H. Hochmuth u.a. (Hrsg.): Weimars Wirkung

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Titel
Weimars Wirkung. Das Nachleben der ersten deutschen Republik


Herausgeber
Hochmuth, Hanno; Sabrow, Martin; Siebeneichner, Tilmann
Reihe
Geschichte der Gegenwart (23)
Erschienen
Göttingen 2020: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
232 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Verena Wirtz, Historisches Institut, Universität der Bundeswehr München

Der Sammelband „Weimars Wirkung“ geht auf eine öffentliche Ringvorlesung des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam, des Lehrstuhls für Neueste und Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie der Stiftung Topographie des Terrors zurück, die 2018/19 in Kooperation mit dem Deutschen Historischen Museum und der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur veranstaltet wurde. Anlässlich des hundertjährigen Gründungsjubiläums hatte sich die Vortragsreihe zur Aufgabe gesetzt, den „Ort Weimars in der deutschen Zeitgeschichte“ zu diskutieren.1 Wie die Herausgeber im Vorwort schildern, war das Interesse der Berliner:innen so groß, dass die Veranstaltungsreihe kurzerhand ins Zeughauskino verlegt und innerhalb nur eines Jahres zur Publikation vorbereitet wurde.

Diese Rahmenbedingungen seien anfangs erwähnt, um die breitenwirksame Anlage des Bandes zu erklären, was bekanntlich Vor- und Nachteile hat. Auf der einen Seite stellen hier Koryphäen der Weimar-Forschung komprimiert und in leicht verständlicher Sprache ihre oft über Jahrzehnte gesammelten Erkenntnisse auch einem fachfremden Publikum zur Verfügung, das nicht erst seit 2019 medial wie politisch erneut mit der Frage konfrontiert wird, ob nicht die vermeintliche Versagensgeschichte der ersten deutschen Demokratie Rezepte zur Rettung der derzeit kriselnden Demokratien – im Idealfall weltweit – bereithält. Die Publikation verdankt sich also nicht allein oder ausschließlich dem Jubiläumskontext, sondern einem breiten gesellschaftlichen Bedürfnis nach historischer Orientierung und politischer Selbstvergewisserung. „Viele Menschen“, so Frank Bösch einleitend zu seinem Beitrag, fühlten sich zurzeit „an Weimar erinnert“ (S. 197), weshalb es angezeigt sei, dem weitverbreiteten Verdacht, wir lebten wieder in „Weimarer Verhältnissen“, historisch auf den Grund zu gehen.

Diese Zielsetzung erklärt zum anderen – und darin besteht ein Nachteil der öffentlichkeitswirksamen Ausrichtung des Bandes –, warum sich neun von zwölf Beiträgen thematisch mit der „Doppel- und Dauerkrise“ der ersten deutschen Demokratie beschäftigen. Denn anders als es der Titel suggeriert, fokussiert sich der Sammelband weder auf das „Nachleben“ Weimars im engeren Sinne noch spiegelt er die gesamte Wirkungsbreite wider. So sind im ersten Teil unter der Überschrift „Republikgeschichten“ vor allem politische „Verfallsgeschichten“ versammelt, die den Formen und Folgen der Bürgerkriegs-Gewalt (Tilmann Siebeneichner), dem vielgestaltigen, aber ungebrochenen „Erbe des Weimarer Antisemitismus“ (Stefanie Schüler-Springorum), dem Volksgemeinschaftsdenken (Michael Wildt) oder dem Volksparteienstatus der NSDAP (Andreas Nachama) nachspüren. Auch die „Wirkungsgeschichten“ im zweiten Teil des Bandes nehmen hauptsächlich die „Schattenseiten“ der Weimarer Demokratiegeschichte in den Blick und werden lediglich mit ein paar „Lichtblicken“ der Weimarer Kultur kontrastiert. Rezeptionsformen und -bereiche jenseits dieser klassischen Dichotomie werden dadurch außer Acht gelassen oder weniger konsequent und historisch umfassend untersucht, als es Martin Sabrow in seiner Einleitung ankündigt (S. 27).2

Vielleicht um die Farbpalette des schwarz-weißen Weimar-Bildes zu erweitern, ist erfreulicherweise noch ein sehr differenzierter Beitrag Henrik Bispincks zum wechselvollen Erbe der Reformpädagogik inmitten des Kalten Krieges in den Wirkungsteil aufgenommen worden. Dort wird die „golden-glänzende“ Seite der Republik ansonsten vom Berliner Stadt- und Zeithistoriker Hanno Hochmuth repräsentiert, der die Anfänge des populärkulturellen Babylon-Berlin-Mythos in „Weimar“ selbst verortet, während Annette Vowinckel dem „visuellen Erbe“ der Republik – dargestellt am Beispiel ihrer politischen Bildberichterstattung – in der BRD und in Teilen auch in der DDR auf den Grund geht und dabei eine „lange Linie“ von den 1920er- bis zu den 2020er-Jahren zieht.

