Im Zuge der Erinnerung an den Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 erschienen rund um das Jahr 2014 zahlreiche neue Publikationen, die einerseits eine Neuperspektivierung der Ursachen, Entwicklungen und Auswirkungen des Krieges zum Ziel hatten und anderseits auch bislang in der historischen Forschung wenig berücksichtigte Aspekte und Themenbereiche beleuchteten. Der Weltkrieg wurde rund um das Gedenkjahr Gegenstand breiter gesellschaftlicher und medialer Debatten und war Thema von Sonderausgaben vieler Zeitungen und Zeitschriften ebenso wie von unterschiedlichen Dokumentationen, Ausstellungen, TV-Formaten bis hin zu Computerspielen. Christopher Clarks bereits 2013 erschienene Studie „Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“1 löste nicht zuletzt durch ihre Anschlussfähigkeit an gegenwärtige politische Entwicklungen breite Debatten aus und spiegelte mit ihrem transnationalen Zugang zugleich ein Spezifikum der historischen Arbeiten rund um 2014 wider. Neben dieser transnationalen Perspektivierung zeichneten sich viele weitere Studien auch durch einen Blick auf die Lebens- und Alltagswelt sowohl der Zivilbevölkerung als auch der Soldaten aus, womit der Weltkrieg neben der Militärgeschichte auch vermehrt Untersuchungsgegenstand der Sozial- und Kulturgeschichte wurde.
Bei eben dieser Fokussierung auf die Kriegserlebnisse und Kriegserfahrungen knüpft die 2020 publizierte Dissertation „Comrades Betrayed. Jewish World War I Veterans under Hitler“ von Michael Geheran, der am Center for Holocaust & Genocide Studies der US-Militärakademie Westpoint forscht, an. Geherans Studie reiht sich dabei mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung in zahlreiche vor allem um 2014 erschienene neuer Arbeiten zum Ersten Weltkrieg aus jüdischer Perspektive ein, deren Verdienst darin liegt, den Ersten Weltkrieg als einen Wendepunkt der europäischen jüdischen Geschichte in den Fokus gerückt zu haben.2 Denn lange Zeit war die Bedeutung des Weltkrieges und seiner Folgen für die jüdische Bevölkerung Zentraleuropas von der Erfahrung der Shoa überlagert worden und es geriet aus dem Blick, dass der von Pogromen begleitete Zerfall der drei multiethnischen Imperien und der damit verbundene Siegeszug des nationalstaatlichen Prinzips ebenso fundamentale Auswirkungen auf das Leben und Selbstverständnis von Jüdinnen und Juden hatte wie die konkreten Gewalterfahrungen während und nach dem Krieg. Neben dem Anstieg des Antisemitismus sind in diesem Kontext vorrangig die Reformulierung des Verhältnisses der jeweiligen jüdischen Minderheit zu den neuen Staaten und den nichtjüdischen Mehrheitsbevölkerungen, wie auch der Aufstieg des Zionismus, als Antwort auf die multiplen Krisen zu nennen. Mit Blick auf Deutschland waren es vor allem die Kriegsniederlage und ihre Folgen.
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen plädiert Michael Geheran in seinem lesenswerten Buch dafür, dass die rund 80.000 ehemaligen jüdischen Soldaten des deutschen Kaiserreiches auf Grund ihrer (spezifischen) Kriegserfahrung als eine eigene Gruppe zu betrachten seien, die sowohl den Krisen der Weimarer Republik ebenso wie der Verfolgung durch die Nationalsozialisten ab 1933 anders begegnete als jene Jüdinnen und Juden, die diese Erfahrungen nicht gemacht hatten. Patriotismus, soldatische Männlichkeits- und Ehrkonzepte ebenso wie Vorstellungen von Kameradschaft seien die Grundlagen eines distinkten Umgangs der ehemaligen jüdischen Frontsoldaten mit Antisemitismus und NS-Verfolgung wie auch mit der nichtjüdischen Umgebungsgesellschaft. Dabei rekurriert der Autor auf eine häufig und in viele Variationen erzählte Geschichte, wonach ehemalige jüdische Soldaten im Angesicht der nationalsozialistischen Bedrohung immer wieder in Uniform und unter Hinweis auf Kriegsdekorationen die Kameradschaft des Schützengrabens anriefen. Sie forderten mit Verweis auf ihren Dienst am Vaterland die Einhaltung des Versprechens ein, wonach ihnen für ihren Kriegsdienst staatbürgerliche Rechte und Partizipation am politischen Gemeinwesen zustehe. Laut Geheran war dies ein Versprechen, das viele ehemalige nichtjüdische Kriegskameraden in den Jahren der NS-Herrschaft auch gehalten haben.
