M. Endreß u.a. (Hrsg.): Karl Marx im 21. Jahrhundert

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Titel
Karl Marx im 21. Jahrhundert. Bilanz und Perspektiven


Herausgeber
Endreß, Martin; Jansen, Christian
Erschienen
Frankfurt am Main 2020: Campus Verlag
Anzahl Seiten
596 S.
Preis
€ 34,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tim Rojek, Philosophisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Am 5. Mai 2018 jährte sich der Geburtstag von Karl Marx zum zweihundertsten Mal. Zu den zahlreichen Veranstaltungen, die in diesem Jahr durchgeführt wurden, um dem Jubilar und seinem Werk, seiner Rezeption und deren Verhältnis zu gedenken, gehörte auch eine internationale Tagung in Trier. Diese trug den Titel „Karl Marx 1818–2018. Konstellationen, Transformationen und Perspektiven“. Zusammen mit einer zwei Semester umfassenden Ringvorlesung im Jubiläumsjahr bildete sie die Grundlage für den vorliegenden Sammelband, der verspricht, nicht nur Bilanz zu ziehen, sondern auch neue Perspektiven zu eröffnen.

Bereits in ihrer Einleitung weisen die Herausgeber darauf hin, dass durch das Ende der Systemkonfrontation nach 1989 „die Beschäftigung“ mit Marx „auf eine neue Ebene gehoben und viele neue Fragen aufgeworfen“ (S. 8) worden seien. Dadurch habe sich die Forschung von einer mit quasi-religiösen Heilserwartungen überfrachteten Aneignung und von politischen Kämpfen bestimmten Auseinandersetzung befreit. Hinzu komme, dass durch die weitgehend abgeschlossene Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) erstmalig eine editionsphilologisch vorzüglich erstellte Quellenbasis vorhanden sei. Diese verspreche der zukünftigen Forschung Aufschluss jenseits „der zuvor bestimmenden Orthodoxie und ihres Dogmatismus“ (ebd.). Für die Herausgeber zählt Marx zu jenen Intellektuellen, „für die eine Beschäftigung mit sozialen, politischen und historischen Fragestellungen ohne philosophische Fundierung undenkbar war“ (S. 10). In diesem Sinne setzen sich die Herausgeber und damit die Beiträge auch keine bestimmte disziplinäre Brille auf, sondern der Band trägt der Vielfalt der Bezüge und Wirkungen in seiner interdisziplinären Ausrichtung Rechnung. So lassen sich die Beiträge den Sozial- und Erziehungswissenschaften in ihrer ganzen Breite sowie der Philosophie, Theologie und den Geschichtswissenschaften zurechnen.

In der Einleitung wird Marx als Sozialwissenschaftler mit systematischen wie historischen Interessen auf Basis philosophischer Wissens- und Mittelbestände skizziert. Eine Rollenzuschreibung, die es erlaubt, die disziplinäre Mannigfaltigkeit des Bandes zu umgreifen. Dabei bleibt offen, inwiefern eine solche Zuweisung Marx’ Selbstverständnis träfe. Zudem wird hervorgehoben, der Band wolle sich explizit Marx in Abkehr vom Marxismus zuwenden. Positiv hervorzuheben ist zudem, dass der Band – einsteigerfreundlich – knapp über sein Leben und Werk informiert.

