: Qu'est-ce qu'une nation?. Une histoire mondiale. Paris 2020 : Gallimard, ISBN 9782072848070 464 S. € 28,00

: La fabrique de l’écrivain national. Entre littérature et politique. Paris 2019 : Gallimard, ISBN 978-2-07-278996-0 440 S. € 26,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Serrier, IRHiS, Université de Lille

Was ist eine Nation, und wie wird ein Nationalautor „fabriziert“? Diese traditionellen, sich wechselseitig erhellenden Fragen der Forschung zu Nationsbildungsprozessen sind Gegenstand zweier wichtiger Bücher aus der Feder hoch anerkannter französischer Expert:innen des Faches, Pascal Ory respektive Anne-Marie Thiesse.

Auch wenn die Nation eine „globale Erscheinung“ ist, ja, wenn es paradoxerweise vielleicht „nichts Globaleres als das Nationale“ gibt (Ory, S.173), gibt es wohl kaum ein kühneres Unterfangen als, wie Ory es unternimmt, eine Globalgeschichte der Nation schreiben zu wollen. Nicht nur ist die schiere Masse der zu beachtenden Fallbeispiele wahrhaft furchteinflößend, wobei diese in räumlicher Perspektive tatsächlich allseits ausgebreitet und in zeitlicher Perspektive einem kontinuierlichen Wandel unterzogen sind – denn keine soziale Kategorie, kein Staatsmodell, ja keine politische Idee haben sich in den letzten zwei Jahrhunderten dermaßen global ausgedehnt wie die Nation.1 Dabei scheint „global“ bei Ory zunächst nur als weltweit anzutreffende Form des kollektiven Zusammenschlusses von Menschen zu verstehen zu sein, deren typologische Analyse eben Zweck des groß angelegten Vergleichs ist.

Doch auch die Dichte und Bedeutsamkeit der wissenschaftlichen Bibliothek zum Thema mag den angehenden Autor durchaus zittern lassen, umzäunen doch Monumente der internationalen nation building-Forschung gleichsam als Säulenheilige das Eingangstor zu seinem Forschungsprojekt: Wer sich anschickt, sich mit dem nationalen Phänomen zu beschäftigen, kommt an den großen, verehrten Klassikern der Sozial- und Geschichtswissenschaften der 1980er-Jahre von Ernest Gellner, Benedict Anderson und Eric Hobsbawm nicht vorbei.2 Auch die wohlbekannte, hundert Jahre ältere Frage Ernest Renans, was eine Nation denn überhaupt sei, drängt sich gleich als unumgängliche Pflichtlektüre auf. „Qu’est-ce qu’une nation?“, lautete der zum Klassiker überhaupt avancierte Essay des großen Historikers und Gelehrten des 19. Jahrhunderts, der bekanntlich zunächst 1882 als Sorbonner Rede gehalten wurde und dabei ganz im Schatten des deutsch-französischen Kriegs stand, denn die französische Niederlage 1870 und die deutsche Annexion des sogenannten Reichslandes hatten die Frage nach der nationalen Zugehörigkeit des Elsass und des nördlichen Lothringens und darüber hinaus nach dem Primat der polis oder des ethnos in der Definition der Nation gerade neu entfacht. „Qu’est-ce qu’une nation? Une histoire mondiale“, lautet diesmal, nun entscheidend ergänzt um diesen sicherlich zeitgemäßen, doch nicht minder ambitionierten Untertitel, Pascal Orys in Frankreich bereits vieldiskutiertes Buch. Augenzwinkern und Hommage zugleich: Der Kulturhistoriker Ory schmückt jede einzelne Kapitelüberschrift mit einem Eingangszitat aus Renans essayistischem Urquell, was die strukturellen Kontinuitäten und den Langzeitcharakter des nationalen Phänomens seit diesem epochemachenden Bändchen bildhaft unterstreicht. Durch den Kunstgriff wird auch der Bogen gespannt zwischen Renans neuartigem Verständnis vom spirituellen und voluntaristischen Zusammenhaltsprinzip einer Nation („eine große Solidargemeinschaft, getragen vom Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch bringen will“) und Orys nachfolgender, bohrender Frage zu ihrer „Widerstandsfähigkeit“. Wie kommt es in der Tat, allen Unkenrufen zum Trotz und bei allem Gerede über das unausweichliche Aufbrechen eines postnationalen Zeitalters dazu, dass „die Nationen sich so hartnäckig weigern auszusterben“? Sicherlich unter dem Eindruck des Comebacks der Nation, macht Ory es sich zur Aufgabe, Antworten auf dieses sehr gegenwärtige Nachfragen zu finden. Der gegenwartsbezogene Ansporn, sich der „nationalen Frage“ (S. 11) wissenschaftlich anzunehmen, steht hier im nüchternen Gegensatz zur teils pathetisch formulierten Vergänglichkeit bzw. „Sterblichkeit“ eben derselben, wie sie selbst in Renans abschließenden Bemerkungen nachzulesen ist und dann im Wunschdenken des Internationalismus des 20. Jahrhunderts wiederholt postuliert wurde, von der postnationalen Debatte der letzten Jahrzehnte vor der Jahrtausendwende nicht zu sprechen. Wenn es einen „Sinn der Geschichte“ gibt, sei doch die besagte Hartnäckigkeit der Nation ein folgenreicher „Unsinn“, den es eingehend zu analysieren gilt (S. 21–50): Diese in den 1960er- und 1970er-Jahren seiner Jugend widerborstige Frage hat sich Ory, der nie einen Hehl aus seinem späteren Engagement für den Parti Socialiste gemacht hat, schon seit längerem zu einer „affaire personnelle“ („persönliche Angelegenheit“, S. 9) auserkoren, wie er gleich zu Beginn in einem spannenden, auto- und forschungsbiographisch geprägten Prolog festhält.

