Wenn wir uns nicht gerade in einer Pandemie befänden, müsste der Abschluss der Briefbände der Ernst Troeltsch Kritischen Gesamtausgabe1 (KGA) in festlicher Runde begangen werden. Eine große wissenschaftliche Leistung ist vollbracht mit dieser kritischen Edition aller auffindbaren Briefe von und an den großen theologischen, philosophischen und historisch-soziologischen Denker, zeitweisen Politiker und „Vernunftrepublikaner“ der vorletzten Jahrhundertwende!
Die vorliegenden Bände sind das Ergebnis einer über 42 Jahre andauernden Forschungstätigkeit – der Herausgeber Friedrich Wilhelm Graf hat mit dem Sammeln im Jahre 1978 angefangen. Die Suche nach Briefen von und an Ernst Troeltsch gestaltete sich extrem schwierig, da es keinen gesammelten Nachlass gibt. Beinahe alle Briefe wurden im Laufe der Jahre von seinen Nachkommen entsorgt. Unterstützt wurde Graf von vielen anderen Troeltsch-Forschern (wobei Horst Renz besonders hervorzuheben ist) und von seinem Stab an wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern (wobei insbesondere Harald Haury (bei allen fünf Bänden) und Volker Bendig und Alexander Seelos (beim Band 18) hervorzuheben sind). Wie viele tote Enden sie dabei verfolgen mussten, kann man nur durch die gelegentliche Notiz „Ein entsprechender Briefwechsel ist nicht überliefert“ (KGA 22, S. 67 und ähnlich öfter) erahnen. Einige auffällige Lücken erwähnt der Herausgeber in seinen Vorworten, wobei sicher am schmerzlichsten die Briefe von und an Max und Marianne Weber fehlen. Es ist ein Einfallstor für Spekulationen, warum aus dieser engen Freundschaft nur der Kondolenzbrief Troeltschs erhalten geblieben ist.
Ein Effekt einer solchen Suchbewegung mit vielen Lücken als Ausgangsbasis ist, dass das Corpus die Möglichkeit hatte, bedeutend größer zu werden. So waren zu Beginn der KGA nur zwei Briefbände (bei 343 bekannten Zeugnissen) geplant und es sind nun fünf Bände mit 996 Schreiben von und 476 Schreiben an Troeltsch geworden. Diese enorme Erweiterung ist die eine Seite der Leistung. Die andere liegt in der hohen Akribie bei der Kontextualisierung. Selbst bei Personen, die nur einmal Erwähnung finden, lassen sich in den Fußnoten ausführliche Biogramme finden, bei den Briefpartnern befinden sich diese im Anhang. Auch werden Hintergründe in der Regel so erläutert, dass das Verständnis der Vorgänge nicht unter fehlenden Briefen leidet. Gelegentlich resultieren aus den vielen Informationen in den Fußnoten bandwurmhafte Sätze und manche Fußnoten tauchen wörtlich doppelt auf, anstatt aufeinander zu verweisen; insgesamt aber zeigen sie, mit welcher Genauigkeit und mit welchem Anspruch der Herausgeber und seine Mitarbeiter zu Werke gegangen sind. Besonders hervorzuheben ist, dass immer wieder aus sachlich verwandten Briefen und Akten zitiert wird; zum Beispiel aus Zeitungsartikeln, die Vorträge von Troeltsch ankündigen oder nachbesprechen, aus den Briefen Marianne Webers an ihre Schwiegermutter oder aus dem Briefnachlass von Gertrud von le Fort. Auch sind die Bände durch umfangreiche Apparate wie Korrespondenzregister, Literaturverzeichnisse und Personen- und Sachregister angereichert. Die editorischen Entscheidungen sind durchweg nachvollziehbar und gut begründet. Alle erhaltenen Brieffragmente aus sekundären Quellen wurden mit aufgenommen, die amtlichen Universitäts-Schreiben, die Troeltsch mitunterzeichnet hat, hingegen nicht. Die an Troeltsch gerichteten Briefe sind klein gesetzt, was den Fokus auf die Briefe aus Troeltschs Feder lenkt.
