S. Dafinger: Die Lehren des Luftkriegs

Cover
Titel
Die Lehren des Luftkriegs. Sozialwissenschaftliche Expertise in den USA vom Zweiten Weltkrieg bis Vietnam


Autor(en)
Dafinger, Sophia
Reihe
Transatlantische Historische Studien 59
Erschienen
Stuttgart 2020: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
362 S.
Preis
€ 66,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cécile Stehrenberger, Interdisziplinäres Zentrum für Wissenschafts- und Technikforschung, Bergische Universität Wuppertal

An welchem Punkt ist eine „Bevölkerung“ durch todbringende und disruptive Ereignisse derart „demoralisiert“, dass sich ihre Angehörigen „irrational“ oder „deviant“ verhalten oder sich gegen ihre Regierung auflehnen? Mit solchen Fragen beschäftigen sich wissenschaftliche „Expert/innen“ nicht erst seit der COVID-19-Pandemie. Ihnen gingen schon von der US-Armee finanzierte Sozialwissenschaftler/innen nach, die sich während des Zweiten Weltkrieges, des Koreakrieges und des Vietnamkrieges mit den sozialen und psychischen Auswirkungen von Brand- und Sprengbomben, Napalm und Entlaubungsmitteln auf Zivilist/innen befassten. Mit dem von diesen „Experten des Luftkriegs“ generierten Wissen, seinen Ursachen und Produktionsmodi sowie mit seiner Wirkungsgeschichte setzt sich die auf ihrer Dissertation basierende Monographie von Sophia Dafinger auseinander. Die Studie leistet einen wichtigen Beitrag zur Kultur-, Wissens- und Erfahrungsgeschichte von Krieg im 20. Jahrhundert sowie spezifischer zu den neueren Cold War Studies und zur Geschichte der Sozialwissenschaften nach 1945.

Das Buch ist in sieben Kapitel unterteilt. Nach der Einleitung behandeln Kapitel 2 und 3 den United States Strategic Bombing Survey (USSBS), ein wissenschaftliches Großprojekt, das am 9. September 1944 ins Leben gerufen wurde. Ziel des USSBS war es, kurz vor Kriegsende in Europa Wissen zu gewinnen, das für die Gefechte im Pazifik einsetzbar sein sollte. Konkret galt es, die Bombardierungen deutscher Städte zu evaluieren, um zu eruieren, ob für den Krieg gegen Japan eine Strategieänderung angezeigt wäre. Von besonderem Interesse waren dabei die Folgen der Bomben auf den Durchhaltewillen der Bevölkerung. 1945 wurde das Projekt um eine Untersuchung der Effekte der über Japan abgeworfenen Bomben erweitert. Wie Dafinger demonstriert, ging es dabei letztlich um die Frage, ob sich der Luftkrieg „gelohnt“ hatte. Zur Datenerhebung führten „field teams“ in den besetzten Gebieten Interviews mit gewöhnlichen Zivilist/innen, aber auch mit politischen Entscheidungsträgern wie Albert Speer durch. In der Datenerhebung und Auswertung bedienten sich die Mitarbeiter/innen der wichtigsten Methoden der modernen Sozialforschung und trugen zu deren Weiterentwicklung bei. In ihren Ergebnissen konstatierten sie unter anderem, dass die bekriegten Wirtschaftssysteme und Gesellschaften erstaunlich robust waren. Laut Dafinger konnten die Wissenschaftler/innen keine eindeutige Kausalverbindung zwischen einer etwaigen Schwächung der „Kriegsmoral“ und den Bombardierungen nachweisen. Dennoch behaupteten sie, der Luftkrieg sei für den alliierten Sieg zentral gewesen und die Air Forces müssten mit Blick auf zukünftige Bedrohungen ausgebaut werden. Wie Dafinger feststellt, hatte der USSBS einen nachhaltigen Einfluss auf die Debatten um den Luftkrieg. Diverse Abteilungsleiter des Projekts gelangten später in führende politische Positionen und als stellvertretender Verteidigungsminister plädierte etwa Paul Nitze im Vietnamkrieg dafür, dort wie im Zweiten Weltkrieg Schlüsselindustrien zu bombardieren. Der USSBS diente dabei als eine Art „Blaupause für den Luftkrieg“ (S. 128). Gleichzeitig stellte er den Auftakt für eine langfristige Kooperation zwischen Wissenschaft, Politik und Militär in der Luftkriegsforschung dar. Weiter vorangetrieben wurde diese unter anderem im Human Resources Research Institute der US Air Force (HRRI) und der „Research and Development Corporation“ (RAND Corporation).

Mit den empirischen Untersuchungen, die an diesen Forschungseinrichtungen zu den Folgen der US-amerikanischen Bombardements im Koreakrieg und im Vietnamkrieg vorgenommen wurden, beschäftigt sich Dafinger in Kapitel 4 und 5 ihres Buches. Sie zeigt darin, wie sich in der dynamischen Forschungslandschaft des Kalten Krieges die These, der Luftkrieg sei ein angemessenes Mittel der (auch „psychologischen“) Kriegsführung, lange halten konnte. Der Erfolg von Bombenangriffen ließ sich steigern, so die etablierte Meinung, indem besonders verletzliche Punkte im gesellschaftlichen Gefüge und den Verhaltensmustern des Feindes identifiziert wurden, um mit diesem Wissen seinen Zusammenbruch präzise herbeizuführen. Die hierfür generierten Erkenntnisse der Wissenschaftler/innen von HRRI und RAND reproduzierten oft ein (rassistisches) othering und eine Entmenschlichung des Feindes, die für die Rationalisierung und Legitimierung des Krieges selbst elementar war. Zwar gab es schon früh und auch intern Kritik an einer solchen Forschungsausrichtung. Erst nach 1964 kam es innerhalb der RAND Corporation jedoch zu regelrecht polarisierend divergierenden Beurteilungen des Vietnamkrieges und zur Rolle von Wissenschaftler/innen in ihm. Diese führten allerdings zu keinem Ende der Luftkriegsexpertise, sondern gingen mit einem „Generationenwechsel“ (S. 315) und Umorientierungen einher.