Aktuell lässt sich überall ein revival der Nation nicht zuletzt im populistischen Gewand beobachten, von den historisch gewachsenen und krisenbehafteten nationalen Befreiungsbewegungen, die in Schottland, Katalonien, Palästina, Kurdistan oder anderswo zyklisch für internationale Aufmerksamkeit sorgen, gar nicht erst zu reden. In dieser beunruhigenden Beobachtung wurzelt denn auch Orys Überzeugung, dass es nicht mehr genüge, die seinerzeit bahnbrechenden ideologiekritischen, kulturalistischen, eben „konstruktivistischen“ Ansätze eines Anderson oder Hobsbawm zum Konstruktionscharakter der „imagined community“ bzw. der „invention of tradition“ nur noch komfortabel und ohne großen Erkenntnisgewinn nachzubeten.3 Das Gebot der Stunde sei nun zu verstehen, wie und warum die Nation immer noch, oder wieder einmal, als quasi unerschöpfliche politisch-gesellschaftsbildende Ressource genutzt werden kann und wird.

So viel sei vorausgeschickt: In der derzeitigen französischen Geschichtsforschung gibt es vielleicht tatsächlich keinen besseren, spannenderen und legitimeren Autor als Ory, einen der geistigen Väter der histoire culturelle, dessen Verdienste vor kurzem mit der Wahl in die Académie Française gewürdigt wurden, um sich der Renan’schen Frage in ihrer globalen Dimension anzunehmen und einen Dialog auf Augenhöhe mit den oben genannten Größen der nation studies zu führen, denen Ory übrigens die anthropologischen Schriften eines Anthony D. Smith sowie Anne-Marie Thiesses in Frankreich einflussreiche Schrift „La création des identités nationales“ an die Seite stellt.4

