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Titel
Das KZ-Universum. Aus dem Französischen von Olga Radetzkaja und Volker Weichsel. Mit einem Nachwort von Jeremy Adler und Erläuterungen von Nicolas Bertrand


Autor(en)
Rousset, David
Erschienen
Anzahl Seiten
141 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Kranebitter, Institut für Soziologie / Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Universität Graz

Es gibt Bücher, bei denen man nur mit Verwunderung feststellen kann, dass sie noch nicht ins Deutsche übersetzt wurden. David Roussets „L‘universe concentrationnaire“ ist eines davon. Der Autor und seine Bücher sind in Frankreich in literarischen und philosophischen Kreisen weithin bekannt. Mit Jean-Paul Sartre befreundet und von Maurice Merleau-Ponty ermutigt, seine KZ-Erfahrungen niederzuschreiben, wurde Rousset etwa auch von Simone de Beauvoir in ihrem Roman „Die Mandarins von Paris“ literarisch verewigt. Sein Buch übte nach entsprechender Übersetzung als „The Other Kingdom“1 auch jenseits von Frankreich großen Einfluss aus, etwa auf Hannah Arendt oder George Orwell, der die britische Übersetzung Korrektur las. Es prägte damit den Diskurs über die Konzentrationslager nachhaltig, vergleichbar vermutlich nur mit Eugen Kogons „Der SS-Staat“. