaftskrise, die Deindustrialisierung und die Abwanderung der dynamischen Unternehmen vor allem an die Westküste im Zusammenhang mit der Entstehung der Computerindustrie seit den 1960er-Jahren. Auch die urbane Dimension erhält große Aufmerksamkeit, beispielsweise mit Blick auf das gerade auch hinsichtlich der umwelthistorischen Implikationen gut untersuchte Chicago, dann aber auch für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts Houston, eine Stadt, der Levy in ihrer fluiden Strukturlosigkeit gewissermaßen emblematische Bedeutung für die Dynamiken des Kapitalismus seit 1980 zuweist. Vermisst hat der Rezensent eigentlich nur eine ausführlichere Behandlung von wissenschaftsbasierten Innovationen, dann im 20. Jahrhundert auch die Rolle der Forschungs- und Entwicklungsabteilungen großer Unternehmen (wie überhaupt die unternehmenshistorische Perspektive ein weniger großes Gewicht erhält, sieht man von Prozessen wie dem „great merger movement“ oder dem Fordismus ab). Dass Levy Forschung und Entwicklung nicht intensiver behandelt, ist schade, denn wegen des Verfassungsrangs des Erfindungsschutzes und damit der auch auf diesem Feld großen Bedeutung des Rechts wäre dies ein Aspekt gewesen, der zu seinem Zugriff ansonsten gut gepasst hätte: Denn der wirtschaftsbezogenen Gesetzgebung und Rechtsprechung gibt er ansonsten breiten Raum – bis hin zur „Law & Economics“-Denkschule, die ab den 1980er-Jahren zunehmend einflussreich war.
Manche Debatten werden sehr knapp abgehandelt, manche Inhalte werden mehr angerissen als vertieft (die Implikationen der „cotton gin“ beispielsweise) – aber interessierte Leser:innen werden im außerordentlich dicht gesetzten Anmerkungsapparat (über 100 von gut 900 Seiten) rasch den Einstieg in die Spezialliteratur finden. Dass nicht jede Kontroverse im Text abgebildet ist, sich aber zumeist in den Fußnoten findet, hat auf der anderen Seite den großen Vorteil, dass der Text eine wirkliche Monographie aus einem Guss ist, strukturiert durch die horizontale Grobgliederung und vertikal den gesamten Text durchziehende Leitmotive wie insbesondere die Frage nach den unterschiedlichen Ausprägungen der Liquidität (besonders im 20. Jahrhundert, und hier besonders für die Zeit nach dem Ende des „Age of Control“ um 1980). Diese klare Struktur kombiniert Levy mit einer Reihe von aufschlussreichen Detailbeobachtungen – nicht zuletzt deshalb stellt das Buch auch eine beeindruckende kompositorische Leistung dar. Besonders zu begrüßen ist es, dass Levy auch auf die letzten Jahrzehnte vor der Finanzkrise 2007 intensiv eingeht, auch die Logik der ihr vorausgehenden Immobilienkrise schlüssig erläutert und in sein übergreifendes Konzept des „confidence game“ einordnet.
Es handelt sich somit um ein außerordentlich verdienstvolles Buch, das für geraume Zeit Maßstäbe für eine synthetisierende Behandlung der US-Wirtschaftsgeschichte setzen wird.
Anmerkungen:
1 Jeremy Atack / Peter Passell, A New Economic View of American History from Colonial Times to 1940. Second Edition, New York 1994.
2 Stanley Engerman u.a. (Hrsg.), The Cambridge Economic History of the United States, 3 Bde., Cambridge 1996–2000; Louis P. Cain u.a. (Hrsg.), The Oxford Handbook of American Economic History, 2 Bde., Oxford 2018.
3 Sven Beckert / Seth Rockman (Hrsg.), Slavery’s Capitalism. A New History of American Economic Development, Philadelphia 2016.
4 Jonathan Levy, Capital as Process and the History of Capitalism, in: The Business History Review 91 (2017), S. 483–510.