F. Hinz u.a. (Hrsg.): Controversial Histories

Cover
Titel
Controversial Histories. Current Views on the Crusades


Herausgeber
Hinz, Felix; Meyer-Hamme, Johannes
Reihe
Engaging the Crusades (3)
Erschienen
Abingdon 2020: Routledge
Anzahl Seiten
140 S.
Preis
£ 45.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gion Wallmeyer, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Die Geschichtsdidaktik hat seit den 1980er-Jahren begonnen, die zeitgenössische Wahrnehmung von Geschichte und historischen Ereignissen stärker zu reflektieren. Paradigmatisch dafür ist der von Jörn Rüsen geprägte Begriff der Geschichtskultur, unter dem er die „[...] praktisch wirksame Artikulation von Geschichtsbewusstsein im Leben einer Gesellschaft [...]“ versteht.1 Daran anknüpfend wurden etwa die populäre Rezeption mittelalterlicher Themen wie der Staufer oder die Geschichtsbilder in Medien wie Schulbüchern erforscht.2 Felix Hinz und Johannes Meyer-Hamme nehmen sich nun eines historischen Phänomens an, das spätestens seit den Ereignissen von 2001 in die Geschichtslehrpläne zurückgekehrt ist und sich durch Filme wie Kingdom of Heaven (2005) auch popkultureller Beliebtheit erfreut: Die Kreuzzüge. In ihrem neuerschienenen Handbuch „Current Views on the Crusade“ gehen sie zusammen mit anderen Historiker:innen dem Platz der Kreuzzüge in den Geschichtskulturen der modernen Nationen Europas und des Nahen Ostens nach.

Das Handbuch beginnt mit einer methodischen Einleitung, in der die Herausgeber das Konzept des Bandes vorstellen und den Begriff der Geschichtskultur einführen (S. 1–20). Den Hauptteil bilden 27 Fallstudien, die jeweils auf zwei bis drei Seiten die wechselhafte Stellung der Kreuzzüge in der Geschichtskultur einer Nation nachzeichnen und dabei üblicherweise sowohl die Perspektive der Wissenschaft als auch außerakademische Sichtweisen berücksichtigen (S. 21–97). Dabei ist es den Herausgebern gelungen, viele große Namen aus der Kreuzzugsforschung wie Michel Balard oder Jonathan Philips für ihr Projekt zu gewinnen. Auch die Auswahl und Anzahl der behandelten Nationen weiß zu überzeugen, deckt sie doch einen repräsentativen Querschnitt derjenigen Länder ab, deren Bevölkerung die Kreuzzüge als Teil ihrer Geschichte begreift.3 Dazu zählen nicht nur naheliegende Kandidaten wie England (S. 59–61), Spanien (S. 53–55) oder das gleich doppelt vertretene Frankreich (S. 29–32 u. 70–71), sondern auch Länder wie Syrien (S. 62–63) oder Estland (S. 89–90), die das Ziel von Kreuzzügen waren. Allein Südosteuropa ist mit Ausnahme Griechenlands (S. 42–44) sowie der Türkei (S. 47–49) nur unzureichend in der Sammlung vertreten; es fehlen vor allem Beiträge zu den Nationalstaaten, die auf dem Gebiet des mittelalterlichen Dalmatiens und Romaniens entstanden sind.

Die einzelnen Fallstudien fallen erwartbar heterogen aus und legen ihren Schwerpunkt auf unterschiedliche Ereignisse bzw. Persönlichkeiten der Kreuzzugbewegung(en). Je nach Region stehen meist entweder die Kreuzzüge in den Nahen Osten, ins Baltikum oder auf der iberischen Halbinsel im Zentrum. In anderen Geschichtskulturen wie etwa der dänischen (S. 64–66) oder irischen (S. 67–69) spielen Kreuzzüge dagegen gegenwärtig keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Die Mehrzahl der Beiträger:innen beleuchten auch den historischen Wandel von Geschichtskulturen, beispielsweise die Ostexpansion des Deutschen Ritterordens, die nach 1945 in Deutschland kaum noch Beachtung gefunden hat (S. 84–86). Trotz ihrer unterschiedlichen Ausrichtung, weisen die einzelnen Erzählungen zahlreiche gemeinsame Fixpunkte auf, die auch schon vielfach von der Kreuzzugsforschung diskutiert worden sind.4 Dazu zählen etwa die Interpretation des Kreuzzugs und der Kreuzfahrerreiche vor dem Hintergrund des Kolonialismus (u.a. S. 64) oder moderner Formen des religiösen Fundamentalismus (u.a. S. 79), ebenso wie die Bedeutung von Kreuzzugsnarrativen für die Nationenbildung im 19. und 20 Jahrhundert (u.a. S. 56). Daneben kommen auch neuere Tendenzen zur Sprache, darunter vor allem die Verwendung des Kreuzzugsbegriffs durch rechtsextreme und islamfeindliche Gruppierungen oder auch Einzelpersonen wie den norwegischen Massenmörder Anders Breivik (u.a. S. 23).

