E. Adler: Survival on the Margins

Cover
Titel
Survival on the Margins. Polish Jewish Refugees in the Wartime Soviet Union


Autor(en)
Adler, Eliyana R.
Erschienen
Anzahl Seiten
XVII, 433 S.
Preis
$ 39.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katharina Friedla, Berlin

Die Geschichte der polnischen Jüdinnen und Juden, die die Shoah im Inneren der Sowjetunion überlebten, blieb sowohl in der Forschung als auch in der Erinnerung Jahrzehnte lang unbekannt. In der Geschichtsschreibung lässt sich erst in den letzten Jahren eine Tendenz beobachten, die Analyse des Holocausts in geographischer und politischer Hinsicht auszudehnen. Diesen Paradigmenwechsel verdanken wir unter anderem der amerikanischen Forscherin Atina Grossmann, die als eine der Ersten dafür plädierte, die „Peripherien des Holocausts“ in Forschung und Gedächtnis zu integrieren.1 Zuletzt haben jüdische Flüchtlingserfahrungen in Iran, Indien, Palästina, China oder Südamerika großes Interesse erfahren. Gleichzeitig rückte die multidimensionale Odyssee der polnisch-jüdischen Flüchtlinge und Deportierten in der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs immer stärker in den Fokus der Holocaust-Studien.2 Die neueste Monographie der amerikanischen Historikerin Eliyana Adler reiht sich in diesen Trend ein und liefert einen weiteren Beitrag zum besseren Verständnis der Schicksale der etwa 200.000 polnisch-jüdischen Flüchtlinge in der UdSSR.

Die Studie ist chronologisch aufgebaut und orientiert sich an den Phasen der historischen Entwicklung. Im ersten Teil analysiert Adler die Entscheidungsprozesse und Handlungsspielräume polnischer Jüdinnen und Juden, die nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vor einer schwierigen Wahl standen – unter der deutschen Besatzung zu bleiben oder zu fliehen. Für die Flucht in die sowjetisch okkupierten Gebiete entschieden sich wenige. Aktuelle Schätzungen gehen von 150.000 bis 300.000 aus. Die Flucht erschien den meisten von ihnen als das kleinere Übel, viele gingen von einem nur temporären Asyl aus. Im Hinblick auf diese Fluchtentscheidung nimmt die Autorin auch den Gender-Aspekt in den Blick und konstatiert, dass der Großteil der Flüchtlinge jung und männlich war.

Im zweiten Kapitel blickt Adler auf die Situation der jüdischen Bevölkerung in den sowjetisch-besetzten Gebieten Ostpolens. Dabei rekonstruiert sie die Reaktionen polnischer Jüdinnen und Juden auf die fortschreitende Sowjetisierung. Anhand zahlreicher biographischer Passagen gelingt es der Verfasserin, die unterschiedlichen Anpassungsstrategien aufzuzeigen. Obwohl viele Flüchtlinge relativ schnell gelernt hätten, sich in der neuen sowjetischen Ordnung zu orientieren, habe sich ihre Lage dennoch immens verschlechtert. So habe die Mehrheit von ihnen ihre Entscheidung angesichts der sich permanent ändernden Kriegssituation revidiert: Viele Flüchtlinge ließen sich schon nach kurzer Zeit für die Heimkehr in die deutsche Besatzungszone registrieren.

Bereits im Dezember 1939 entschied die sowjetische Führung, „politisch verdächtige Elemente“ aus den besetzten polnischen Ostgebieten in das Innere der Sowjetunion zu deportieren. Darunter fielen auch viele derer, die auf die deutsche Seite zurückkehren wollten. Von Februar 1940 bis Juni 1941 erfolgten vier Massendeportationen in das Landesinnere des sowjetischen Imperiums. Die Mehrheit der polnischen Jüdinnen und Juden, etwa 70.000 Personen, wurde im Juni 1940 in weit entlegene Teile der UdSSR verschleppt. In der Retrospektive erscheint dieses harte Refugium unter Stalin im Vergleich zum Überleben unter der nationalsozialistischen Herrschaft für viele Zeitzeug:innen dennoch als ein Paradies (S. 67). Nicht zufällig überschreibt Adler das dritte Kapitel deshalb mit „Jewish Luck: Deportation to Siberia“.

