K. Schellbach: Erdbeben in der Geschichtsschreibung

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Titel
Erdbeben in der Geschichtsschreibung des Früh- und Hochmittelalters. Ursprung, Verständnis und Anwendung einer spezifisch mittelalterlichen Traditionsbildung


Autor(en)
Schellbach, Konrad
Reihe
Historical Catastrophe Studies / Historische Katastrophenforschung
Erschienen
Berlin 2021: de Gruyter
Anzahl Seiten
XII, 354 S.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Wozniak, Seminar für Mittelalterliche Geschichte, Eberhard Karls Universität Tübingen

Da Menschen kaum einer anderen Naturerfahrung so sehr ausgeliefert sein können wie einem Erdbeben, verlangen die seismischen Erschütterungen nach Erklärung. Dabei steht hinter der von den mittelalterlichen Autoren verwendeten Wendung terrae motus factus est magnus nicht nur eine Erläuterung, sondern eine ganz eigene Weltsicht, deren Verständnis sich Konrad Schellbach in seiner an der Universität Potsdam in Kooperation mit dem GeoForschungsZentrum Potsdam entstandenen Dissertation nähert. Ziel ist eine Rekonstruktion des früh- und hochmittelalterlichen Verständnisses von Erdbeben. Vorab ist noch anzumerken, dass mit dem hier zu besprechenden Band die neue von Dominik Collet, Christopher Gerrard und Christian Rohr herausgegebene Reihe „Historical Catastrophe Studies / Historische Katastrophenforschung“ eröffnet wird.

Bemerkenswert und in seinem Umfang einzigartig ist der Quellenbestand von 93 historiographischen und annalistischen Zeugnissen für das Beben am 3. Januar 1117 in Verona (S. 36). Aufgrund dessen bildet dieses Ereignis einen „Wendepunkt“ (S. 181) in der Wahrnehmung wie der Darstellung von Erdbeben, die „als Hinweis auf das bevorstehende Jüngste Gericht“ (S. 76) verstanden worden seien. Dies geht aus den Untersuchungen zur Beschreibung von Erdbeben (ab 782) vor 1117 und während des Ereignisses von 1117 hervor, als terrae motus mit facere oder mit esse oder nur terrae motus ohne Verb verwendet wurde (S. 181f.). Ab 1117 (bis 1250) etabliert sich dann die Begrifflichkeit terrae motus factus est als maßgebliche Beschreibungsweise.

Die Arbeit, die auf der Basis lateinischer Quellen eine überwiegend sprach- und toposbezogene Analyse leistet, besteht aus fünf großen Teilen. In der Einleitung (S. 1–24) werden Aufbau und Methoden skizziert. Ausgehend von den eloquenten lateinischen Erdbebenbeschreibungen in römisch-antiken Quellen leitet die Arbeit über zur qualitativen Reduktion der Beschreibung in der mittelalterlichen Schriftkultur. Im zweiten Kapitel „Bilder der Erschütterung – Erdbeben in der Geschichtsschreibung des Früh- und Hochmittelalters“ (S. 25–90) wird gezeigt, dass sich aus einer Vielzahl antiker Erdbebenbeschreibungen der Terminus terrae motus als einheitliche frühmittelalterliche Formulierungsgewohnheit etablierte. Dabei beleuchtet Schellbach auch, in welchen narrativen Varianten es die Geschichtsschreibung vermochte, die Erde sprachlich erbeben zu lassen und was sich daraus für die ereignisgeschichtliche Rekonstruktion ableiten lässt. Beispielsweise trennt das Beben von 1117 den Verbgebrauch von contingere (seit 1021) vom späteren accidere – was anschaulich auf schematischen Darstellungen (S. 89f.) abgebildet wird.

Im dritten Kapitel „Mittelalterliche Erdbebenbeschreibungen im Zeichen des Triviums“ (S. 91–224) wird die Einbettung der Erdbeben in antike und frühmittelalterliche theoretische Logikgebäude über die grammatische Konstitution des Erdbebenbegriffs vorgenommen. Im Vordergrund der Untersuchung Schellbachs stehen dabei die begriffs- und ideengeschichtlichen Provenienzen mittelalterlicher Erdbebenbeschreibungen. Für den geplanten parallelen Erdbebenkatalog1 werden die Möglichkeiten der Parametrisierung der Erdbebenbeschreibungen geprüft, also Fragen, ob und wieweit sich die qualitativen Aussagen der mittelalterlichen Zeugnisse in für die moderne Katalogarbeit nutzbare quantitative oder topographische Informationen umwandeln lassen, die dann der Historischen Seismologie als Datenbasis dienen können. Gerade so wichtige Fragen wie der räumliche Wahrnehmungsbereich eines Erdbebens oder die aus den Quellen abgeleitete Stärke von Erdbeben werden dabei veranschaulicht (S. 163–165). In Bezug auf die zeitliche Nähe der Quellenstellen zum Erdbebenereignis werden drei Kategorien vorgeschlagen: „zeitgenössisch“, „zeitnah“ und „vergangenheitsgeschichtlich“, deren Chakteristika ausführlich referiert werden. Insbesondere das Aufspüren falscher Erdbeben in der historischen Überlieferung gehört dabei zu den zentralen Aufgabenstellungen der Historischen Seismologie. Einmal unterliegen die mittelalterlichen Autoren eschatologischen Erwartungen, die sie dazu zwingen, Beben falsch anzugeben, um dem eschatologischen Deutungsmuster zu entsprechen. Andererseits nutzen sie Falschbeben, um späteren negativen Ereignissen ein Unheilszeichen (Prodigium) vorangehen zu lassen. Insgesamt wird festgehalten, dass sich der Erfolg der Geschichtsvermittlung aus der rhetorischen Schreibkompetenz des Historiographen ergab (S. 223).

