S. Plate: Widerstand mit Briefmarken

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Titel
Widerstand mit Briefmarken. Die polnische Oppositionsbewegung und ihre Unabhängige Post in den 1980er Jahren


Autor(en)
Plate, Silke
Reihe
FOKUS (3)
Erschienen
Paderborn 2021: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
€ 78,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian Peters, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Die von der ukrainischen Post herausgegebenen Sonderbriefmarken, die einen ukrainischen Soldaten vor der Silhouette des kurz darauf versenkten Flaggschiffs der russischen Schwarzmeerflotte „Moskwa“ zeigten, haben jüngst ein Schlaglicht auf die politischen und symbolischen Implikationen von Briefmarken geworfen.1 Gleichwohl wird die Befassung mit diesem heimlichen Massenmedium des 20. Jahrhunderts, die sich als Hobby einiger Beliebtheit erfreut, in der akademischen Geschichtswissenschaft eher belächelt. Silke Plates Studie zu den Untergrundbriefmarken der polnischen Oppositionsbewegung in den 1980er-Jahren zeigt nun, wieviel Historiker:innen verpassen, wenn sie die Briefmarken allein den Philatelisten überlassen.

Plates Gegenstand sind freilich alles andere als gewöhnliche Briefmarken, wie wir sie bis vor einigen Jahren noch in alltäglicher Routine auf Postsendungen geklebt haben (bevor sie von automatisierten Freistempeln und digitalen Strichcodes mehr und mehr marginalisiert wurden). Vielmehr widmet sie sich in ihrer an der Universität Bremen verteidigten Dissertation nachgeahmten Briefmarken, die von Aktivist:innen und Sympathisant:innen der demokratischen Oppositionsbewegung im spätsozialistischen Polen hergestellt und vertrieben wurden.

Nach der Zerschlagung der Solidarność-Bewegung während des Kriegsrechts hatte sich ab Dezember 1981 zunächst in den Internierungslagern für Oppositionelle die Fertigung von Stempeln und von aufgestempelten Briefmarken-Nachbildungen als beliebter Zeitvertreib etabliert. Daran anschließend produzierten oppositionelle Untergrundinitiativen zwischen 1982 und 1989 eine Vielzahl mehr oder weniger anspruchsvoll gestalteter Briefmarken – Plate spricht unter Berufung auf spezialisierte Philatelisten von rund 3.000 verschiedenen Ausgaben mit durchschnittlichen Auflagen von 2.000 bis 5.000 Exemplaren (S. 5).

Die staatliche Post akzeptierte solche Marken selbstverständlich nicht als Postwertzeichen – im Gegenteil: wenn Beamte der Sicherheitsorgane diese entdeckten, wurden sie umgehend konfisziert. Und obwohl die polnische Oppositionsbewegung nach ihrem erzwungenen Gang in den Untergrund ein weitgespanntes Kommunikations- und Vertriebsnetz für unzensierte Presse, Bücher, Musik- und sogar Videokassetten aufbaute, den sogenannten „Zweiten Umlauf“ (drugi obieg), wurden die Untergrundmarken auch hier nicht zur Frankierung von Sendungen verwendet.

Damit liegt die grundlegende Frage auf der Hand: Warum verbrachten viele Anhängerinnen und Anhänger der polnischen Oppositionsbewegung in den 1980er-Jahren ihre Zeit ausgerechnet mit dem Entwurf, Druck, Vertrieb und schließlich auch mit dem Sammeln nachgeahmter Pseudo-„Briefmarken“? Das Ganze war schließlich bis zum Ende des Staatssozialismus illegal und nicht ganz risikolos, wenn auch der Repressionsdruck nach der Generalamnestie für politische Gefangene 1986 merklich nachließ.

