Th. Bohn u.a. (Hrsg): Belarus-Reisen

Cover
Titel
Belarus-Reisen. Empfehlungen aus der deutschen Wissenschaft


Herausgeber
Bohn, Thomas M.; Rutz, Marion
Erschienen
Wiesbaden 2020: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
X, 270 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Kusber, Historisches Seminar, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz

Die gefälschten Präsidentschaftswahlen in Belarus vom August 2020, die friedlichen Massenproteste und die gewaltsamen, menschenverachtenden Reaktionen des Regimes von Aljaksandr Lukaschenka und seiner Träger haben Belarus ins öffentliche Bewusstsein gebracht. Die Zahl der politischen Häftlinge geht unterdessen in die Hunderte. Belarus als Nachfolgestaat der Sowjetunion war bis zu diesem Zeitpunkt nur im Zusammenhang mit politischen Protesten gegen den seit 1994 amtierenden Staatschef Lukaschenka in den Medien, zumeist im Kontext der deutsch-russischen Beziehungen. Dem entspricht, dass sich nur wenige Historiker:innen, Slavist:innen und erst Gesellschaftswissenschaftler:innen mit Belarus als Forschungsgegenstand beschäftigt haben – der Rezensent eingeschlossen. In welchem Maße es verzerrt, Belarus aus einer russischen oder polnischen Perspektive wahrzunehmen, zeigen Publikationen, die Wissenschaftler:innen aus dem Land oder die wenigen Expert:innen, die es zu Geschichte, Gesellschaft, Politik und Erinnerungskultur in Deutschland gibt, zu Wort kommen lassen und damit eine solide Grundlegung für die intensivere Beschäftigung mit Belarus bieten.1

Der Sammelband „Belarus-Reisen“ geht einen anderen Weg, der schon im Titel angedeutet wird. Das Publikum soll lesend in ein Land, durch seine Kultur, in seine Geschichte reisen, dabei seine Sprache(n), seine Literatur kennenlernen und eingeladen werden, sich mit diesem relativ unbekannten Nachbarn der Europäischen Union zu befassen. Der Band ist vor allem eine Einladung an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, aber nicht nur an diese. Es ist kein Zufall, dass Thomas Bohn und Marion Rutz, die für die Herausgabe zeichnen, an der Universität Gießen tätig sind, wo Belarus im 20. Jahrhundert unter verschiedenen Aspekten seit geraumer Zeit gewinnbringend erforscht wird. Aber es ist mit Blick auf die 16 Beiträge auch schön zu sehen, dass Gießen nicht der einzige Standort in Deutschland (und darüber hinaus) ist, von dem aus Land, Region und Menschen für die Forschung erschlossen werden. Der Band versucht sich an etwas in der deutschen Wissenschaftslandschaft eher Seltenem: Die Autor:innen haben Essays vorgelegt, sie schreiben über ihre Zugänge und dies fußnotenfrei. Das erleichtert in mancher Hinsicht den lockeren Zugang; immer wird deutlich, was der „Sehepunkt“ der einzelnen Verfasser:innen ist, was sie mit Belarus verbindet. Das können ganz unterschiedliche Zugänge sein.

Felix Ackermanns Beitrag ist eine überarbeitete Version von schlaglichtartigen Blogbeiträgen aus Hrodno und der westlichen Belarus-Region aus dem Jahre 2006 und trägt einen montageartigen Charakter „vom Ufer der Memel“. Ruben Bierwald kontextualisiert seine studentischen Erlebnisse aus dem Jahre 2014, Thomas M. Bohn führt mit „Stadt – Land – Fluss“ in belarusische Geschichtslandschaften ein, reflektiert im Erzählen eigene Forschungen und stellt sie dem Erleben ausgewählter Menschen, etwa einer Zeitzeugin der Stalinzeit in einer ländlichen Enklave von Minsk gegenüber. Mark Brüggemann erläutert kundig und einleuchtend, auch vor dem Hintergrund eigener Zeitzeugenschaft die „sprachpolitischen Befindlichkeiten“ verschiedener Akteursgruppen im Wandel. Mit Manuel Ghilarducci lässt sich ein Ritt durch die gegenwärtige Musikkultur im digitalen Zeitalter, das die Protestformen der Opposition in dieser Form erst möglich gemacht hat, unternehmen. Tobias Haberkorn erzählt von seinem Erleben belarusischen Kriegsgedenkens und (quasi)sozialistischer Ritualisierung, vom ubiquitären Self-Fashioning des Staates, aber auch von Belarus als einem Land des Bäuerlichen.