Im letzten Großkapitel „Zur Einheit von Exegese und Geschichtsschreibung – Die mittelalterliche Erdbebenbeschreibung terrae motus factus est als Ausdrucksform christlicher Weltauslegung“ (S. 225–286) geht es um den Bezug zur Bibel: „Gemäß der für die mittelalterliche Weltdeutung autoritativen biblischen Vorlage betont das Argument ‚Erdbeben‘ eine Botschaft, welche mit dem Kreuz Christi, dessen Grab und seiner Auferstehung verbunden“ (S. 246) sei. Viel Raum nimmt hier die Auslegung der Erdbebenbeschreibung gemäß den geistigen Schriftsinnen ein (S. 246–283). Eine durch Erdbeben erfolgende Erinnerung an das Exemplum Christi ziele dabei maßgeblich auf eine hieraus abgeleitete Opfer- und Lebensbereitschaft ab, könne aber genauso einen typologischen Gegenpol bedeuten und als Personifizierung des Antichristen (konkret Heinrich V. als rex tyrannus) gedeutet werden (S. 257).

Die Schlussbetrachtungen (S. 287–302) können als mustergültige Analyse des Toposkonzeptes von Bornscheuer 1976 gelten2, die in dieser konzisen Ausführlichkeit vorher nicht zusammengeführt wurden. Es folgen ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 303–344) und Register, getrennt nach Sachen, Personen und lateinischen Formen (S. 345–352) sowie Orten (S. 353f.). Nach diesen aufwendigen theoretischen wie sprachanalytischen Überlegungen steigen die Erwartungen an den in Vorbereitung befindlichen Katalog aller betrachteten Erdbebenereignisse, die dem Untersuchungsgang zugrunde liegen.3

Einschränkend ist zwar zu betonen, dass „ein historiographisch überliefertes Erdbeben […] stets als Resultat einer Gegenwartsanalyse aufzufassen“ (S. 295) ist und erst durch die Analyse der Schreibermotivation wie -intention, der Quellentendenzen und der spezifisch mittelalterlichen Argumentations- und Erinnerungstechniken sich das Phänomen „Erdbeben“ evaluieren lässt. Dabei konzentriert sich die Darstellung sehr stark auf Erdbeben, ohne in einem übergeordneten Ansatz zu reflektieren, dass dies ebenso für zahlreiche andere Naturereignisse der mittelalterlichen Historiographie (wie Kometen, Finsternisse) gilt. Auch deren Darstellung unterlag seit der Spätantike einer vielfältigen Nutzung und Wandlung; auch diese Ereignisse wurden intentional eingesetzt. Einen zentralen Bezugspunkt bildet dabei die Johannesapokalypse mit der Erwartung des Weltenendes. Diesbezüglich werden Erdbeben von Schellbach vor allem als Ausdruck des Motivs der Theophanie interpretiert (S. 242–246).

Für Erdbeben, welche durch Mt 28,2 (Et ecce terraemotus factus est magnus) ausdrücklich mit dem Pantokrator Jesus Christus verbunden sind, liegt nun eine ausführliche Studie vor, die auf einer breiten Basis lateinischer Quellen den vielschichtigen Prozess von Ursprung, Verständnis, Auslegung und rhetorisch-narrativer Aussageabsichten der Erdbebenbeschreibungen vom 8. bis 13. Jahrhundert ausführlich erläutert. Es ist zu hoffen, dass es als beispielgebendes Werk ähnliche Untersuchungen zu anderen Naturereignissen anregt.

Anmerkungen:
1 Konrad Schellbach / Gottfried Grünthal, Vom Erdbeben der Erde im Früh- und Hochmittelalter. Ein parametrisierter, historisch-kritischer Katalog der Erdbeben im westlichen Europa vom 8. bis zum 13. Jahrhundert (in Vorbereitung bei De Gruyter).
2 Lothar Bornscheuer, Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft, Frankfurt am Main 1976.
3 Vgl. Anm. 1.

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