T. Eble: Gelehrter Eklektizismus und Schulpolitik

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Titel
Gelehrter Eklektizismus und Schulpolitik. Ideologie und Unterrichtsorganisation im Spanien des konservativen Liberalismus (1834–1900)


Autor(en)
Eble, Till
Erschienen
Berlin 2020: Peter Lang
Anzahl Seiten
530 S.
Preis
€ 84,95
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Rebekka Horlacher, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Die umfangreiche Studie von Till Eble zur Schulgeschichte Spaniens im 19. Jahrhundert wurde 2020 als Dissertation an der Berliner Humboldt-Universität verteidigt. Die Publikation beschäftigt sich mit einem in der deutschsprachigen Bildungsgeschichte eher wenig beachteten Fallbeispiel und muss nur schon dafür Interesse wecken. Lob verdient die sorgfältige Arbeit sowohl wegen des Einbezugs gedruckter als auch archivalischer Quellen sowie der breit gefächerten Darstellung der Konzepte und Umsetzungsstrategien zur Einrichtung eines Massenschulwesens in Spanien. Geleitet wird die Studie von der These, dass „Schule […] ein zentraler, institutionalisierter Ort [ist], innerhalb dessen die Wertevermittlung und Sozialisierungsmodi moderner Gesellschaften ausgehandelt und operationalisiert werden“. Diese Funktion, so die These, sei ein „relativ neuartiges Phänomen, welches erst im Zuge des Aufbaus und der Etablierung moderner, staatlicher Massenschulwesen Konturen bekam“ (S. 17).

Vor diesem Hintergrund ist nicht nur das 19. Jahrhundert als Zeitabschnitt, in dem sich dieses Massenschulwesen ausbildete, besonders einschlägig, sondern auch die „analytische Kopplung zu der politisch-ideengeschichtlichen Transformation emergierender […] liberaler Regime“. Gerade diese Herrschaftsformen hätten ein virulentes Interesse daran gehabt, die „politischen und sozioökonomischen Wandlungsprozesse“ und die „Stabilisierung der neuen Regime“ mit Hilfe von Schule zu begleiten, zu steuern und zu sichern (S. 18). Entsprechend können die damit verbundenen Absichten an der Einrichtung und Strukturierung des Massenschulwesens „abgelesen“ werden, weshalb die „schulpolitischen und administrativen Prozesse“ und die „unterrichtsorganisatorischen Arrangements“ (S. 20) in den Blick genommen werden.

Die Arbeit verfolgt einen „dreidimensionalen Analysefokus“, indem sie „das philosophisch-ideologische Identitätsgebäude“, die „materielle Übersetzung entsprechender programmatischer Prämissen“ sowie den „entsprechenden Mechanismus der Normbildung, -transmission und -kontrolle“ in den Blick nimmt (S. 21). Während sich das erste der fünf inhaltlichen Kapitel mit der „ideologischen Strukturierung staatlicher Erziehungssysteme im gouvernementalen Liberalismus“ beschäftigt und damit eine generelle Perspektive auf das Fallbeispiel entwickelt, beinhalten die folgenden vier Kapitel eine historische Rekonstruktion des Fallbeispiels unter Einbezug des dreidimensionalen Analysefokus. Sie thematisieren den konservativen Liberalismus der moderados in Spanien (Kap. 2), den erziehenden Staat als schulpolitische Dimension (Kap. 3), der Organisation des Unterrichts (Kap. 4) sowie den Inspektionswesen als „Schlüsselinstanz“ in der Umsetzung von politischen Normvorgaben in die schulische und unterrichtliche Praxis (Kap. 5). Ein kurzes Schlusswort (S. 415–427) rundet die Publikation ab.