Die verschleppten Menschen wurden zu schweren Tätigkeiten unter grausamen Bedingungen gezwungen. Sie litten Hunger, Krankheiten und Erschöpfung. Einige Tausend überlebten die Haftzeit nicht. Unter diesen Umständen spielten die sozialen Kontakte sowie das kulturelle und religiöse Leben in den Sondersiedlungen eine außerordentliche Rolle für den Überlebenswillen der deportierten Jüdinnen und Juden. Adler zeigt überzeugend auf, wie ihre Protagonist:innen versuchten, sich auf unterschiedliche Art und Weise zu behaupten und hierfür alle möglichen Handlungsspielräume ausnutzten. Vor allem die religiösen Praktiken, die das religionsfeindliche sowjetische Regime repressiv zu unterbinden versuchte, galten als eine Form des Widerstandes, die zur Stärkung der jüdischen Identität und Solidarisierung mit anderen Gefangenen beitrug.

Einen Wendepunkt brachte der Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges im Juni 1941. Im Sommer 1941 verhandelte die polnische Exilregierung in London mit Stalin eine Amnestie, die vorsah, eine polnische Armee unter General Władysław Anders zu bilden und polnische Bürger, jüdische wie nichtjüdische, aus den sowjetischen Lagern freizulassen. Es folgte eine meist chaotische und unorganisierte Reise im Eiltempo gen Süden in die zentralasiatischen Republiken wie Usbekistan, Kasachstan oder Kirgistan, in denen die befreiten Deportierten auf bessere Bedingungen hofften. Was sie stattdessen erwartete, waren Armut und Hunger, Typhus und Malaria. Parallel zu dieser Fluchtbewegung fand eine Evakuierung von sowjetischen, darunter auch jüdischen, Staatsbürgern aus den von der Wehrmacht eroberten Gebieten statt.

Im vierten Kapitel folgt die Autorin den Wegen der polnischen Jüdinnen und Juden, die in die zentralasiatischen Republiken der Sowjetunion flohen. In diesem Teil räumt Adler den Beziehungen zwischen den jüdischen Flüchtlingen und diversen ethnischen Gruppen viel Platz ein. Eindrucksvoll zeichnet sie die Komplexität der Beziehungen, den allgegenwärtigen Antisemitismus, aber auch positive Erfahrungen der Flüchtlinge, etwa die Solidarität und Hilfeleistungen vonseiten der sowjetischen Juden, nach. Auch die angespannten Interaktionen mit dem sowjetischen Staatsapparat oder den lokalen Vertretungen der polnischen Botschaft in der UdSSR (Delegatury) werden in diesem Abschnitt in anregender Weise analysiert. Einzig die Passagen über die Beziehungen zwischen den polnischen Juden und den katholischen Polen im sowjetischen Exil, die bereits durch andere Forscher ausführlich dokumentiert wurden, bieten wenig neue Erkenntnisse.4

Anschließend setzt sich die Autorin mit der Rückführung der Flüchtlinge nach Polen auseinander. Auf Grundlage eines Vertrags zwischen polnischer und sowjetischer Regierung vom Juni 1945 sollten polnische Staatsangehörige, jüdische und nichtjüdische, nach Polen repatriiert werden. Bereits im Frühjahr 1946 kehrten sie in hunderten Transporten zurück. Die unmittelbare Nachkriegszeit beschreibt Adler als chaotische und psychisch wie emotional belastende Zeit, während der die Überlebenden mit dem Ausmaß der Shoah konfrontiert wurden. Hinzu kam der virulente Antisemitismus, der in der polnischen Nachkriegsrealität allgegenwärtig war. Die Mehrheit der polnischen Jüdinnen und Juden sah keine Zukunft für sich in Polen. Die meisten Rückkehrer/innen aus der Sowjetunion entschieden sich für Flucht und Emigration – zunächst in die DP-Lager im Westen Europas, anschließend in weitere Destinationen in den USA, Israel, Kanada, Südafrika oder Australien.