Insgesamt richten die Beiträge ihren Blick also weniger auf das „Nachleben“ Weimars, als auf Entwicklungen, die wie im Falle der „Spaltung der Linken“ bei Gerd Koenen im oder kurz nach dem Ersten Weltkrieg ihren Anfang nahmen und sich mehr oder weniger bis heute fortsetzten. Dazu zählt auch Claudia Webers an der eher unbekannten Luftfahrtgesellschaft DERLUFT exemplifizierte, deutsch-russische Beziehungsgeschichte, die 1941 zwar ein unternehmensgeschichtliches Ende fand, bis heute jedoch nichts an der Komplexität ihrer wirtschaftsstrategischen Zweckverbundenheit verloren hat.

Dies verdeutlicht zum einen, dass die Weimarer Republik aus wissenschaftlicher Sicht keine eindeutigen Lehren bereithält. Ihre Vielgestaltigkeit lässt naturgemäß nur mehrere und nicht selten konträre Schlussfolgerungen zu. So würdigen Nachama und Bösch die Kohäsions- und Integrationskraft der NSDAP als „quasi erste Volkspartei“ (S. 199), während Wildt gerade den exklusiven Charakter des NS-Volksgemeinschaftsbegriffs betont (S. 85). Es trotz der bundesdeutschen „Sehnsucht nach Einheit“ – so der Titel von Frank Böschs Aufsatz – bei uneindeutigen Befunden zu belassen, ist jedoch keine wissenschaftliche Steilvorlage für willkürliche Instrumentalisierungen. Dies zeigt auch das obige Beispiel, entzieht sich doch Wildts These gerade aufgrund ihrer Ambivalenz jedweder aktuellen politischen Anwendbarkeit – etwa seitens der AfD.

Auch die im letzten Teil des Bandes deutlicher zu Tage tretenden „Lehren aus Weimar“, die dem öffentlichen Bedürfnis nach demokratischer Selbstvergewisserung qua historischer Aufarbeitung nur auf den ersten Blick eher zu entsprechen scheinen, widersprechen bisweilen einander und mitunter sich selbst. Plädiert die eine Seite für die Anerkennung von mehr Pluralität und Komplexität sowohl in der Wissenschaft (Weber, S. 57) als auch in der Gesellschaft (Wildt, S. 91), nutzen andere das „Kontrastmittel“ Weimar (Bösch, S. 197), um eindeutige Botschaften abzusenden. Bei Wirsching etwa mündet die Verschränkung von Geschichtsschreibung und Geschichtspolitik – wohlbemerkt am Ende seines Beitrags zur „Theorie und Praxis [Weimars] als politisches Argument“ – in einen Appell für mehr „Wachsamkeit“: Weimar, so der Münchener Zeithistoriker, müsse „ganz gegen den Trend der Forschung“ als „paradigmatisches Lehrstück für die Gefährdung und Selbstgefährdung der Freiheit“ (S. 228 und 229) „Berlin“ weiterhin den Spiegel vorhalten.3

Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass in ein und demselben Band Beiträge wie der zuletzt genannte zur Quelle jener werden, die „Weimar als geschichtspolitisches Argument“ historisieren, statt selbst davon Gebrauch zu machen. Dies gelingt Sebastian Ullrich in seiner Synopsis des bundesrepublikanischen „Weimar-Komplexes“ mit vortrefflicher Verve, insbesondere wenn er das „Vetorecht der Quellen“ (Koselleck) gegen die „Hysterisierungsagentur“ der Bonner und Berliner Republik in Stellung bringt (S. 194). So lässt er auf erhellende Weise zeitgenössische Beobachter und Beteiligte wie Kurt Schumacher zu Wort kommen, die sich in Hochzeiten der Weimar-, und damit auch immer der Sozialdemokratie-Schelte, zurecht darüber wunderten, wie es angesichts des Ausmaßes der Zerstörung, die das NS-Regime der Nachwelt hinterlassen hat, sein kann, „dass die Weimarer Republik eine schlimmere politische Sünde gewesen sein soll als das Dritte Reich“ (S. 186).

Die Politik und Propaganda der NSDAP wird auch in manchen Beiträgen dieses Bandes noch als wachsamer und wehrhafter, einheitlicher und erfolgreicher dargestellt (Bösch, S. 206; Nachama, S. 72), als die demgegenüber immerfort „zerrissene“ und „fragmentierte“, als zu „schwach oder zu unentschlossen“ (Koenen, S. 180) bebilderte „Badehosen“-Republik (Sabrow, S. 24–27), die von Anfang an selbst schuld an Ihrem Untergang gewesen sein soll – getreu der Logik, „‚eine Haustür sei an ihrer Schwäche zerbrochen, weil sie dem Brecheisen des Einbrechers nicht stand[hielt]‘“, zitiert Ullrich den Sozialdemokraten Wilhelm Keil (S. 191). Dass mit dieser Anti-Weimar-Rhetorik unbeabsichtigter Weise aber auch neurechte Geschichtsklitterungen bedient werden, darin besteht die eigentliche Tragik der Nutzung Weimars als Negativfolie. Denn antidemokratische Argumente für die Demokratie dienen letztlich nicht der Demokratie, sondern den Antidemokraten: Eine vergessene „‚Lehre aus Weimar‘“, wie Ullrich zurecht fragt (S. 196)?