Die insgesamt rund 180 Seiten umfassenden Vorworte der Briefbände haben nicht den Anspruch, „irgendwie verbindlich oder gar letztgültig behauptete Interpretationen von Biographie und Werk zu formulieren“ (KGA 18, S. 39) – es geht dem Herausgeber um Anregungen und Forschungsperspektiven. Er setzt hier eigene Schwerpunkte und zeigt damit einen eigenständigen Blick auf Troeltschs Leben. Insgesamt enthalten sich die Vorworte – und das ist wohltuend – dem Anspruch der Vollständigkeit. Es bleibt also Luft für weitere Forschung – und vielleicht eine neue Troeltsch-Biografie, die mit diesen Bänden eine neue und breite Basis hätte.
Der erste Band handelt von Troeltschs Weg bis zur Berufung nach Heidelberg, man lernt ihn in Studium, Militärdienst, Vikariat, Promotionszeit und der ersten Professur in Bonn kennen. Der zweite und dritte Band beinhalten Troeltschs Heidelberger Zeit als Professor für Systematische Theologie (1894–1915), wobei der zweite mit der Amerikareise 1904 als Zeichen der endgültigen Etablierung des jungen Gelehrten endet und der dritte die Entstehung von Troeltschs berühmten Protestantismus-Arbeiten dokumentiert. Die letzten beiden Bände sind seiner Berliner Zeit als Professor der dortigen Philosophischen Fakultät (1915–1923) gewidmet, wobei der Einschnitt nun ein politischer ist: der Untergang des Kaiserreichs und die Ausrufung der Republik am 9. November 1918.
Wer die Briefe in der Reihenfolge ihrer Entstehung liest, kann die Entwicklung eines großen Gelehrten nachvollziehen. In KGA 18 tritt zunächst ein etwas blumig schreibender, sehr ernster (er nennt sich in seiner Studentenverbindung selbst scherzhaft „Ernst des Lebens“) und ambitionierter junger Mann hervor. Bereits in diesen Jahren zeigt sich sein Charakter: Troeltsch ist hochgradig streitfreudig, wahrheitsliebend und seinen Freunden eng verbunden. Er pflegt ausufernde Briefkontakte, liebt die Künste, das Wandern und das Bier. Er verachtet moralische Unstetheit und sexuelle Anzüglichkeiten. Im Laufe seines Lebens wird sein Schreibstil direkter und klarer. Es finden sich auch keine Gedichte mehr. Aus Streitlust wird Liebe zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung, die er beständig sucht: „Ich mag ganz gerne angegriffen werden“ (KGA 19, S. 301). Im Medium des Briefes kommen dann immer mal pointierte Formulierungen ganzer Gedankengänge seines Werkes; so fasst er seine „Täuferthese“ in einem Brief an Paul Wernle auf einer halben Seite zusammen (vgl. KGA 20, S. 200). In den Auseinandersetzungen ist es Troeltsch aber auch wichtig, mit den Kontrahenten, die er schätzt, auf gutem Fuß zu bleiben. Auch sucht er die Diskussion in der direkten Begegnung und artikuliert Freude auf Treffen und den direkten Austausch. „Die persönlichen Berührungen sind unentbehrlich für richtiges Verständnis“ der Arbeiten anderer (KGA 19, S. 216). Für Menschen, denen er fachlich und menschlich nahestand, konnte Troeltsch sich auch energisch einsetzen, wie die seelsorgerlichen Briefe an Rudolf Otto und sein scheiternder Einsatz für dessen Berufung nach Basel zeigen (KGA 20, S. 67–69). Diese Freude am Menschen und der Debatte lassen erahnen, was mit der vernichteten Korrespondenz verloren ist.
