S. Graber Majchrzak: Arbeit – Produktion – Protest

Cover
Titel
Arbeit – Produktion – Protest. Die Leninwerft in Gdańsk und die AG »Weser« in Bremen im Vergleich (1968–1983)


Autor(en)
Graber Majchrzak, Sarah
Reihe
Zeithistorische Studien (62)
Erschienen
Köln 2021: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
564 S.
Preis
€ 65,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rüdiger Ritter, Seminar für Ost- und Mitteleuropäische Studien, Universität Bremen

Dieses Buch kann man auf mehrfache Weise lesen. Geht man von Titel und Untertitel aus, dann kommt es zunächst als vergleichende Untersuchung zweiter Werftbetriebe daher, nämlich der AG Weser in Bremen und der Leninwerft in Gdańsk (Danzig). Damit ist die Untersuchung zunächst einmal ein wichtiger Baustein zu einer vergleichenden Geschichte des Kalten Kriegs auf Betriebsebene. Dieser Zugang führt ein unverdientes Schattendasein, ist er doch geeignet, die auch bei Fachhistorikern oft zu hörenden wohlfeilen Erklärungen von der Rückständigkeit des Ostblocks einerseits und der Überlegenheit des Westens hinsichtlich Technologie und Arbeitsbedingungen andererseits mit unerwarteten Fakten zu konfrontieren. Die Autorin kann hier mit interessanten Beispielen aufwarten.

Bereits im ersten Satz jedoch weist sie darauf hin, dass es ihr nicht nur um den Vergleich zweier Industriebetriebe geht. Die Auswahl der beiden Betriebe erfolgte weder zufällig noch nach rein branchenspezifischen Gesichtspunkten, sondern aufgrund ihrer besonderen Beziehungen zueinander und aufgrund der Tatsache, dass von der Danziger Leninwerft ein entscheidender Impuls ausging, dessen Folgen weit über das Arbeitermilieu hinausreichten: Mit der dortigen Streikbewegung des Jahres 1980 begann nämlich die Entstehung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność, die wiederum am Anfang des Systemwandels im gesamten Ostblock stand. Da es seit den 1970er-Jahren Kontakte zwischen beiden Werften gab, reiste im Dezember 1980 eine Delegation nach Bremen, um sich über die dortigen Arbeitsbedingungen zu informieren. Es gibt Hinweise darauf, dass die Streikbewegung der Danziger Werftarbeiter von interessierter Seite als Vorbild für Streiks in der Bremer Werft genommen werden sollte. Waren also möglicherweise die Arbeitsbedingungen vor Ort für den Ausbruch der Arbeiterstreiks in Polen viel ausschlaggebender als die politischen Bedingungen des Staatssozialismus? Trotz der Vielzahl der Untersuchungen über die Solidarność ist über diesen Aspekt verhältnismäßig wenig gearbeitet worden.

Sarah Graber Majchrzak gliedert ihre Untersuchung in zehn Kapitel, die sich zu mehreren Gruppen zusammenfassen lassen. In den ersten drei Kapiteln geht es um den Arbeitsprozess in den Werften. Zunächst legt die Autorin die Spezifika des Schiffbaus in der Bundesrepublik Deutschland und in der Volksrepublik Polen dar, wobei sie ihre Betrachtung mit dem Kriegsende 1945 einsetzen lässt. Sie zeigt auf, wie in beiden Ländern branchenspezifische Herausforderungen teilweise ähnlich, teilweise aber auch ganz anders gelöst wurden. Der Vergleich weist auf eine Gemeinsamkeit hin: Das Wohlergehen und das Überleben beider Werften hing wesentlich von unternehmerischen Entscheidungen ab – auch im Staatssozialismus. Rücksicht auf die internationale Auftragslage, kostendeckendes Wirtschaften und Beachtung kapitalwirtschaftlicher Regeln waren nicht nur für die Bremer, sondern auch für die Danziger Werft elementar. Marktwirtschaftliche Basisgrundsätze hatten also ganz offensichtlich auch in der staatssozialistischen Planwirtschaft Gültigkeit. Die Autorin weist darauf hin, dass der Staat den Arbeitern nicht alle Lohnforderungen erfüllen konnte, da er nicht zahlungsunfähig werden wollte.

