S. Greer u.a. (Hrsg.): Using and Not Using the Past after the Carolingian Empire

Titel
Using and Not Using the Past after the Carolingian Empire. c. 900–c.1050


Herausgeber
Greer, Sarah; Hicklin, Alice; Esders, Stefan
Erschienen
London 2019: Routledge
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
£ 104.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christine Kleinjung, Historisches Institut, Universität Potsdam

Der vorliegende Band basiert auf einer Förderung eines HERA-Projekts zu „After Empire: Using and Not Using the Past in the Crisis of the Carolingian World c. 900–1050”, das durch das Horizon 2020 Programm der EU gefördert wurde. Er reiht sich ein in die Debatten um den Charakter der post-karolingischen Zeit und die Bewertung der sogenannten Nachfolgereiche im 10. und frühen 11. Jahrhundert. Diese Bewertung hat viel damit zu tun, wie man das Karolingerreich bzw. die karolingischen Reiche sieht: in den Meistererzählungen der älteren deutschen und französischen Forschung etwa als Zeit einer effektiven Verwaltung, hohen Schriftlichkeit und Nutzung von Amtsträgern durch die Königsherrschaft, dem dann mit dem 10./11. Jahrhundert eine Zeit der feudalen Anarchie, Schriftlosigkeit, Fehden und Ermächtigung lokaler Adliger ungehindert von einer königlichen Zentralgewalt gegenübergestellt wurde. Die Zeit dazwischen wurde als Zeit des Verfalls interpretiert mit einem fast zwangsläufigen Weg wahlweise zur feudalen Anarchie (wie etwa in der französischen Forschung) oder zur Herrschaft ohne Staat und Staatlichkeit (wie in der deutschen Forschung). Die internationale Frühmittelalterforschung hat sich im Laufe des letzten Jahrzehnts immer mehr von dieser Gegenüberstellung entfernt und eine Betrachtung des 10. Jahrhunderts und der post-karolingischen Zeit aus eigenem Recht gefordert.1 So sehen sich die Herausgeberinnen Sarah Greer und Alice Hicks in ihrer Einführung den Band diesem Paradigmenwechsel der europäischen Frühmittelalterforschung verpflichtet. Es wird eine Abkehr gefordert vom 10. Jahrhundert als Schlachtfeld der Diskussionen über das Entstehen und die Natur des westlichen Europas und seiner Nationalstaaten. Das 10. und 11. Jahrhundert ist somit nicht mehr in erster Linie als Zeit der Geburten Deutschlands und Frankreichs zu sehen, sondern als eine Zeit, die eine eigene Bewertung verdient jenseits von nationalen oder teleologischen Narrativen.2

Ziel des Bandes ist es somit, die Fluidität und Offenheit des 10. und frühen 11. Jahrhunderts aufzuzeigen und zwar mit Fokus auf dem Umgang mit der Vergangenheit. Wie haben die Zeitgenossen als Individuen oder Gruppen im post-karolingischen Europa die Vergangenheit wahrgenommen und für Sinnstiftungen der Gegenwart genutzt? Bewusst wird dabei die individuelle und lokale Perspektive verfolgt, so dass sich nicht nur auf die karolingischen Kernlande, sondern mit Frankreich, Deutschland, England, Katalonien und Italien auf ein breites geographisches Gebiet konzentriert wird.

Die erste Sektion zur Geschichtsschreibung unter dem Schlagwort „Past Narrativs“ beginnt mit dem grundlegenden Beitrag von Geoffrey Koziol über die im 10. Jahrhundert erfolgte Neukonstruktion von Geschichtsbildern, die sich von Herrschern und Reichen ab- und zu Narrativen der Kirchengeschichte hinwandte. In den folgenden Kapiteln dieser Sektion wird diese Perspektive auf regionale Überlieferung verschiedener sogenannter karolingischer Nachfolgereiche angewandt und aufgezeigt, welche Sinnstiftungen Autoren unter dem Eindruck des Endes des Karolinger vornahmen bzw. welche Rolle Könige und Herrscher überhaupt noch in Vergangenheitserzählungen spielten: Edward Robertson präsentiert die Darstellung von Bischofsabsetzungen in der Geschichte des Reimser Bistums von Flodoard, Maja Maskarinec die Chronik des Benedikt von Soracte und Lenneke von Raaij die Hagiographie im Bistum Trier. Die Sektion schließt mit einer Meta-Ebenen-Reflexion von Stuart Airlie über die Bedingungen, unter denen moderne Historiker:innen mittelalterliche Geschichte schreiben, und der Frage, wie sehr unser Bild der Post-Karolingerzeit daher bis heute von dem Genre der Biographie geprägt ist (die wiederum immer im engen Zusammenhang mit den eigenen Biographien der Historiker:innen steht).