Mit seiner persönlichen Entwicklung vom suchenden Jüngling zum gestandenen Gelehrten geht auch eine religiöse Entwicklung einher. Hier tritt nun ein zumeist unbekannter Troeltsch zu Tage. Es ist eine Seite, die durchaus weitere Untersuchungen wert ist. Alle, die in Troeltsch nur den kühlen (und mit seinem Wechsel in die Philosophische Fakultät in Berlin kühler werdenden) Kulturprotestanten sehen, der in seiner Theologie nach dem Urteil Karl Barths „in den Sumpf geraten war“2, sollten sich ausgehend von seinen religiösen Selbstaussagen die theologische Dimension seines Werkes wieder vor Augen führen. „Ich trenne meine persönliche Frömmigkeit sehr wohl von der wissenschaftlichen Untersuchung der Religion, aber ich verschließe mich nicht gegen starke Rückwirkungen von dieser wissenschaftlichen Denkweise auf meine Frömmigkeit. […] Aus diesen Bemerkungen mögen Sie auch ersehen, daß hinter meinen Arbeiten etwas mehr persönliche Charakter-Arbeit liegt, als Sie anzunehmen scheinen. Sie sind in der That nicht bloß von wissenschaftlichen Bedürfnissen inspiriert.“ (KGA 19, S. 205) Die Briefe bieten immer wieder starke Reflexionen über Glaube und historische Wissenschaft, die sich allerdings mit der Zeit verändern. Vor allem in den frühen Briefen sind es noch stärker dogmatische Topoi, die ihn beschäftigen. Später verschiebt sich der Schwerpunkt zu ekklesiologischen und fundamentaltheologischen Aussagen. Hier könnte man ein allgemeines Phänomen der Theologie der letzten zweihundert Jahre widergespiegelt finden, nämlich die Verschiebung der theologischen Streitigkeiten hin zu Fragen von Kirche, Schrift, Ethik und dem Verhältnis zur Allgemeinkultur.
Im nun vorliegenden Abschlussband der Troeltsch-Briefe aus den Jahren 1918 bis 1923 finden sich viele Briefe, die bereits als Korrespondenz (die Briefe an von Hügel) oder ausschnittweise bekannt waren, wie Teile der administrativen Briefe.3 Der Gewinn ist indes enorm, diese vollständig und im Kontext anderer Briefe vorzufinden. Zudem überwiegen die vielen bislang unbekannten Briefe. Darunter sind es die an Gertrud von le Fort und die an seine Schwestern, die als Dokumente von Troeltschs persönlicher Lage herausragen. In ihnen schreibt er von seinen Alltagssorgen, die in der Nachkriegswirtschaft und heftigem Inflationsdruck auch einem Professorenhaushalt stark zu schaffen machen. „Allerdings stecke ich fast mein ganzes Einkommen in die Nahrungsmittel. Mit Kleidung behelfen wir uns durch Umarbeitung alter Stücke“ (KGA 22, S. 198). Diese Beobachtungen über sein Leben in Berlin sind kein Selbstzweck. Sie bereichern die Beschreibungen der politischen Lage, die Troeltsch in seinen Spectator-Briefen4 gibt. Überhaupt nutzt er diese Alltagsbeschreibungen auch, um auf die politische Großlage hinzuweisen. In früheren Briefen hat Troeltsch von sich geschrieben, dass er „eigentlich kein politisch-soziales Programm habe“ (KGA 20, S. 422), und das macht sein Navigieren in dieser Zeit spannend und seine Haltung zutiefst ambivalent. Zum einen will er sich als politischer Mensch einbringen und zum anderen Gelehrter bleiben. Er ist „Vernunftrepublikaner“ (KGA 22, S. 191) und doch zweifelt er am Parlamentarismus. Er schaut noch sehr dem deutschen 19. Jahrhundert verhaftet auf die Exekutive und doch sträubt er sich gegen ein Ministeramt und wird lieber (Unter-)Staatssekretär. Er verzweifelt an der „totalen politischen Unfähigkeit des deutschen Volks“ (KGA 22, S. 81) und doch will er mehr durch seine Schriften wirken als durch eigene politische Beteiligung. Er sieht das Ende des Kaiserreiches und die Kontinuitätsabbrüche als gefährlich und setzt sich doch für eine „reine Demokratie“ ein und fordert, dass die Weimarer Demokratie noch „ausgebaut und modifiziert werden“ (KGA 22, S. 266) müsse. In der Person Ernst Troeltsch sehen wir die vielen Ambivalenzen, die eine solche politische Umbruchszeit bei einem kritischen Zeitgenossen hervorrufen. Er stürzt sich ins Getümmel und fühlt sich nicht wohl dabei. Er ist erleichtert, als er seine politischen Ämter ablegen und sich wieder der Wissenschaft widmen kann. Am Ende seines Lebens konstatiert der Theologe Troeltsch über die politische Lage: „Soweit ich für irdische Dinge lebte, habe ich für mein Vaterland gelebt und ich sehe nun seinen hoffnungslosen Zerfall […]. Es müssten ganz neue Wege gegangen werden, und die will niemand sehen“ (KGA 22, S. 406). Was den politischen Troeltsch angeht, ist auch dem Herausgeber in seinem Vorwort eine sehr luzide Darstellung seines Werdegangs gelungen (vgl. KGA 22, S. 3–13). Man kann ihm nur beipflichten, wenn er schreibt, dass der Band 22 neben und mit den Spectator-Briefen in Band 14 gelesen werden sollte: „Beide verdienen mit Sicherheit mehr als nur einen Lektüregang und mehr als bloß eine Deutung“ (KGA 22, S. 32).
