Im Rahmen des kolonialen „Wettlaufs um Afrika“ wurde der Kontinent unter den europäischen Großmächten aufgeteilt. Leopold II. (1835–1909), Herrscher des erst seit 1830 unabhängigen Königreiches Belgien, konnte sich auf der Berliner Afrika-Konferenz 1884/85 einen weitreichenden Einflussbereich in Zentralafrika sichern und gründete unmittelbar im Anschluss an die Konferenz den État indépendant du Congo (EIC). Als Privatkolonie Leopolds II. sollten die Ländereien, die sich heute auf dem Gebiet der Demokratischen Republik Kongo befinden, Belgien einerseits zu imperialer Weltgeltung führen, während sich der belgische König auf der anderen Seite hohe Profite durch den Abbau natürlicher Ressourcen erhoffte. Doch Leopolds II. Unternehmung drohte aufgrund hoher Anfangsinvestitionen und zunächst geringer Erlöse aus dem Rohstoffhandel zu scheitern, ehe die Kolonie ab den 1890er-Jahren im Zuge des sogenannten Kautschuk-Booms ertragreich wurde. Sklaverei, Zwangsarbeit, Folter und Geiselnahmen wurden im EIC rasch zur Regel, um die weltweite Nachfrage nach dem nachwachsenden Rohstoff zu decken. Die als „Kongo-Gräuel“ bezeichneten Verbrechen, vornehmlich verübt durch weiße Offiziere und Funktionäre sowie afrikanische Soldaten der Kolonialarmee Force Publique, führten schließlich zur Gründung der internationalen Congo Reform Association (CRA) durch den britischen Journalisten Edmund D. Morel (1873–1924) und den britischen Diplomaten Roger Casement (1864–1916). Im Zuge einer öffentlichkeitswirksamen Kampagne machte es sich die CRA zum erklärten Ziel, die Zustände im EIC international bekannt zu machen und den belgischen König Leopold II. zur Öffnung seiner protektionistischen Privatkolonie zu bewegen.
Der deutsche Soziologe Felix Lösing (geboren 1983) wirft in seiner englischsprachigen Dissertationsschrift einen kritischen Blick auf die Strukturen, die Motivationen und die Äußerungen der CRA, indem er verschiedene Formen rassistischer Haltungen innerhalb der Kongo-Reformbewegung im Zeitraum von 1890 bis 1913 näher betrachtet. Dabei versucht er, die in der Wissenschaft bislang unbeachtete Frage zu beantworten, aus welchen Gründen Brit:innen und US-Amerikaner:innen den Kongo als Ausgangspunkt ihrer Kritik am europäischen Kolonialsystem wählten. Der grundlegende Ansatz der sozialhistorischen Untersuchung geht davon aus, dass innerhalb der bisherigen Diskurse über den EIC, die Kongo-Gräuel und die CRA vereinfachende dichotomische Einteilungen vorgenommen wurden. Als einflussreichstes Beispiel nennt Lösing den Bestseller King Leopolds Ghost (1998) von Adam Hochschild, der durch die unterkomplexe Einteilung in die moralischen Kategorien „gut“ (CRA) und „schlecht“ (Leopold II.) etwaige Zwischenformen, Ambiguitäten und Paradoxien ausblendet. Selbsterklärtes Ziel der Arbeit ist der Beitrag zu einem „comprehensive understanding of racism in the context of the Congo reform movement“ (S.46) und einer „more accurate historiographic perception“ (S.46) der damit verbundenen Diskurse. Dabei aktualisiert Lösing bisherige Fehldarstellungen in Bezug auf die antikolonialen und antirassistischen Motive der CRA, denn „[…] the Congo reformers have at no point in their long-lasting activism politically (not to mention practically) supported this anti-colonial struggle“ (S. 27). Stattdessen seien die meisten Mitglieder der CRA Verfechter:innen des imperialen Einflusses europäischer Nationen gewesen, was grundsätzlich an die kolonialkritische Haltung der europäischen Sozialist:innen erinnert, in deren Lager man sich – wie in Belgien oder in Deutschland – über die Behandlung indigener Bevölkerungen durch europäische Nachbarländer empörte, den Kolonialismus an sich jedoch nicht in Frage stellte und jeweils eigene, nationale Kolonialprogrammatiken entwickelte.
Die Quellenbasis der Studie umfasst relevante historiographische Sekundärliteratur und eine Reihe an Primärquellen, die vorrangig vor dem methodischen Hintergrund hermeneutischer und diskursanalytischer Zugänge betrachtet werden. Hierunter fallen u.a. für das Thema relevante Äußerungen der CRA-Reformer:innen in Büchern, Berichten sowie Artikeln aus Zeitschriften, Zeitungen und andere Publikationen wie z.B. dem Congo News Letter; zudem offene Briefe, öffentliche Vorträge, Karikaturen, Malereien und Fotographien, die der Autor im Sinne der Diskursanalyse allesamt unter dem Begriff des „Textes“ subsumiert. Darüber hinaus zählen auch Reiseliteratur, Berichte von Henry Morton Stanley und anderen „Forschungsreisenden“, Reden und Verlautbarungen von Leopold II., offizielle Dokumente und Rechtsvorschriften des EIC sowie Protokolle der Berliner Kongo-Konferenz (1888) und der Brüsseler Antisklaverei-Konferenz zum Korpus. Dabei nimmt die Analyse neben textimmanenten Aspekten vor allem intertextuelle und interdiskursive Verflechtungen sowie soziologische Variablen, situative Rahmen und den übergeordneten (sozial-)historischen Kontext der Quellen in den Blick.