Das sechste und vor dem Resümee letzte Kapitel greift vorherige Beobachtungen zur grundsätzlichen „Logik“ von Expertise im Luftkrieg auf und macht sie zum Gegenstand weiterer abstrahierender Überlegungen. Behandelt wird auch der Umgang mit Protest (etwa aus der Friedensbewegung) und Gegenwissen. Dafinger zeigt hier erneut auf, wie zentral Außendarstellungen und das (auch moralische) Selbstverständnis der Wissenschaftler/innen für die Wissensproduktion waren. Aber auch die Denkfigur der „lessons learned“ sowie die Funktionsweise des „Vergessens“ (S. 304) von Wissensbeständen, die die Luftkriegsführung in Frage stellten, werden hier nochmals beleuchtet.

Die Lehren des Luftkriegs bestätigt viele der wichtigsten Erkenntnisse, welche die Forschungsliteratur zur Geschichte der Sozialwissenschaften nach 1945 in den letzten zehn Jahren vorgelegt hat.1 Dazu gehört, dass der Systemkonflikt die Forschung zwar zutiefst geprägt, aber nicht völlig determiniert hat und dass Politik und Wissenschaft einander als „Ressourcen“ dienten. Auch Dafinger identifiziert für die Expertise zum Luftkrieg ein wechselseitig produktives Verhältnis zwischen beiden. Aus diesem ging nicht nur nützliches Wissen für die Luftkriegsführung hervor, sondern es führte auch zu einem Erstarken gewisser Forschungsansätze, etwa der Behavioral Sciences. Wie Dafinger darlegt, verstanden die Wissenschaftler/innen, die sich der Bombengewalt widmeten, ihre Gestaltungsansprüche trotzdem – oder gerade deshalb – als unpolitisch und ihre Tätigkeit als objektiv und wertneutral.

Ganz im Sinn der jüngeren Forschung zu den Cold War Sciences zeigt Dafinger, dass diese auch hinsichtlich des Luftkriegs von Zielkonflikten, Ambivalenzen und Ambiguitäten gekennzeichnet waren. Die Autorin arbeitet hier ausgezeichnet heraus, wie über Forschungsmethoden gestritten wurde, Expert/innen oft keine eindeutigen Aussagen machten und dass just darum ihre Forschungsresultate so vielfältig nutzbar waren. Aber auch der rekonstruierte Umgang dieser Expert/innen mit radikaler Kritik, die zwar Erschütterungen produzierte, aber selten Revolutionen, ist hochinteressant.

Das Buch macht deutlich, dass die starken methodischen und inhaltlichen Kontinuitäten der Forschung zum Luftkrieg viel mit personellen Kontinuitäten zu tun hatten. In ihren komplizierten Netzwerken gelang es einigen Forscher/innen, lange Zeit überaus einflussreich zu bleiben, ohne dabei von ihren Grundannahmen über Krieg, Gesellschaft und Wissenschaft substanziell abzurücken. Dazu gehörte auch, dass sie gewisse Innovationen zuließen oder gar beförderten. Dass Dafinger die Entwicklung der Luftkriegsforschung immer wieder aufrollt, indem sie den Geschichten solcher und anderer Akteure folgt, ist eine große Stärke ihres Buches. Sie situiert die Praktiken, Selbstverständnisse und Habitus der porträtierten Forscher/innen in ihren jeweiligen kulturellen beziehungsweise historischen Kontexten, wozu unter anderem die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges gehört. Damit liefert sie für zukünftige Arbeiten sehr anschlussfähige Einblicke darin, wie Persönliches und Politisches miteinander verschränkt im Wissenschaftlichen wirkmächtig werden.

Dafingers sorgfältige und wohl formulierte Analyse des reichhaltigen Quellenmaterials überzeugt und macht ihr Buch zu einer Bereicherung der oben erwähnten Forschungsfelder. Bei vielen Aspekten der Geschichte der Luftkriegsexpertise, die angesprochen werden, bestehen Anknüpfungsmöglichkeiten für weiterführende Forschungsvorhaben – etwa zu ihrer geschlechtergeschichtlichen Dimension. Besonders spannend ist die Lektüre des Buches, wenn sie mit derjenigen von Studien kombiniert wird, die sich diversen „Forschungstechniken“ von RAND-Expert/innen stärker wissenschaftsanalytisch nähern oder den Krieg/Wissenschafts-Nexus breiter bearbeiten.2

Insgesamt kann Die Lehren des Luftkriegs allen an der Geschichte und Gegenwart des Verhältnisses von Wissen, Politik und Massengewalt interessierten Leser/innen empfohlen werden. Dies allein schon wegen der Wirkung, welche die rekonstruierten Fragestellungen und Wissensbestände bis heute auch jenseits des Militärischen entfalten. Zu denken ist hier nicht zuletzt an den eingangs angesprochenen (aktuellen) Umgang mit verschiedenen zivilen Katastrophen und Krisen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Fabian Link, Sozialwissenschaften im Kalten Krieg. Mathematisierung, Demokratisierung und Politikberatung, in: H-Soz-Kult, 15.05.2018, https://www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte-3095 (14.01.2021).
2 Christian Dayé, Experts, Social Scientists, and Techniques of Prognosis in Cold War America, Cham 2020; M. Susan Lindee, Rational Fog. Science and Technology in Modern War, Cambridge, Mass. 2020.

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