Sodann stellt Graber Majchrzak die beiden betrachteten Betriebe im Einzelnen vor. Dabei weist sie auf das Spannungsverhältnis zwischen der Erfordernis individueller Fertigungsprozesse für jedes Schiff einerseits und Standardisierungs- und Automatisierungsprozessen andererseits hin, die in beiden Betrieben implementiert wurden. Sie kann zeigen, dass eine fortgeschrittene Automatisierung nicht unbedingt zum Prosperieren des Betriebs führte. Damit wird eine weitere grundlegende Gemeinsamkeit deutlich, die unabhängig vom Systemunterschied der Volkswirtschaften in beiden Ländern bestand.

Dass die Herausforderungen bei der Schiffsproduktion trotz unterschiedlicher Systeme und Absatzmärkte doch über weite Strecken sehr ähnlich waren (und auch in der Planwirtschaft dem Zwang zur Bewältigung von Absatzkrisen auf dem Weltmarkt unterlagen), ist eine wichtige Erkenntnis der Untersuchung. Es gab jedoch auch signifikante Unterschiede, insbesondere die Tatsache, dass in der AG Weser die Schärfe der Arbeitsdisziplin immer wieder erhöht wurde, während in der Leninwerft die Aufrechterhaltung der Arbeitsdisziplin durch die Komplexität des Betriebs erschwert wurde, zumal die Arbeiterschaft selbst ständig Material herbeischaffen musste, um den Arbeitsprozess technisch am Laufen zu halten.

Die folgenden Kapitel (4–7) beschäftigen sich mit den Belegschaften beider Betriebe und ihren jeweiligen Arbeitsbedingungen. Schwerpunktmäßig betrachtet Graber Majchrzak dabei den Zeitraum zwischen 1968 und 1983. Zunächst klassifiziert sie beide Belegschaften soziologisch, dann untersucht sie die Faktoren Arbeitszeit, Entlohnung und Sozialpolitik sowie das Problem der Arbeitsbelastung ausführlicher. Das demonstrative Gendern der Autorin erschwert mitunter die Lesbarkeit des Textes – wie wichtig aber vergleichende Untersuchungen zur Arbeit von Männern und Frauen in den Werften sind, demonstriert Graber Majchrzak mit ihren beiden kurzen, aber sehr gehaltvollen Ausführungen über weibliche Arbeitskräfte in den beiden Werften. Sie zeigt auf, dass in beiden Fällen Frauen eine wichtige Rolle in der Arbeitswelt spielten, und dass sie hier wie dort von ihren männlichen Kollegen anfangs misstrauisch beäugt wurden. Der Anteil von Frauen war in Danzig wesentlich höher als in Bremen, was primär mit der Notwendigkeit zur Sicherung des Lebensunterhalts durch ein zweites Einkommen in der Familie zusammenhing. Damit einher ging aber auch die Existenz einer Versorgungsstruktur aus Kinderkrippen, die es auch Frauen mit Kindern ermöglichten, am Arbeitsleben teilzunehmen, worauf sie später positiv zurückblickten. Die Leninwerft war für die Arbeiterinnen und Arbeiter in vielerlei Hinsicht der Mittelpunkt ihres Lebens. Arbeitszeit war zugleich auch Lebenszeit.

Überstunden machte man in der AG Weser aufgrund des hohen Drucks und des Arbeitskräftemangels. In der Leninwerft hingegen, in der kein Arbeitskräftemangel herrschte, hatten die Arbeiter ein finanzielles lnteresse an Überstunden. Unerwartet ist die Beobachtung, dass bessere Mitbestimmung in den Betrieben ganz offensichtlich nicht zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen führte. Angesichts der schweren körperlichen Arbeit und der hohen Unfallgefahr stand es um diese nicht zum Besten. Solange die Werften aber beide hauptsächlich profitorientiert arbeiteten, mussten Fragen der Arbeitssicherheit zurückstehen.