Silke Plate stützt ihre Suche nach Antworten primär auf die überlieferten Briefmarken selbst, deren Motive und Symbolsprache sie mit Blick auf ausgewählte Themenfelder exemplarisch analysiert. Darüber hinaus hat sie eine Reihe von Zeitzeugen befragt, die als Produzent:innen und Rezipient:innen der Briefmarken in Erscheinung getreten sind. Warum sie die von ihr zusätzlich ausgewertete Berichterstattung in der zeitgenössischen Untergrundpresse in der Bibliographie schematisch als „ungedruckte Quellen“ rubriziert, obwohl gerade die Institutionalisierung des Drucks das entscheidende Charakteristikum des polnischen „Zweiten Umlaufs“ war, bleibt freilich ihr Geheimnis. Auf Recherchen in den Archiven des Staatssicherheitsdienstes, der sich naturgemäß intensiv mit der Bekämpfung der Oppositionsbewegung befasste, hat Plate verzichtet (S. 230).

Auf dieser Quellengrundlage bietet die Studie vielfältige Einblicke in die faszinierende Welt der oppositionellen Untergrundbriefmarken. Nach einer etwas hölzernen historisch-theoretischen Hinführung, in der Plate das Phänomen der Untergrundpost in der Tradition des polnischen Widerstands gegen Fremdherrschaft im 20. Jahrhundert verortet und sich zur theoretischen Fundierung ihres Zugangs vorwiegend auf die Gedächtnistheorie Assmann’scher Prägung beruft (Kap. 1-3), wendet sie sich den Bildmotiven und Symbolsprachen der Briefmarken zu (Kap. 5-9). Sie konzentriert sich dabei auf zeithistorische Themenfelder, namentlich auf die bildliche Darstellung der Solidarność-Bewegung 1980/81, des Kriegsrechts 1981-83, der vorangegangenen Arbeiter-und Studentenunruhen im kommunistischen Polen sowie des Warschauer Aufstands von 1944.

Diese ikonographischen Analysen bilden nicht nur vom Umfang her das Herzstück der Studie. Auch die Darstellung gewinnt hier merklich an Konkretion und Dynamik. Für Kenner:innen der polnischen Zeitgeschichte gestaltet sich die Lektüre dennoch etwas mühselig, da jedes Themenfeld mit einem historischen Abriss eingeführt wird. Dies mag dem verständlichen Wunsch geschuldet sein, auch Nicht-Expert:innen den Zugang zu erleichtern. Allerdings bringt es die problematische Konsequenz mit sich, dass die untersuchten Untergrundbriefmarken von vornherein als bloße Abbilder historischer Ereignisse eingeführt werden. Der auf politische Sinnstiftung angelegte Konstruktionscharakter des oppositionellen Bildprogramms und seines „affirmativen Aufstands-/Protestmythos“ (S. 209) wird zwar kundig erläutert; der Gang der Darstellung läuft dieser Erkenntnis jedoch zuwider.

Zudem bleiben die Kriterien für die Auswahl der untersuchten Themenfelder etwas im Dunkeln. Zwar betont Plate, dass politischen und historischen Themen im „Kanon“ (S. 207) der Untergrundpost ein großer Stellenwert zukam; eine genauere Einordnung (etwa auf Grundlage einer quantitativen Auswertung der überlieferten Briefmarken) liefert sie jedoch nicht (Kap. 4). Somit bleibt unklar, inwiefern ihre Untersuchungen Repräsentativität beanspruchen können. Die anfangs aufgeworfene Frage, ob sich innerhalb der oppositionellen Milieus ein pluralistisches Spektrum politisch-historischer Leitbilder herausbildete (S. 30), bleibt ebenfalls unbeantwortet.

Obwohl Plates Hauptaugenmerk der Analyse der Bildmotive gilt, geht ihre Studie doch darüber hinaus und wendet sich schließlich den nicht minder spannenden Produktions-, Zirkulations- und Rezeptionsbedingungen solcher „Briefmarken“ zu (Kap. 10). Dieses Kapitel, das in hohem Maße auf Zeitzeugeninterviews basiert, erweist sich als analytischer Höhepunkt des Buches. Plate arbeitet die große Bedeutung der Briefmarken für die Finanzierung oppositioneller Aktivitäten plastisch heraus – stellten diese doch einen äußerst lukrativen und (im Vergleich zur optisch meist wenig attraktiven Untergrundpresse) intensiv nachgefragten „Verkaufsschlager“ dar (S. 241). Dass die entsprechenden Verdienstmöglichkeiten auch Trittbrettfahrer auf den Plan riefen, die wohl eher in die eigene Tasche wirtschafteten, wird von Plate wohltuend unaufgeregt thematisiert, ohne damit die idealistische Motivation der Mehrzahl der Akteure in Frage zu stellen.