Im Epilog plädiert die Verfasserin für die Integration dieser komplexen jüdischen Flucht- und Überlebenserfahrung in der Sowjetunion in die Holocaustforschung. Es scheint jedoch, dass das Thema inzwischen durchaus als wichtiger Teil der Holocaust-Geschichte wahrgenommen wird. Davon zeugen nicht nur zahlreiche wissenschaftliche Publikationen, sondern auch ein großes Interesse in der Öffentlichkeit. Die Geschichte der polnischen Jüdinnen und Juden, die den Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion überlebten, reicht außerdem weit über die Holocauststudien hinaus. Sie ist in mehrere Forschungsbereiche eingebettet und gehört neben der Geschichte Polens auch zur Geschichte der Sowjetunion, Israels, Deutschlands, aber auch des Gulags.

Um ein möglichst vollständiges Bild der jüdischen Erfahrung zu vermitteln, hat Eliyana Adler mit einem beeindruckenden Quellenfundus in englischer, jiddischer, polnischer und hebräischer Sprache gearbeitet. Neben Memoiren, Autobiographien und Zeugenberichten greift sie auch auf Oral-History-Interviews zurück. Bemerkenswert ist Adlers Fähigkeit, die einzelnen Schicksale und biographischen Passagen in den Vordergrund zu stellen, diese aber zugleich mit dem historischen Hintergrund in Verbindung zu setzten.

Eine der größten Stärken des Buches bilden die geschlechterspezifischen Perspektiven gewidmeten Abschnitte – ein Aspekt, der in den bisherigen Studien zu diesem Thema selten aufgegriffen wurde. Das Gleiche betrifft Fragen nach intimen Beziehungen und sexueller Gewalt, die die jüdischen Flüchtlinge im sowjetischen Exil erfahren haben. Als einziger Kritikpunkt wäre anzumerken, dass die Verfasserin kaum die Ergebnisse anderer Forschungsarbeiten diskutiert. Während sie die erste Studie zu diesem Thema, die Josef Litvak bereits 1988 veröffentlichte, in ihrer Einführung erwähnt, bezieht sie die neueste Studie von Markus Nesselrodt, die ihrem Buch methodisch und thematisch sehr nahe steht, kaum ein. Ungeachtet dessen ist zu betonen, dass Adlers Darstellung gekonnt die persönlichen Erlebnisse der Zeitzeug:innen mit der historischen und gesellschaftlichen Metaebene verknüpft und dadurch viele der bisherigen Forschungsbefunde erweitert.

Anmerkungen:
1 Atina Grossmann, Remapping Survival: Jewish Refugees and Lost Memories of Dis-placement, Trauma, and Rescue in Soviet Central Asia, Iran, and India, in: Simon Dubnow Institute Yearbook 15 (2016), S. 1–27.
2 U.a. Markus Nesselrodt, Dem Holocaust entkommen. Polnische Juden in der Sowjetunion (1939–1946), Berlin 2019; Mikhail Deckel, Teheran Children. A Holocaust Refugee Odyssey, New York 2019.
[3] David Engel, Facing a Holocaust. The Polish Government-in-Exile and the Jews, 1943–1945, Chapel Hill 1993; Tomasz Gąsowski, Pod sztandarami orła białego. Kwestia żydowska w Polskich Siłach Zbrojnych w czasie II wojny światowej, Krakow 2002.
4 Josef Litvak, Plitim Yehudim mi-Polin be-Brit ha-Mo’atsot, 1939–1946, Jerusalem 1988.

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