Was Ory, der im Jahr vor „Qu’est-ce qu’une nation?“ einen Essay zum Populismus und inzwischen einen neuen Essay zum „ewigen“ Antisemitismus verfasst hat5, mit seiner Globalgeschichte der Nation dem Leser vorlegt, ist in der Tat eine imponierende, zugleich breite und – wie bei ihm üblich – ausufernde Synthese, die mit einem großen Reichtum an Beispielen auf globaler Ebene sowohl zeitlich-dynamisch als auch typologisch zu argumentieren versucht. Quintessenz seiner Reflexion ist schlussendlich eine Erkenntnis, die „sich in nur sechs Wörtern zusammenfassen lässt“: Eine Nation entsteht durch einen Akt der Verwandlung just in dem Augenblick, „da ein Volk das Volk wird“ bzw. zu dem Volk erklärt wird („un peuple qui devient le Peuple“, mit der Hervorhebung durch die optionale Großschreibung auf Französisch) (S. 423).

Um zu diesem knappen und bündigen Fazit zu kommen, baut Ory drei große, sukzessive aufgerollte Überlegungen auf, die jeweils die methodische Herangehensweise variieren, wobei der vergleichende, globalgeschichtliche Anspruch sich wie ein roter Faden durchzieht. Ory tastet sich zunächst, in seinen Worten, an die „Genetik“ der Nation heran, um sodann eine „analytische“ Auseinandersetzung mit der Kategorie preiszugeben, auf die schließlich noch ein „organisch“ genannter Blick folgt (S. 53). Diese drei großen Denkschübe sind wiederum jeweils in drei Unterkapiteln aufgeteilt: Im ersten, sog. „genetischen“ Teil mit dem Titel „Eine demokratische Erfindung“ geht es nacheinander um eine kontrastierende, folgenreiche Definition, was „ein“ Volk und „das“ Volk ausmache (S. 58, S. 85), sodann gleichsam genealogisch um eine situierte Entstehungsgeschichte dieser als „Tochter des Staates und der Freiheit“ entstandenen „neuen Idee im Abendland“ (S. 107–110), bevor über die „Globalisierung des Nationalen“ nachgedacht wird. Hier sieht Ory einerseits die (ideen- und diskursgeschichtlich gut nachlesbare) Ausstrahlungskraft der Freiheit, andererseits (sozialgeschichtlich und praxisbezogen zu untersuchende) Akkulturierungsphänomene am Werk, die er anhand einer tatsächlich globalen Fülle an historischen Exempeln analysiert. Den zündenden Moment für die nachfolgende success story (S. 110) der Nation sieht Ory bei seiner sukzessiven Betrachtung der englischen, der amerikanischen und der französischen Revolution im Zusammenwirken einer identitären Selbstbehauptung des Volkes als ethnos und eines politischen Projekts für das Volk als demos. Der moderne Souveränitätsbegriff (Bodin, Pufendorf) bildet hierfür den zentralen Begriff, wobei Ory als Kulturhistoriker die politisch-soziale Dynamik wichtiger als die philosophische Definition dieses Grundbegriffs ist, die an einem symptomatischen Paradigmenwechsel abzulesen ist. „Das ethnos ergab sich noch aus einer Überlieferung, während das demos zum Subjekt eines neuartigen Narrativs wurde, zu einem politischen Projekt und einer Zukunftsprojektion, in welcher ein Volk zu dem Volk wird“ (S. 106). Die Gründung der jungtürkischen Bewegung am 14. Juli 1889 dient ihm als Symbol für die weltweite Zirkulation eines jeweils an die spezifische Situation angepassten „Standardmodells“, was Ory an verschiedenen Beispielen wie dem Zionismus, dem türkischen Nationalismus (Atatürk), dem chinesischen Guomindang und der südafrikanischen Unabhängigkeitsbestrebung (Afrikaaner-Bewegung) plastisch zu zeigen vermag (S.172ff.).