Heinrich Kirschbaum nähert sich über Adam Mickiewicz und dessen Heimatort Nowogrodek belarusischen Geschichts- und Kulturlandschaften und führt diese mit Jaraslawa Ananka am Ende des Essays in einem Gedicht zusammen, das eine kondensierte Mickiewicz-Rezeption in belarusischer Variante darstellt. Gun-Britt Kohler verbindet eigene „Streifzüge und Grenzerfahrungen“ bei Reisen nach und in Belarus mit der Frage nach dem Ort der weitgehend unbekannten (und unübersetzten) belarusischen Literatur, die nicht nur in Minsk, sondern zunächst andernorts, z.B. vermittels der Zeitschrift „Nascha Niwa“ in Vilnius entstand. Kristina Kromm schließt mit ihrer Vermessung der „belarusischen Literaturlandschaft von innen und außen“ hier unmittelbar an, wobei sie sich auch auf Interviews mit belarusischen Schriftsteller:innen stützt, die im Rahmen eigener Forschung entstanden sind. Die Zweisprachigkeit, die je nach Wahl auch eine unterschiedliche Sichtweise auf die Geschichte und lebensweltliche Identifikation bedingt, wird nicht nur in diesem Beitrag sehr deutlich. Kromm verweist auch auf den ständigen Wandel, der sich hier vollziehen kann. Magdalena Waligorska plädiert in ihrem Beitrag über die vielen unerzählten Geschichten für eine Forschung durch persönliche Begegnung. Alisa Müller konzentriert sich auf ihre persönlichen Erfahrungen der „Sonnenstadt“ Minsk, Lennart Petrikowski hingegen stellt die Provinz und die ubiquitäre Präsenz des Sowjetischen in Architektur und Lebenswelt dort vor, wo „der einzige Tourist“ ist. Dazu passt der abschließende Beitrag von Jan Patrick Zeller, der Belarus-Bilder im Reiseführer als Gegenstände seiner Erkundung nimmt und dabei die gängigen Auto- und Heterostereotype zu dekonstruieren vermag, die auch in den anderen Beiträgen immer wieder thematisiert werden.

Die Erfahrungen deutscher Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg, Partisanenkampf als Teil einer eigenen Heldengeschichte, die Frage nach der eigenen Nation, dem eigenen Staat, der sowjetischen Erfahrung scheinen in vielen Beiträgen auf, der Homo sovieticus in seinen spezifisch belarusischen Varianten kann in Geschichte und Literatur gleich mehrfach entdeckt werden. Stefan Rohdewalds Essay führt tiefer in die Geschichte zurück. Anhand seines Interesses an der Stadtgeschichte, und insbesondere am vormodernen Polazk lässt sich erlesen, welche Verkürzung in einer Verengung auf die Zeigeschichte liegen kann und welche europäischen Verflechtungen dieser Region und ihrer Geschichte sich aufdrängen. Diesen Blick vertieft Marion Rutz in ihrem Bericht, der mit dem Reiseeindruck des Wechsels der Spurbreite der Eisenbahn bei Brest beginnt und der mit dem Rekurs auf den berühmten Simeon Polockij aber eben auch ins 17. Jahrhundert zurückführt. Nina Weller führt anhand dreier Zeitschnitte, den 1990er-Jahren mit der Prägung durch die Katastrophe von Tschernobyl, 2013 mit einem Abgleich von Reiseführerimagination und Erlebtem, 2017 und– schließlich angekommen in der bedrückenden Gegenwart 2020 und den „Stimmen aus Belarus“, jenem Projekt, in dem Verfolgte von der Beharrungskraft der gesellschaftlichen Opposition in Belarus berichten.

Der Sammelband ist eine unbedingt zu empfehlende Lektüre. Schon die unterschiedlichen Zugänge, die Divergenzen und Überschneidungen der Erfahrung mit Belarus bedingen, dass er nicht auf die Kohärenz anderer Sammelbände angelegt sein kann. Der Essay hat sich für dieses Buch als eine lohnende Form der Annäherung erwiesen, der auch Abschweifungen erlaubt, in denen manchmal das Interessante liegt. Die Beiträge haben hier sicher manches Karl Schlögel zu verdanken, der auf diese Weise Orte im östlichen Europa für eine breite Leserschaft aufgeschlossen hat. Allen Beteiligten an diesem Sammelband ist dies für Belarus, seine Kultur und seine Gesellschaft gelungen. Sie zeigen, dass es nicht um Weißrussland als einem Annex Russlands geht, sondern um eine eigene Geschichtslandschaft, die es transdisziplinär zu entdecken gilt.

Anmerkung:
1 Manfred Sapper / Volker Weichsel (Hrsg.), Macht statt Gewalt oder: Gewalt statt Macht. Belarus: Schritte zur Freiheit oder: Repression, Schikane, Terror (Osteuropa 10-11/2020), Berlin 2020; Belarus – ein Land im Umbruch (OST-WEST. Europäische Perspektiven 1/2021); gerade auch für die Zeit vor 1917/18 noch immer ein Standardwerk: Dietrich Beyrau / Rainer Lindner (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Weißrußlands, Göttingen 2001.

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