Die zweite Sektion zum Thema „Inscribing memories“ stellt die Medien und Techniken in den Mittelpunkt, mit denen Elemente der karolingischen Vergangenheit benutzt, abgewandelt oder neu organisiert wurden. Die Beiträge beschäftigen sich mit Gestaltung von Handschriften in Katalonien (Matthias Tischler), der Rolle von Königinnen in den liturgischen Litaneien der Karolinger- und Ottonenzeit im Vergleich (Megan Welton), Formularen von Heiratsurkunden im Notizbuch Ademars von Chabannes (Philippe Depreux), der Ansippung an die Karolinger in Genealogien des 11. Jahrhunderts (Sarah Greer) und der Wiederbelebung der karolingischen Eidesleistungen unter den Saliern (Stefan Esders).

In der abschließenden dritten Sektion geht es um „Recalling communities“, also um die Herstellung von Gemeinschaft und Zugehörigkeit unter den politischen Bedingungen der Post-Karolingerzeit: Maximilian Diesenberger verfolgt in einem übergreifenden Beitrag Vergemeinschaftung und Gruppensolidarität und zeigt, dass die Sprache der Solidarität sich im 10. Jahrhundert auf kleinere Gruppen oder Verwaltungseinheiten bezog und nicht auf die gens francorum oder den populus christianus. Die folgenden Kapitel fokussieren auf regionale oder lokale Beispiele. Behandelt werden Bischöfe im post-karolingischen Italien (Jelle Wasenaar), italienische Gelehrte und ihr Wissenstransfer (Giorgia Vocino), Klosterreformen im Bistum Reims und Aushandlungen über das Wesen des benediktinischen Mönchtums (Steven Vanderputten) sowie Exkommunikationsurkunden zwischen 900 und 1050 (Sarah Hamilton).

Der Band schließt mit einem Index. Es fehlt zwar eine Zusammenfassung, allerdings lässt sich dies aus dem Charakter der Publikation erklären. Das verbindende Element ist in erster Linie die Perspektive, weniger die Geschlossenheit des Themas. Daher liegt der besondere Mehrwert generell in der konsequenten Absage an alte Forschungsnarrative und in der angewandten Methodik.

In einer solchen Rezension können leider nicht alle Beiträge so gewürdigt werden, wie sie es verdienten. Während die erste und die dritte Sektion eine hohe thematische und methodische Kohärenz zeigen, wirkt die zweite Sektion eklektischer. Viele Beiträge enden explizit mit Fragen für zukünftige Untersuchungen, z.B. warum Ademar von Chabannes karolingische Heiratsurkunden überhaupt in seine Notizensammlung aufnahm, ob Konrad II. gezielt karolingische Eide nutzte zur Legitimation seiner Herrschaft, ob der Biograph Wipo seine Gelehrsamkeit und Vertrautheit mit karolingischer Vergangenheit zeigen wollte oder ob Richers Äußerungen zu Klosterreformen im Bistum Reims überhaupt einen Einfluss auf die Realität hatten.

Die Ergebnisse der Beiträge lassen sich in die aktuellen Forschungen zum 10. und 11. Jahrhundert einordnen. Sie zeigen wie auch die Diskussionen über das Bischofs- und Abtsbild eine Fragmentierung und Konzentration auf lokale und regionale Gruppen und Gemeinschaften. Die Bezugspunkte in der Geschichtsschreibung änderten sich, Verweise auf die karolingische Vergangenheit und karolingische Praktiken wurden den neuen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen angepasst. In der Trierer Hagiographie waren nicht mehr Könige, seien es Merowinger oder Karolinger, die mächtigen Akteure, sondern die Bischöfe. Soziale Bezugspunkte waren weniger der Königshof als vielmehr die Kathedrale, das eigene Kloster, die Grafschaft. Bei der Deutung der jeweiligen Gegenwart spielte aber die karolingische Vergangenheit oft eine wichtige Rolle, sei es in Form von Eidformularen, Schriftformen, Litaneien oder Urkunden. Flodoard von Reims etwa ordnete Dokumente über Bischofsabsetzungen aus der Vergangenheit neu und individuell an und schuf so eine eigene Geschichtserzählung unter dem Eindruck aktueller Konflikte um den Bischofsstuhl. Exkommunikationsurkunden wiederum sind zwar ein Phänomen des 10. Jahrhunderts, aber sie beziehen sich auch auf die karolingische Praxis und das damalige Bischofsbild.

Insgesamt zeigt der Band, wie fruchtbar und gewinnbringend eine Untersuchung der post-karolingischen Zeit sein kann, die diese Phase nicht als Zwischenzeit betrachtet, sondern ihr ein hohes Maß an Eigenständigkeit zubilligt. Diese Perspektive macht auf weitere Studien zu lokalem und bisher noch vernachlässigtem historischem Material gespannt.

Anmerkungen:
1 Vgl. schon Timothy Reuter, Introduction: reading the tenth century, in: The new Cambridge medieval history 3 (1999), S. 1–24; Christine Kleinjung / Stefan Albrecht (Hrsg.), Das lange 10. Jahrhundert. Struktureller Wandel zwischen Zentralisierung und Fragmentierung, äußerem Druck und innerer Krise, Regensburg 2014.
2 Vgl. Charles West, Reframing the Feudal Revolution. Political and Social Transformation Between Marne and Moselle, c.800–c.1100, Cambridge 2013.

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