Dass die Nation bei aller Unterschiedlichkeit der Umstände, der Kräfteverhältnisse und des tatsächlichen geschichtlichen Verlaufs stets auf einem Kunstgriff beruht und den kollektiven Glauben an einen Gründungs-Mythos voraussetzt, steht für Ory außer Frage. Den zweiten, Benedict Anderson – und Anne-Marie Thiesse – vielleicht am meisten verpflichteten „analytischen“ Teil widmet er sodann auch der Nation als einer „poetischen Konstruktion“ (S. 215). Ory zeigt, dass Politik eine Poetik gewissermaßen voraussetzt. Und dass diese Poetik eine immense historische Gestaltungskraft entfalten kann, hat doch dieses durch und durch politische und kulturelle Unternehmen der Nation sogar in Ländern wie der Schweiz mit ihrer Sprachenvielfalt oder den Vereinigten Staaten, die aus einer pluralistischen Geschichte hervorgegangen sind, erfolgreich funktioniert. So muss dem „fait national“ also eine kulturelle Fähigkeit zur kreativen, eben „poetischen“ Schöpfung zugesprochen werden, die Ory, seinem kulturalistischen Ansatz getreu, weit über andere historische Faktoren (etwa die Wirtschaft) stellt. In der Fähigkeit, sich zu erfinden und neu zu erfinden, liegt das Beharrungsvermögen der Nation, den verschiedenen Phasen der Moderne und der Postmoderne ungeachtet aller ideologiekritischer Entlarvung standzuhalten.

Auch im zweiten Teil des Buches werden drei Zugänge nacheinander betrachtet. Die zentrale Bedeutung des Raumes beim Projekt der nationalen Erfassung wird durch die doppelte Analyse der Benennung und Territorialisierung eines Raumes beleuchtet (man denkt dabei unwillkürlich an Houellebecqs „Karte und Gebiet“). Ory betrachtet zunächst den höchst performativen Moment des „Nennens und Benennens“ eines Raumes, für den die beiden Fälle Mazedoniens und Indonesiens zwei weit auseinanderliegende, sprechende Beispiele abgeben. Solche „Strategien der Namensgebung“ verhärten sich zusätzlich durch die gegenseitige Definition der „Ränder“ und der „Mitte“, die für den Erfolg eines nationalen Projekts unerlässlich ist. Brasilien und Brasilia dienen Ory als Vorbilder jener „Territorialisierung“ (S. 219–235). Wenn der Raum für das Volk eine fundamentale Größe darstellt, so spielt die Sprache als soziales Ein- und Ausschlusskriterium eine nicht minder wichtige Rolle, denn in ihr bietet sich ein Mittel gegenseitiger (An-)Erkennung an, auch wenn sprachliche Reinheit unauffindbar bleibt und dementsprechend höchstens in der Lage ist, tragische Purifikationsgedanken in die Welt zu setzen (S. 255). An Paradoxien und sich aus kulturellen und gesellschaftlichen Spezifitäten erklärenden Gegenbeispielen fehlt es in der Geschichte jedoch nicht, wie die Herauskristallisierung der offiziellen norwegischen Sprache zeigt. Von der Sakralisierung der Sprache führt denn auch kein langer Weg zur Bedeutung von Religion im „genetischen“ Prozess des nation building. Dem scheinbar unaufhaltsamen Prozess der Säkularisierung nicht nur in den modernen westlichen Gesellschaften, sondern auch in autoritären Demokratien und totalitären Regimes der Welt zum Trotz betont Ory die nachbleibende Bedeutung der Religion, die er in einem sehr weiten Sinne als spirituelles Bindungselement versteht, für das nationale Projekt. Im Kern liegt sie – um mit Max Weber zu sprechen – in einer für die nationale Integration unerlässlichen „charismatischen“ Funktion. Diese betrachtet Ory im globalen und historischen Vergleich anhand einer Fülle geschichtlicher Beispiele, angefangen beim deutschen „Kulturkampf“ Bismarck’scher Prägung bis hin zum Fallbeispiel Israels (mit kontrastierendem Blick auf Verfassung und Wirklichkeit der israelischen Politik und Gesellschaft) über die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen um ein laizistisches oder eben religiöses Gesellschaftsmodell innerhalb der algerischen Unabhängigkeitsbewegung der 1950er-Jahre und in den nachfolgenden Generationen von 1962 bis zu den blutigen 1990er-Jahren.