Auf die Einleitung folgen dann die fünf Hauptteile oder Sektionen des Bandes. Die vier Beiträge des ersten Teils sind unter dem Titel „Ideengeschichtliche Kontexte“ zusammengefasst und im Wesentlichen historisch ausgerichtet, so die beiden einleitenden Beiträge der beiden Marx-Biographen Gareth Stedman Jones und Jonathan Sperber, während sich die folgenden zwei Beiträge mit dem Verhältnis Marx’ zur Ökologie sowie mit seiner Religionskritik befassen. Der zweite Teil steht unter dem Titel „Marx und die Arbeiterbewegung“ und umfasst fünf Beiträge, die sich aus historischer Perspektive in differenzierter Weise mit den Aspekten von Marx’ Engagement in der Arbeiterbewegung und deren theoretischen und begriffsgeschichtlichen Voraussetzungen befassen. Der dritte Teil beinhaltet drei Beiträge aus philosophischer und sozialwissenschaftlicher Perspektive, die sich mit „Recht und Rechtssystem“ befassen sollen. Dabei ist es bedauerlich, dass kein Beitrag aus explizit rechtshistorischer Perspektive vertreten ist. Der vierte Teil mit fünf Beiträgen widmet sich „Kapitalismusanalyse und Kapitalismuskritik“ und damit einem Herzstück des Marx’schen Werks. Der fünfte und abschließende Teil bietet nochmals fünf Beiträge, die unter den Titel „Nach Marx“ gestellt sind und sich teils mit der Genese des Marxismus befassen, teils Ausblicke auf verschiedene Rezeptionen von Marx bieten, ohne dabei zu beanspruchen, die Vielzahl an (weltweiten) Bezügen und Rezeptionen abdecken zu wollen. So findet sich etwa kein Artikel zur Rezeption in der Deutschen Demokratischen Republik, dafür aber ein guter Artikel über die Rezeption Marx’ in der Kinderladen-Szene um 1968 in Westdeutschland.

Die Titel der fünf Teile geben, wie sich bei der Lektüre der 22 Beiträge zeigt, aber eher eine grobe Orientierungsrichtung für die Aufsätze vor und auch eine erschöpfende Abdeckung der Aspekte der jeweiligen Themenbereiche wird nicht beansprucht. So hätte man einige der Beiträge mit guten Gründen in andere Sektionen einsortieren können. Der einleitende Aufsatz von Gareth Stedman Jones beispielsweise, der sich auf lesenswerte Weise mit dem Wandel der Perspektiven auseinandersetzt, die Marx eingenommen hat, um das (potenzielle) Ende des Kapitalismus zu beschwören, hätte wohl auch in der vierten Sektion verortet werden können. Gewinnbringend für eine selektive Lektüre sind jedenfalls die knappen Einleitungen, welche die Herausgeber jedem der fünf Teile vorangestellt haben und die einen raschen Zugriff auf potentiell relevante Beiträge zulassen.

Im hier gegebenen Rahmen kann nicht auf jeden Beitrag eingegangen werden. Stattdessen gilt es, eine Bilanz der Marx-Forschung, wie sie sich im Band niederschlägt, zu ziehen und knapp darzulegen, welche Perspektiven dieser Stand eröffnet.

Die Aufsätze selbst variieren in der Länge von knapp zehn bis zu über 50 Seiten, was einerseits der Kohärenz hinsichtlich Einheitlichkeit und Ausführlichkeit in der thematischen Behandlung Abbruch tut, andererseits aber jeder Autorin und jedem Autor den Freiraum gibt, Thesen auch in einigem Umfang zu entfalten, wenn dies nötig ist. Gerade die ausführlichen Beiträge, etwa der Wilfried Nippels über die Genese erster Marx-Gesamtausgaben, -Einführungen und der Debatten um dieselben und damit die Genese des Marxismus, stellen für jene, die sich quellenkritisch mit Marx auseinandersetzen möchten, eine reichhaltige Fundgrube dar. Überhaupt ist den Herausgebern darin Recht zu geben, dass der Band „vom Gedanken einer konsequenten Historisierung der Arbeiten von Marx mit dem Ziel einer Untersuchung ihrer systematischen Tragfähigkeit“ (S. 11) angeleitet ist. Dabei sehen die meisten Beiträge erfreulicherweise von einer vorschnellen Aktualisierung ab und scheuen auch die kritische Auseinandersetzung mit dem Gegenstand unter systematischen Gesichtspunkten nicht. So etwa die Beiträge von Hannes Giessler Furlan, der das Problem der Implementierung einer sozialistischen Wirtschaftsordnung erneut kritisch aufgreift, oder auch der Beitrag von Axel Honneth zur Empirie, die der Marx‘schen Theorie zuwiderläuft. Nach Ansicht des Rezensenten liegen die Stärken des Bandes vor allem in den historischen Beiträgen, die Marx jenseits der Rezeptionslinien der letzten 130 Jahre überhaupt wieder zugänglich machen und damit ermöglichen, systematische Fragen noch einmal neu zu stellen.