Der Aufbau des Buches gliedert sich wie folgt: Nach einer Einführung (Kapitel 1) und einem historischen Überblick (Kapitel 2) über wichtige Akteure, Entwicklungen und historische Ereignisse, die für das umfängliche Verständnis der Funktionsmechanismen und der Konfigurationen der CRA vonnöten sind, steht in Kapitel 3 (representation) die Analyse der Konstruktion von rassistischen Klassifikationen, Stereotypen und Ideen innerhalb der CRA im Fokus. Der Autor belegt am Beispiel von kanonischen Texten (u.a. Stanley, Joseph Conrad, Arthur Conan Doyle), Karikaturen und Fotographien, wie rassifizierende Alterität, Bilder des „fremden Anderen“, Opferrollen und Helfersyndrome konstruiert wurden. Kapitel 4 konzentriert sich anschließend auf die politische Entscheidungs- und Beeinflussungsebenen (politics) und beleuchtet die Praxis der Legitimierung, Materialisierung und Institutionalisierung rassistischer Repräsentationen. Im Mittelpunkt stehen hier die Nachwirkungen der Berliner Afrika-Konferenz als politischem Wendepunkt der europäischen Kolonialisierung sowie die damit verbundenen Konzepte von Nationalisierung und Monopolisierung, welche die Grundlagen für wirtschaftliche Ausbeutung und Unterdrückung in der Kolonie des belgischen Königs Leopold II. legten. In Kapitel 5 geht der Autor der Sozialisation von Rassismen innerhalb der CRA auf den Grund (societalisation) und fokussiert den sozialen Konstruktionscharakter von Rassismus und das symbolische bzw. ökonomische Potential, das der Gruppenformation in diesem Kontext grundsätzlich inne liegt. Hierbei zeigt Lösing auf, wie koloniales Weißsein in der Kolonie konstruiert wurde und welche sozialen bzw. wirtschaftlichen Privilegien mit diesem Status einhergingen. Auch wenn sich die Themenbereiche inhaltlich teilweise überschneiden, folgen die Analysekapitel einer synchronen Logik. Ein abschließendes Fazit fasst die wichtigsten Erkenntnisse der Arbeit prägnant zusammen. Der große internationale Erfolg der CRA wird hierin mit dem Verweis auf die rassistische Grundausrichtung erklärt, während gleichsam darauf aufmerksam gemacht wird, dass die CRA-Reformer:innen im Zuge ihres „humanitären“ Einsatzes für die unterdrückten Bewohner:innen im EIC keinesfalls antikolonial agierten.
Lösings Studie bietet einen wichtigen und längst überfälligen, weil rassismuskritischen Blick auf eine humanitäre Bewegung, von der viele akademische und publizistische Meinungsführer:innen behaupten, sie sei die erste Menschenrechtsbewegung der Moderne gewesen. Das vorliegende Werk ist durch akribische Recherche charakterisiert und resultiert in einer lesenswerten Rekonstruktion des historischen und kulturellen Diskurses um die CRA, ohne dabei ideologisch zu polarisieren oder zu relativieren. Der historiographische und methodologische Forschungsstand der gegenwärtigen Kongo-Forschung wird in den inhaltlichen Ausführungen und in der Bibliographie adäquat abgebildet. Die triadische Struktur der zentralen Analysekapitel, welche die übergeordneten Themenfelder behandeln, ist ein struktureller Beleg für den klugen Aufbau der Arbeit. Die Leserlenkung wirkt durch diesen sehr nachvollziehbaren Aufbau und die ebenfalls hervorstechende Kohärenz der Argumentationslinien sehr gelungen. In Bezug auf die Quellenauswahl räumt der Autor selbst ein, dass die Diversität der Korpustexte in Verbindung mit der Perspektivierung von drei Kontinenten und dem großen Untersuchungszeitraum gewisse Grenzen setzt. An dieser Stelle ließe sich zudem einwenden, dass die Heterogenität und der große Umfang des Quellenkorpus die Gefahr der oberflächlichen Behandlung der einzelnen Quellen mit sich bringen. Doch gerade in dem vergleichenden Überblick über die verschiedenen Textgattungen liegt die große Stärke dieser Studie, die erst durch die Quellenauswahl übergreifende sozial- und ideengeschichtliche Tendenzen und sich entwickelnde Dynamiken nachzeichnen kann. Stärkere Rückgriffe auf methodische Rahmungen aus der Postkolonialen Theorie, wie z.B. das Othering-Konzept von Stuart Hall oder Valentin-Yves Mudimbes Paradigma der Invention of Africa, hätten der Arbeit noch mehr theoretische Tiefe verliehen, die jedoch angesichts des vorhandenen Theoriebezugs und der sehr überzeugenden Korpusanalyse eine reine Ergänzung darstellt. Der Mythos-Begriff wird etwas vereinfacht eingeführt, wenn sich die Arbeit auf Max Horkheimer und Theodor W. Adorno bezieht (vgl. S. 32f.) und dabei die komplexe Begriffs- und Konzeptgeschichte verkennt. Aus sprachlicher Sicht fallen sehr vereinzelt Redundanzen bei der Verwendung von Adverbien (z.B. „however“, „moreover“) auf, welche die hohe sprachliche Qualität jedoch nicht beeinträchtigen. Diese wenigen Kritikpunkte haben jedoch kaum Auswirkungen auf die äußerst positive Gesamtbeurteilung der Arbeit, die eine Forschungslücke schließt und damit sowohl einen wichtigen Beitrag zur laufenden Aushandlung europäisch-afrikanischer Kolonialvergangenheit als auch zum sozialhistorischen Verständnis von Rassismus leistet.