Aus den informativen Beiträgen sticht allein die Darstellung der russischen Geschichtskultur von Vardan Ė. Bagdasarjan negativ heraus. Entgegen großer Teile der Forschung5 bestimmt er den „Kreuzzug“ als westliches Projekt zu Erlangung der Weltherrschaft, das sich über das Dritte Reich hinweg bis in die Gegenwart hinein verfolgen lasse. Russland dagegen „[…] was objectively (sic!) the main obstacle to the implementation of the projects of world political domination. Moreover, it presented an alternative to the world in regard to the projects of world empire building put forward by the west.” (S. 26) Immer wieder verlässt Bagdasarjan die Beobachterperspektive des Historikers und wird zum politischen Aktivisten. Eine analytische Distanz zur eigenen Geschichtskultur, welche in den anderen Beiträgen mit wenigen Ausnahmen (u.a. S. 70) durchweg erkennbar ist, fehlt hier gänzlich. Man mag dafür auch die Herausgeber in der Verantwortung sehen, die in ihrer Einleitung die einzelnen Geschichtsbilder als „[…] subjective impression of the narrator […]“ (S. 5) bezeichnen und damit einer evidenzbefreiten Ideologisierung der Geschichte im Vorfeld nicht ausreichend entgegengewirkt haben.

Die Fallstudien werden von den Herausgebern in einem abschließenden Resümee zusammengeführt, das allerdings vor allem die Alteritäten der beschriebenen Geschichtskulturen in den Vordergrund stellt (S. 98–118). Im letzten Teil des Handbuchs widmen die Herausgeber sich dann dem Mehrwert der gesammelten Darstellungen für den Schulgeschichtsunterricht (S. 119–133). Dafür schlagen sie eine komparative Herangehensweise vor, die auf den von Meyer-Hamme in vorherigen Publikationen ausgearbeiteten drei Dimensionen historischen Lernens basiert. Konkrete Vergleichspunkte für die Schüler:innen wären den Herausgebern zufolge etwa die Rolle der Kreuzzüge in den politischen Debatten der Gegenwart, die Ursachen für die Popularität bestimmter Geschichtsbilder oder die Frage, inwiefern die einzelnen Narrative sich durch die Quellen verifizieren lassen (S. 130–131). Ungeachtet der vorgenannten Probleme ist das Handbuch also eine gewinnbringende Lektüre für Geschichtslehrer:innen in einer Zeit, in der im Schulunterricht unterschiedliche Geschichtskulturen und historische Narrative aufeinanderprallen.

Anmerkungen:
1 Jörn Rüsen, Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über die Geschichte nachzudenken, in: ders. / Klaus Füßmann / Heinrich Theodor Grütter (Hrsg.), Historische Faszination. Geschichtskultur heute, Köln 1994, S. 3–26, hier S. 5.
2 So u.a. Isabelle Luhmann, Die Staufer in der populären Geschichtskultur. Ein Rezeptionspanorama seit den 1970er Jahren (Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen 20), Bielefeld 2021; Sabrina Schmitz-Zerres, Die Zukunft erzählen. Inhalte und Entstehungsprozesse von Zukunftsnarrationen in Geschichtsbüchern von 1950 bis 1995 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 18), Göttingen 2019.
3 Behandelt werden Ägypten (Taef Kamal Al-Azhari), Belgien (Thérèse de Hemptinne), Dänemark (Iben Fonnesberg Schmidt), Deutschland (Malte Prietzel), Estland (Anti Selart), Finnland (Miikka Tamminen), Frankreich (Michel Balard/Guy Lobrichon), Georgien (Mamuka Tsurtsumia), Griechenland (Nikolaos G. Chrissis), Irland (Conor Kostick), Israel (Sophia Menache), Italien (Luigi Rosso), Jordanien (Mazhar Al-Zo’by), Malta (Emanuel Buttigieg), Niederlande (Jaap van Moolenbroek), Norwegen (Kristin B. Aavitsland), Polen (Karol Polejowski), Portugal (Paula Maria de Carvalho Pinta Costa), Russland (Vardan Ėrnestovič Bagdasarjan), Schweden (Kurt Villads Jensen), Spanien (Luis García-Guijarro Ramos), Syrien (Mohamad Isa), Türkei (Mehmet Ersan), Vereinigte Staaten (Mark Gregory Pegg), Vereinigtes Königreich (Mike Horswell u. Jonathan Philips) u. Zypern (Nicholas Coureas).
4 So u.a Christopher Tyerman, The Debate on the Crusades, 1099–2010 (Issues in Historiography), Manchester 2010; Kristin Skottki, Christen, Muslime und der Erste Kreuzzug. Die Macht der Beschreibung in der mittelalterlichen und modernen Historiographie (Cultural Encounters and the Discourses of Scholarship 7), Münster 2015.
5 Siehe dazu insbes. Jean Flori, Pour une redéfinition de la croisade, in: Cahiers de civilisation médiévale 47/188 (2004), S. 329–349; Jonathan Riley-Smith, What were the Crusades?, 4. Auflage, Basingstoke 2009.

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