Die zweite große Stärke des Bandes – die Vielfalt an Perspektiven – zeigt zugleich aber auch die größte Schwäche. Man wünscht sich als Leser gelegentlich eine stärkere Reflexion auf Erkenntnisinteressen, Verfahrensweisen und eigenständige Terminologie, um die Beiträge selbst auch adäquat miteinander vermitteln zu können. So stellt etwa im Beitrag zu transnationalen Kapitalisten von Karin Fischer die Unterscheidung zwischen „Klasse an sich“ und „Klasse für sich“ (S. 550) einen zentralen Bezugspunkt ihres Rückgriffs auf Marx dar, während diese Unterscheidung selbst im lesenswerten Beitrag von Michael Vester als „Erfindung des Politbüros der KPdSU“ (S. 394) ausgewiesen werden soll. Auch greifen, trotz der einleitenden Hervorhebung der neuen MEGA-Ausgabe als wertvoller Textgrundlage, zahlreiche Beiträge dennoch auf die Marx-Engels-Werke-Ausgabe (MEW) zurück oder gar kommentarlos auf Texte wie die „Deutsche Ideologie“, obgleich die Editoren der MEGA diesen Text als Artefakt und Konstrukt marxistischer Editoren ausgewiesen haben. Auffällig ist auch, dass gerade für die systematischen und theoretischen Rekonstruktionen zumeist ohne größere historische Kontextualisierung auf Briefe, Zeitungsartikel und Monographien unterschiedlichster Zeiten und Situationen zurückgegriffen wird, als ginge es nach wie vor darum, die einheitliche theoretische Sichtweise Marx’ deutlich zu machen. Auch der relativ unvermittelte Rückgriff auf einige Marx-Zitate – ohne Marx’ Argumente für die vorgetragenen Aussagen zu rekonstruieren – zur Kritik gegenwärtiger Geschehnisse oder Praxen, wird wohl nur diejenige überzeugen, die schon überzeugt ist. Insgesamt stellen diese autoritativen Rückgriffe ohne analytischen Zugriff aber deutlich die Ausnahme dar.

Ob es sich bei den genannten Punkten wirklich um Schwächen des Bandes handelt, oder vielmehr Schwächen der Marx-Forschung Stand 2020, bleibe dahingestellt. Lehrreich ist die Abbildung solcher Brüche, Inkohärenzen und Konfliktlinien in methodischer, terminologischer und quellenkritischer Basis allemal, macht sie doch sichtbar, welche Aufgaben die Marx-Forschung in der Zukunft anzugehen haben wird. Versteht man den Band als Momentaufnahme der Erträge der Forschung an Marx und mit Marx seit dem Zusammenbruch des Ostblocks und nicht als finale Aufbereitung, dann wird deutlich, dass eine Aufgabe darin liegen wird, nicht nur aus vielfältigen Perspektiven auf das Werk von Marx zuzugreifen, sondern auch eine interdisziplinäre Verständigung über diese Zugangsweisen selbst zu entwickeln, um neben der historischen auch die systematische Marx-Forschung mit neuen Impulsen zu versehen. Dies könnte wohl gerade für die eher systematisch und aktualisierend ausgerichteten Marx-Interessenten das Potential bieten, sich ihrem Stoff auf der Höhe der historischen Aufbereitung zuzuwenden.

Zweifellos hält der Band ob seiner Vielfalt für nahezu jede Interessentin lehrreiche und bedenkenswerte Beiträge bereit und erlaubt zudem einen faszinierenden Blick auf den aktuellen Stand der Marxforschung und belohnt seine Leserinnen und Leser nicht zuletzt mit zahlreichen Blicken auf einen Marx jenseits der etablierten Klischees.

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