Die letzten drei Kapitel (8–10) widmen sich im weitesten Sinne der politischen Bedeutung der Arbeitsprozesse. Graber Majchrzak analysiert die Arbeits- und Konfliktbeziehungen innerhalb der beiden Betriebe, betrachtet grundlegende, den Arbeitsalltag bestimmende Arbeitskonflikte und beschäftigt sich schließlich mit der Frage der Wechselbeziehungen zwischen beiden Betrieben hinsichtlich der Streikbewegung, die in Danzig zur Entstehung der Solidarność führte.

Auch mit Blick auf die Arbeits- und Konfliktbeziehungen finden sich, wie Graber Majchrzak zeigt, eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten. Diese wurden allerdings – und auch darauf weist die Autorin hin – von den damaligen Akteuren nicht als solche wahrgenommen. Wahrgenommen wurden eher die Unterschiede, da der Systemgegensatz zwischen Ost und West von vornherein als Interpretationsraster vorgeschaltet wurde.

Hinzu kamen Faktoren, die in den Gesprächen zwischen polnischen und westdeutschen Betriebsangehörigen bestimmend waren: Diskussionskultur und politisches Gefüge waren in Polen und der Bundesrepublik Deutschland sehr unterschiedlich. Die Delegation der Danziger Streikenden, die 1980 nach Bremen kam, musste dort feststellen, dass sie die westdeutschen Gewerkschaften keineswegs als natürliche Verbündete voll und ganz auf ihrer Seite hatten. Umgekehrt blieb der direkte und geradlinige Habitus der Danziger Arbeiter den eher politisch denkenden westdeutschen Gewerkschaftsfunktionären fremd. Diese und andere Faktoren führten dazu, dass trotz ähnlicher Interessenlage und einer grundsätzlichen Aufgeschlossenheit so etwas wie eine westdeutsch-polnische Arbeitersolidarität über Symbolpolitik nicht hinauskam. Zu groß waren die politischen und gesellschaftlichen, aber eben auch die arbeitsweltlichen Unterschiede.

Der unbefriedigende Verlauf der Gespräche zwischen Danziger und Bremer Betriebsangehörigen verdeckt jedoch die Tatsache, dass diese sich nicht nur in den Kontext internationaler Arbeitersolidarität, sondern darüber hinaus auch in gesamteuropäische Diskussionen über Arbeitsbedingungen und den gesellschaftlichen Umgang mit Produktionsstätten einfügten. Diese wurden nicht nur von Arbeitern, sondern ganz wesentlich auch von intellektuellen Milieus mitbestimmt. Das ist deshalb nicht unwichtig,weil die Solidarność als europaweit sichtbarer Ausdruck von Opposition im Staatssozialismus sich gerade aus diesem Zusammenspiel der Arbeiterbewegung mit der von Intellektuellen geprägten Dissidentenbewegung speiste. So gesehen hatte die Solidarność auch eine gesamteuropäische Wurzel, nicht nur eine polnische – selbst wenn dieser Aspekt in der vorliegenden Untersuchung mit ihrer wohlbedacht begrenzten Perspektive naturgemäß nicht thematisiert werden kann.

Wohl aber kann Graber Majchrzak gerade wegen dieser klug begrenzten Perspektive auf etwas anderes hinweisen: Die Solidarność war nicht nur eine Protestbewegung streikender Werftarbeiter, sondern entstand an dem Punkt, an dem die Proteste gegen betriebliche Arbeitszusammenhänge sich mit weitreichenden gesellschaftlichen Reformvorstellungen verbanden, die nicht nur Werftarbeiter, sondern alle anderen sozialen Schichten mit einbezogen. Nur deswegen konnte die Solidarność ihre außergewöhnliche gesellschaftliche Durchschlagskraft erlangen. Insbesondere die Verbindung des Arbeiterprotests mit dem Milieu der dissidentischen Intellektuellen ist hier als wesentliche Erfolgsgeschichte zu nennen. Sarah Graber Majchrzaks konsequent auf die beiden untersuchten Betriebe bezogene Perspektive lässt hingegen deutlich zu Tage treten, dass der Solidarność auf dem ursprünglichen Gebiet der Verbesserung der betrieblichen Arbeitsbedingungen kaum ein Erfolg beschieden war.

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