Das erste Kapitel erläutert die konzeptionelle Struktur, welche die historische Untersuchung leitet, d.h. den verwendeten Ideologiebegriff, die theoretischen Ansätze, welche zur Analyse der ideologischen Strukturierung herangezogen wurden und das Verständnis des politischen Liberalismus. Das zweite Kapitel zeichnet den historischen Kontext der Einführung von liberalen Strukturen nach, rekonstruiert die ideologischen Bezugnahmen des konservativen Liberalismus und zeigt, wie die damit verbundenen Vorstellungen im politischen System umgesetzt wurden. Daran anschließend widmet sich das dritte Kapitel der auf diesen Prämissen fußenden Einrichtung des nationalen Massenschulwesens, wobei diese Entwicklung in die bestehende Forschungsliteratur eingebettet wird, die für die Perspektive einer „politisch-ideologischen Strukturierung schulpolitischer Prozesse“ eine empfindliche Forschungslücke aufweise, weshalb das „öffentliche Massenschulwesen […] in seinen politisch-rechtlichen, diskursiven wie praktischen Dimensionen“ untersucht wird (S. 134). Dabei zeigt sich für das 19. Jahrhundert eine „Prinzipienverschiebung“ von einem „eher ‚national‘ orientierten Erziehungssystem des Cádizer Liberalismus“ hin zu einem „stärker ‚staatlichen‘ Schulsystem des moderantismo“, wobei sich letzteres an den Bedürfnissen der politischen Eliten ausrichtete und das Schulsystem sozial stratifizierte. Während sich die höhere Bildung an besitzende Schichten wandte und einer „ideologisch bevorzugen Klientel einer […] Mittelklasse vorbehalten war“, diente die elementare Bildung der „Stabilisierung des neuen Regimes“ durch eine „flächendeckende Moralisierung“ und eine Bereitstellung von „basalem Wissen“ (S. 185). Die Frage nach der Organisation von Unterricht und den verwendeten Lehrmethoden wurde deshalb – und das zeigt das vierte Kapitel – gemäß den gesellschaftlich-politischen Zielsetzungen der verschiedenen Schulstufen diskutiert und implementiert.

Mit Blick auf das Erkenntnisinteresse der Dissertation, mit verschiedenen Perspektiven die Wirkmechanismen von politischen Ideen im Bereich Schule zu untersuchen, ist das fünfte, seitenzahlmäßig umfangreichste Kapitel, das sich dem Inspektionswesen widmet und sowohl qualitativ als auch quantitativ argumentiert, sicher das interessanteste. Das Inspektionswesen als Transmissionsorgan zwischen staatlichen Vorgaben und schulischer Praxis ist sehr geeignet, die im Erkenntnisinteresse formulierte Forschungsperspektive zu untersuchen. Eble zeigt in diesem Kapitel, dass in den Quellen zum Inspektionswesen der „normierende Anspruch“ dieser Behörden auf die Schule sichtbar werde und dass die „Provinzinspektoren […] in diesem Prozess […] als die zentralen Schlüsselakteure der Kontrolle und Transmission der etablierten Normen“ erscheinen (S. 411). Es habe sich aber auch eine „enorme Spannbreite an Handlungsmustern“ gezeigt (S. 412). Auf der Ebene der Infrastruktur habe sich die Regierung wegen der prekären Finanzlage sehr viel weniger wirkmächtig in Szene setzen können als auf der inhaltlich-ideologischen Ausrichtung des Unterrichts. Dem professionalisierten Inspektionswesen wird eine hohe Bedeutung für das „berufsstrukturierende Bewusstsein der spanischen Primarschullehrerschaft“ zugesprochen, was eine bestimmte Normsetzung unabhängig von den routinierten Praktiken der Vergangenheit und den strukturellen Rahmenbedingungen ermöglicht habe (S. 413). In diesem Kapitel zeigen sich denn auch die empirischen und konzeptionellen Stärken der Publikation, da hier an einem konkreten Fallbeispiel, das aus unterschiedlichen methodischen Perspektiven angegangen wird, die Wirkmechanismen zwischen politischen Ideen und deren Implementierung konkret nachgezeichnet werden und damit auch die Situationsbedingtheit der Umsetzungen deutlich gemacht werden kann.