Wie dem auch sei: Für große Teile der Fachcommunity sind das „alles alte Bekannte“ (Wirsching, S. 228).4 Nichtsdestotrotz kommen diese vor allem dort zum Tragen, wo die Weimarer Republik für ihr Nachleben selber verantwortlich gemacht wird. Das betrifft sowohl die Periode ihres „Vergessens“, dem sie „selbst Vorschub“ geleistet haben soll, was Sabrow neben anderen „Geburtsschwäche[n]“ auf ihre „uneindeutige und blasse Selbstdarstellung“ (S. 24 und 27) zurückführt5, als auch das Gegenteil: die omnipräsente und obsessive Heraufbeschwörung der Wiederkehr einer Geschichte, an der dieser Band selbst mitwirkt, indem er jene Rezeptionsmuster reproduziert, die er zu dekonstruieren beabsichtigt.

Lässt sich die „gelegentlich hysterische Naherwartung des erneuten Untergangs“ in prekären Phasen der deutschen Demokratiegeschichte psychologisch noch nachvollziehen, gibt das derzeitige Festhalten am „Sündenbock“ Weimar vor dem Hintergrund eines heute ungleich stabileren Systems und in vielerlei Hinsicht anders gelagerten Strukturwandels Rätsel auf (Ullrich, S. 185 und 192). Damit bleibt nicht nur „der Untergang der ersten deutschen Demokratie 1933 ein fortgesetztes Explanandum“, wie Wirsching resümiert (S. 229), auch die Renaissance lehrmeisterlicher Weimar-Referenzen in der zeitgeschichtlichen Forschung bedarf der Erklärung. Oder es müsste endgültig bewiesen und nicht nur behauptet werden, dass „Weimar“ wahlweise als Menetekel oder Orakel für die Lösung gegenwärtiger Probleme taugt. Bis es so weit ist, gilt es herauszufinden, woher diese besondere Geschichte der Gegenwart kommt6, und vielleicht sogar, wohin sie geht – solange das Ergebnis nicht von vornherein feststeht.

Anmerkungen:
1 Programm und Flyer zur Vortragsreihe sind online einsehbar unter: https://www.zzf-potsdam.de/de/fotogalerien/ringvorlesung-weimars-wirkung (16.08.2022).
2 Sabrows Einleitung ist im Gegensatz zum Rest des Bandes nicht dem Erinnern, sondern dem kurzzeitigen Vergessen Weimars nach der Wiedervereinigung gewidmet. Vgl. schon an früherer Stelle Martin Sabrow (Hrsg.), Revolution! Verehrt – verhasst – vergessen, Leipzig 2019; angelehnt an Alexander Gallus (Hrsg.), Die vergessene Revolution, Göttingen 2010. Zum schwarz-weißen Weimar-Bild siehe Jochen Hung, ‚Bad’ Politics and ‚Good’ Culture. New Approaches to the History of the Weimar Republic, in: Central European History 49 (2016), 3/4, S. 441–453.
3 Was und wem es nützt, wenn Berlin dort weitermacht, womit Bonn in den 1950er-Jahren begonnen hat, zeigen zwei ältere Veröffentlichungen in aller Deutlichkeit: Friedrich Balke / Benno Wagner (Hrsg.), Vom Nutzen und Nachteil historischer Vergleiche. Der Fall Bonn – Weimar, Frankfurt am Main 1997, und Sebastian Ullrich, Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2009.
4 Vgl. Eckart Conze, Das alte Weimarer Drama? Unklare Mehrheitsverhältnisse, polarisierte Milieus und eine Rechtsaußen-Partei im Parlament: Manchen erinnert das an die Jahre vor 1933. Warum das Medienhysterie ist – und der historische Vergleich dennoch lohnt, in: Die ZEIT 49 (2017), online einsehbar unter: https://www.zeit.de/2017/49/regierungsbildung-spd-grosse-koalition-weimar-reichstag?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F (15.08.2022).
5 Was mit einem Verweis auf einen Aufsatz der Rezensentin belegt wird, die jedoch am Beispiel des hier als „kläglich“ (S. 23) bezeichneten Flaggenkompromisses zu gegenteiliger Schlussfolgerung gelangt. Siehe dazu Verena Wirtz, ‚Flaggenstreit‘. Zur politischen Sinnlichkeit der Weimarer Demokratie, in: Andreas Braune / Michael Dreyer (Hrsg.), Republikanischer Alltag, Die Weimarer Demokratie und die Suche nach Normalität, Stuttgart 2017, S. 51–66, hier S. 63.
6 Etwa in Form historisch offener Vergleichsstudien, die Weimar im internationalen Quer- oder demokratiegeschichtlichen Längsschnitt neu verorten. Vgl. dazu jüngst Christof Cornelißen / Dirk van Laak (Hrsg.), Weimar und die Welt. Globale Verflechtungen der ersten deutschen Republik, Göttingen 2020, und Andreas Braune / Michael Dreyer / Torsten Oppelland (Hrsg.), Demokratie und Demokratieverständnis: 1919 – 1949 – 1989, Stuttgart 2022.