Um die aufgeworfenen Fragen der spezifischen Erfahrungen und des spezifischen Umgangs mit Antisemitismus und NS-Verfolgung von jüdischen Kriegsveteranen zu beantworten, unterteilt sich die Studie in chronologisch und thematisch gegliederte Kapitel, die 1914 ansetzen und bis in die Nachkriegszeit reichen. Am Beginn steht demnach die Beschäftigung mit den spezifischen jüdischen Kriegserfahrungen während des Weltkrieges, die von spezifischen Erwartungen an den Kriegsdienst (gesellschaftliche Anerkennung) sowie deren Enttäuschung durch die sogenannte Judenzählung und den Antisemitismus geprägt waren. Zugleich zeigt sich aber auch, dass sich die elementaren Erfahrungen von Gewalt und Entbehrungen nicht von jenen ihrer nichtjüdischen Kameraden unterschieden. Als die jüdischen Soldaten nach der Kriegsniederlage in ein wirtschaftlich und politisch erschüttertes Land zurückkehrten, gaben sie im Gegensatz zu anderen, so Geheran, dem rabiaten Antisemitismus nicht durch Rückzug aus der Gesellschaft nach, sondern beschworen ihren Patriotismus, ihren Kriegsdienst für das Vaterland sowie ihre Kameradschaftserfahrung und kämpften aktiv für ihre Position in Staat und Gesellschaft. Dieses Beharren auf staatsbürgerliche Gleichheit und den Glauben an den Rechtsstaat und die Bedeutung der imaginierten Schützengrabengemeinschaft hielten sie auch nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 aufrecht. Und tatsächlich fühlten sich die Nationalsozialisten in dieser ersten Phase der Verfolgung noch an das Versprechen an die Bürgersoldaten gebunden und machten in ihrer Verfolgungspolitik Ausnahmen für jüdische Veteranen. Einen Wendepunkt stellten hier schließlich die Nürnberger Gesetze dar, die das Ende der Emanzipation und damit des Versprechens Kriegsdienst für staatsbürgerliche Gleichheit brachten, wobei Geherans biographische Beispiele zeigen, dass auch über den Bruch von 1935 hinweg Formen nichtjüdischer Solidarität mit den ehemaligen jüdischen Kriegskameraden bestanden.
Der nächste Markstein war das Jahr 1938 mit der Radikalisierung der Verfolgungsmaßnahmen durch den „Anschluss“ Österreichs und die Reichspogromnacht. Nun wurden auch jüdische Veteranen konsequent inhaftiert und spätestens mit der Wannseekonferenz in die Lager deportiert. Zwar gab es durch die Deportation von dekorierten Weltkriegsveteranen nach Theresienstadt eine gewisse Form besserer Behandlung, die Geheran auf noch existente Formen der Kameradschaft mit den jüdischen Soldaten zurückführt, doch am Ziel der Vernichtung änderte das nichts. Vielmehr verweist diese Praxis darauf, dass sich die Nationalsozialisten trotz aller konkreten politischen Zwangsmaßnahmen und propagandistischen Bemühungen des Ausschlusses von Jüdinnen und Juden aus der NS-Volksgemeinschaft nicht ohne weiteres über die fest in der Bevölkerung verwurzelte moderne Sinnstiftung des Kriegsdienstes als Dienst am Vaterland, an der nationalen Gemeinschaft hinwegsetzen konnten.
Geherans bemerkenswerte Studien stützt sich neben archivalischen Quellen vor allem auf Egodokumente von jüdischen Soldaten des Ersten Weltkrieges. Es sind Tagebücher, Briefe und Lebenserinnerungen, die während und nach dem Ersten Weltkrieg ebenso verfasst wurden wie mit der Erfahrung der Shoa nach 1945. In diesen Quellen, die einen Blick in die Erfahrungswelten der Soldaten ermöglichen, liegt die Stärke der Arbeit und zugleich ergeben sich daraus auch weiterführende Fragen. Denn Lebenserzählungen und Egodokumente sind stets von der jeweiligen Zeit und Lebenssituation abhängige Sinnstiftungen. Sie versuchen dem Erlebten Bedeutung zu geben, blenden dabei einzelne Ereignisse aus oder betten sie in eine sinnvolle Lebenserzählung ein. Daher sind sie vor allem Ausdruck des Umgangs mit und der Verarbeitung von traumatischen Erlebnissen während des Ersten Weltkrieges, in der Weimarer Republik und unter der NS-Herrschaft. Eingebettet sind diese Prozesse der Sinnstiftung in die jeweiligen Erfahrungswelten und damit verbunden die jeweiligen Wert- und Moralvorstellungen. Mit Blick darauf ist kritisch zu fragen, ob man die jüdischen Kriegsveteranen überhaupt als eine Gruppe fassen kann. Gab es eine klar beschreibbare jüdische Kriegserfahrung, oder unterschied sich diese als Prozess der Sinnstiftung nicht auf Basis unterschiedlicher sozialer Herkünfte, unterschiedlicher religiöser und politischer Überzeugungen ebenso wie individueller Lebensläufe? Dies berücksichtigend, ist das Bild der Erfahrungswelten jüdischer Soldaten des Ersten Weltkrieges wahrscheinlich doch heterogener, als dies die Studie von Geheran vorschlägt.
Anmerkungen:
1 Christopher Clark, Sleepwalkers. How Europe went to War in 1914, London 2013.
2 Exemplarisch: Sarah Panter, Jüdische Erfahrungen und Loyalitätskonflikte im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2014; Tim Grady, A Deadly Legacy. German Jews and the Great War in History and Memory, New Haven, CT 2017.