Während die im ersten Kapitel gemachten Überlegungen zum Ideologiebegriff als auch zu den theoretischen Ansätzen per se plausibel sind, stellt sich die Frage, inwiefern die politische Kategorie des Liberalismus tatsächlich eine Hilfe darstellt, um die Mechanismen der Bildung, Vermittlung und Kontrolle von Normen im Bereich von Schule und Unterricht in den Blick zu nehmen. Schon seit längerer Zeit weisen konkrete Fallstudien darauf hin, dass eine an der politischen Ideengeschichte orientierte Zeiteinteilung wenig bis keine Bedeutung für die Geschichte der Schule hat(te) und dass die politische Orientierung sich auch nur sehr bedingt auf die Vorstellung von Schule und den Unterricht als Praxis niedergeschlagen hat1. Selbstverständlich hätte mit den auf das erste einleitende, theoretische Kapitel folgenden vier materiellen Kapiteln gezeigt werden können, dass die politische Orientierung sehr wohl bedeutsam für die Ausformulierung und Ausgestaltung von Schule im Spanien des 19. Jahrhunderts gewesen ist, womit die Fallstudie ein Argument für die Bedeutung der politischen Verfasstheit für die Organisation und Struktur von Schule geworden wäre. Allerdings wird eine solche Bedeutung eher behauptet, als dass sie im Detail tatsächlich nachgezeichnet wird. Das liegt vermutlich auch daran, dass das Forschungsvorhaben insgesamt als monumental bezeichnet werden muss: Die vier auf die Schulgeschichte Spaniens fokussierten Kapitel hätten durchaus auch je zu einem eigenständigen Dissertationsvorhaben entwickelt werden können. Zudem stellt sich die Frage, weshalb das Konzept der „Nation“ als ideologisches Konstrukt und normative Orientierung, auf die hin das Massenschulwesen des 19. Jahrhunderts ausgerichtet war, keine Beachtung findet und nicht als das eigentlich entscheidende normative Konzept in die Diskussion eingeführt wird. Spanische Liberale verfolgten andere Ziele als französische, deutsche oder englische Liberale, eben weil sie sich als Teil einer Nation und nicht als Teil einer allgemeinen Idee des Liberalismus verstanden.

Wegen seiner umfassenden Perspektive erweist sich die Dissertation aber leider als eine verpasste Chance, das „Highlight“ der Publikation, das fünfte Kapitel, unter dem Ballast der ebenso kenntnisreich wie detailliert dargestellten Forschungsliteratur und der Fülle an Themen und Informationen herauszuheben. Eine Fokussierung auf das Inspektionswesen und eine von Nebenschauplätzen entschlackte Erzählweise hätte dem Anliegen der Arbeit, eine quellenfundierte Verschränkung von unterschiedlichen Analyseperspektiven auf die Geschichte von Schule darzustellen, gutgetan und wäre eine überzeugende Darstellung der Wirkmechanismen von Normen und Praktiken geworden. So zeigt die Publikation aber vor allem, wie unglaublich viel an Quellen und Forschungsliteratur Eble verarbeitet hat, was eine Vielzahl an Anknüpfungspunkten für Forschende bietet, die an der Schul- und Bildungsgeschichte Spaniens interessiert sind. Die ebenfalls vorhandenen theoretischen und damit allgemeineren Anknüpfungspunkte bleiben unter der Fülle an Informationen aber eher verborgen, wobei auch die zusammenfassenden Abschnitte am Ende der Kapitel 2 bis 5 da nicht wirklich Abhilfe zu leisten vermögen. Weniger wäre in diesem Fall wohl tatsächlich mehr gewesen.

Anmerkung:
1 David Tyack / William Tobin, The „Grammar“ of Schooling. Why Has it Been so Hard to Change?, in: American Educational Research Journal 31 (1994), no. 3, S. 453–479; Wolfgang Neugebauer, Niedere Schulen und Realschulen, in: Notker Hammerstein / Ulrich Herrmann (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Band II, München 2005, S. 213–261; Daniel Tröhler, Schulgeschichte und Historische Bildungsforschung. Methodologische Überlegungen zu einem vernachlässigten Genre pädagogischer Historiographie, in: Daniel Tröhler / Andrea Schwab (Hrsg.), Volksschule im 18. Jahrhundert. Die Schulumfrage auf der Zürcher Landschaft in den Jahren 1771/1772, Bad Heilbrunn 2006, S. 65–93.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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