Im Abschlussband sind noch 20 Seiten der nachträglich gefundenen Briefe aus den ersten Bänden abgedruckt – ein Ausweis der sehr gründlichen Arbeit des Herausgebers und seines Stabs. Dass einige Sachverhalte während der Corona-Pandemie nicht vollständig gegenzuprüfen waren, wie Graf im letzten Band konstatiert, ist leicht zu verschmerzen. Die in dieser vorzüglichen Edition zugänglich gemachten Funde werden der Troeltsch-Forschung über Jahrzehnte ein zuverlässiges Fundament geben. Darüber hinaus verdeutlichen die Briefbände, wie lohnend eine weitere Beschäftigung mit dem politischen Wirken von Ernst Troeltsch wäre.5 Dasselbe gilt für den Historiker Troeltsch, weil er seine historischen und geschichtsphilosophischen Studien nie als reinen Selbstzweck betrieb, sondern mit dem Ziel, die eigene Gegenwart zu verstehen und ihr verlässliche Fundamente zu geben. Er dachte und wirkte permanent in Ambivalenzen, engagierte sich politisch, obwohl oder gerade weil er seine religiöse und seine politische Position stets voneinander unterschied. Er wusste um die historische Relativität von Moral und hat zugleich ein Wertefundament gesucht, dass nicht nur ihn, sondern eine gesamte Kultur tragen kann. Durch dieses Denken und Handeln in Ambivalenzen hatte er ein feines Gespür für die Brüche innerhalb der Gesellschaft. Das macht ihn in einer Gegenwart, die voll von Brüchen scheint, zu einer hilfreichen Orientierung. Ernst Troeltsch als Denker im Umbruch kann und sollte uns auch heute noch beschäftigen.
Anmerkungen:
1 Im Text selbst werden Belege aus der Ernst Troeltsch Kritischen Gesamtausgabe jeweils nur in Klammern mit dem Verweis auf die entsprechende Bandnummer und Seitenzahl angegeben. Die textkritischen Zeichen werden bei Zitaten nicht übernommen.
2 Karl Barth, Kirchliche Dogmatik IV/1, Zürich 1960, S. 427.
3 Neben den Troeltsch-Biografien von Drescher und Köhler sind die Beiträge von Hartmut Ruddies und Jonathan R. C. Wright zu nennen in: Horst Renz / Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.), Troeltsch Studien. Bd. 3: Protestantismus und Neuzeit, Gütersloh 1984.
4 Die Ausgabe der Spectator-Briefe der KGA ist seit 2018 auch als Taschenbuch erschienen. Es handelt sich um einen seitengleichen Nachdruck von: Gangolf Hübinger (Hrsg.), Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe. Bd. 14: Spectator-Briefe und Berliner Briefe (1919–1922), Berlin 2015.
5 Dies unterstreicht auch die soeben erschienene Studie von Robert E. Norton, The Crucible of German Democracy. Ernst Troeltsch and the First World War, Tübingen 2021.