Man hätte sich gewünscht, dass Plate solchen Fragen noch systematischer nachgegangen wäre. Obwohl sie die instrumentelle Funktion der Marken zur Finanzierung anderer oppositioneller Aktivitäten ebenso zur Kenntnis nimmt wie die performative und gemeinschaftsstiftende Dimension des Phänomens Untergrundpost, neigt sie insgesamt zur Überbetonung der „aufklärerischen und bildenden Funktion“ (S. 263) der nachgeahmten Briefmarken. Dass diese schon im Titel prominent als Medium des „Widerstands“ interpretiert werden, verweist zurück auf konventionelle Deutungen der demokratischen Oppositionsbewegung und lässt andere, medientheoretisch oder alltagskulturell inspirierte Zugänge etwas zu sehr in den Hintergrund treten. So bleibt etwa die kreativ-künstlerische Dimension der Marken unterbelichtet.

Dabei lässt sich durchaus bezweifeln, ob der Austausch unter Sammler:innen von Untergrundbriefmarken über ihre Kollektionen wirklich zwingend als „widerständiger Akt“ zu verstehen ist (S. 246). Wäre die umgekehrt proportional zur politischen Mobilisierungskraft der Oppositionsbewegung anwachsende Briefmarkenbegeisterung ihrer Sympathisant:innen nicht auch als Symptom des Rückzugs von politischem Engagement zu deuten, an dessen Erfolgsaussichten man nicht mehr recht zu glauben wagte? Schließlich ist auch das Sammeln der bekannten Fußball-Sammelbilder der Firma Panini nicht mit eigenen sportlichen Aktivitäten zu verwechseln… Die von einer Zeitzeugin gelegte Spur, die Untergrundbriefmarken als „Ventil für Emotionen“ zu verstehen (S. 132), verfolgt Plate leider nicht konsequent weiter.

Alles in allem schließt Plates solide Studie über die polnischen Untergrundbriefmarken der 1980er-Jahre eine relevante Forschungslücke, die auch in der ansonsten sehr dynamischen polnischen Forschung zur Opposition während des Spätsozialismus bislang unbeachtet geblieben ist. Da es ihr aber nur teilweise gelingt, das innovative Potenzial ihres Gegenstands auszuschöpfen, bestätigt sie letzten Endes eher die bekannten Erkenntnisse über die alternative Geschichtskultur der polnischen Oppositionsbewegung der 1980er-Jahre, als dass sie ihrem Material neue, darüber hinausweisende Einsichten abgewinnen könnte.

Die Generation Tiktok wird nach der Lektüre dieses Buches wohl kaum der Faszination der guten alten Briefmarke erliegen. Womöglich wäre das auch zuviel verlangt. Nichtsdestoweniger ließen sich für eine zeithistorische Würdigung der polnischen Untergrundpost weitere Funken schlagen, wenn man dieses originelle Fragment des „Zweiten Umlaufs“ noch systematischer auf den Kontext der „subversiven Kreativität“ (S. 257) der alternativen Protestkultur der 1980er-Jahre und ihrer spezifischen Medialität bezöge.2

Anmerkungen:
1 Olena Makarenko, Briefmarken als ukrainische Bitcoins, in: die tageszeitung, 16.06.2022, S. 2, https://taz.de/Finanzhilfe-fuer-ukrainische-Streitkraefte/!5861513/ (02.07.2022).
2 Siehe aus der neuesten Forschung exemplarisch Piotr Wciślik, Dissident Legacies of Samizdat Social Media Activism. Unlicensed Print Culture in Poland 1976–1990, London 2021, rezensiert für H-Soz-Kult von Jan Olaszek, 01.03.2022, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-97053 (02.07.2022).

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