Den „Verzauberungen“, Weber noch einmal bemühend, die er beim nation building am Werk sieht, widmet Ory ein längeres Kapitel. Sie speisen sich in seinen Augen, Hobsbawm auf den Kopf stellend, eben aus einer langen „Tradition der Erfindung“, welche durchaus die „Erfindung von Traditionen“ beinhalten mag: Die Bedeutung von Emblemen, Symbolen, Ritualen und Narrativen wird hier mit einer beachtlichen Stringenz von einem Autor untersucht, der zu den aktivsten und präsentesten Beiträgern der epochalen sieben Bände der Lieux de mémoire von Pierre Nora zählt.6

„Politische Ressource“ heißt schließlich der dritte und letzte Teil, in welchem es nach und nach um die „Fortunes“, „Infortunes“ (Erfolg und Misserfolg) und „Incertitudes“ (Ungewissheiten) geht, die sich heutzutage um die Bedeutung, den Stellenwert und die Zukunft der Nation ranken. Ory erinnert an die totgesagte Nation aus der Zeit des übermächtigen Globalisierungsparadigmas und Globalisierungsdiskurses der 1990er- und beginnenden 2000er-Jahre. Die Debatte über eine mögliche Krise der Globalisierung, die Ory andeutet, bleibt dennoch offen, denn die dringendsten Fragen unserer Zeit wie die Klimakrise oder Gesundheitsfragen verlangen ja nach wie vor nach Antworten auf einer höheren Ebene als der nationalen Skala allein.

Anne-Marie Thiesses ebenfalls überaus detailreiche und überzeugende, mit ihrem starken Blick auf die Sozialgeschichte der deutschen Literatur gerade für hiesige Leser interessante Studie über die „fabrication“ des Nationalautors fokussiert ihrerseits auf einen konkreten Aspekt im Nationsbildungsprozess zunächst im europäischen, sodann im weltweiten Vergleich.7 Das 19. Jahrhundert als das Zeitalter der Nationen ist logischerweise auch das europäische Jahrhundert der nationalen Dichter (in Genderperspektive muss man gleich hinzufügen: es sind de facto fast ausschließlich Männer), auch wenn der Ruhm von Schriftstellern und Philosophen bereits in der Aufklärung bezeichnend gewachsen war. Thiesse zeichnet den Wandel dieser Figur vom nationalen Zeitalter bis zur globalen Gegenwart nach, beginnend mit der Verquickung von Romantik und Nationalgedanken und den Werken, Reflexionen und der grenzübergreifenden Rezeption eines Herder oder eines Walter Scott. Die Spezialistin für vergleichende nationale und regionale Identitäten in Europa bezeichnet in einer räumlich groß angelegten Untersuchung die Figur des Nationalautors als eine schillernde Figur, in der die Singularität des Genies kontraintuitiv als Verkörperung einer kollektiven, nationalen Identität gefeiert wird. In der absoluten Individualität des literarischen Werks liegen paradoxerweise Indizien und Merkmale des Reichtums, der Größe und Kreativität der Nation verborgen und vergraben, so die nationale Doxa, deren Aufdeckung Aufgabe der späteren Generationen und nationalstaatlicher Institutionen (Akademien, Schriftstellervereinigungen, Schulsystem) sein soll. Ein nationalpädagogischer Diskurs trägt zur nachträglichen Kanonisierung Dantes zur Zeit des Risorgimento in Italien oder Camões im Portugal der 1880er-Jahre, die im städtischen Raum eingefangen wird. Nicht, dass diese posthume Indienstnahme eines Autors niemals Stoff für nationalen Zank bärge. Die ukrainische vs. russische Vereinnahmungen Gogols exemplifizieren dies aufs Anschaulichste. Als Verkörperung des Volkes bzw. der Nation kommt dem Nationalautor eine exponierte Rolle besonders in Zeiten der Krisen, Kriege und Konflikte zu. Die Hypostasierung der „nationalen“ Literatur gipfelt vor 1900 (wie Victor Hugos von Millionen Menschen befolgtes Begräbnis zeigt), aber auch nach 1918 insbesondere unter den totalitären Regimes. Nicht genehme Autoren fallen umgekehrt im faschistischen Italien, in NS-Deutschland und der UdSSR ideologischen Säuberungswellen zum Opfer. Man sollte Anne-Marie Thiesse hoch anrechnen, dass sie ihr vertrautes 19. Jahrhundert verlässt, denn genau so spannend und originell wie bereits bei Ory sind ihre letzteren Kapitel, die bewusst über das klassische nationale Zeitalter hinausgehen. Die „Globalisierung des Nationalautors“ untersucht Thiesse mit vielen höchst anregenden Reflexionen über Roosevelts New Deal und das Federal Writer’s Project, als die USA trotz Weltwirtschaftskrise langsam, aber sicher den Status einer literarischen Großmacht im Weltvergleich gewannen. Afrikanischen Symbolfiguren wie Leopold Sedar Senghor widmet Thiesse ihr abschließendes Kapitel, das von einer nachdenklichen, weil unerwarteten Umkehrung von Andersons geleitet wird. Ist zum Beispiel die literarische und identitätsstiftende Bewegung der „négritude“ nicht damals an ihre Grenzen gestoßen, weil Afrika – vergleichbar mit dem heutigen, wenig erfolgreichen Ruf nach einer gemeinsamen europäischen Identität – eben eine „communauté non imaginée“ ist und bleibt?

Anne-Marie Thiesses wie Orys dezidiert geschichtswissenschaftliche Überlegungen können hier naturgemäß keine zukunftsgerichteten, und noch weniger definitiven Antworten liefern, nur im Licht geschichtswissenschaftlich abgeklärter Überlegungen die Eckdaten heutiger Fragestellungen signalisieren. Orys Erkenntnis, dass die Nation in der Globalisierung bisher nicht auflösbar war und wahrscheinlich noch lange kein Auslaufmodell sein wird, weil ihr Konstruktionscharakter nicht unbedingt Un-Authentizität bedeutet, und sie immer noch „die Ressource der Dominierten“ und „die große nützliche Fiktion moderner Gesellschaften“ ist (S. 414f.), kann nach solch kompakter und umfassender Beschreibung nur zu denken geben.

Anmerkungen:
1 Dazu Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009; Jörn Leonhard / Ulrike von Hirschausen, Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert, Göttingen 2009.
2 Ernest Gellner, Nations and Nationalism, Ithaca 1983; Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983; Eric J. Hobsbawm, Nations and Nationalism since 1780. Programm, Myth, Reality, Cambridge 1990.
3 Eric J. Hobsbawm / Terence Ranger (Hrsg.), The Invention of Tradition, in: Past and Present Papers, Cambridge 1983.
4 Anne-Marie Thiesse, La création des identités nationales. Europe XVIIIe-XXe siècles, in: Univers Historique, Paris 1999.
5 Pascal Ory, Peuple souverain. De la révolution populaire à la radicalité populiste, in: Le Débat, Paris 2017; ders., De la haine du Juif. Essai historique, Paris 2021.
6 Siehe u.a. Orys Artikel zum Lexikon Pierre Larousses, zur Gastronomie und zu den Jubiläen des Revolutionsjahres 1789 als französischen Erinnerungsorten in: Pierre Nora, Les lieux de mémoire, 7 Bde, Paris 1984–1992; siehe auch Pascal Ory, Une nation pour mémoire. Trois jubilés révolutionnaires. 1889 – 1939 – 1989, Paris 1992.
7 Jüngst zum Thema erschienen: Martial Poirson, Molière, la fabrique d’une gloire nationale, Paris 2022.

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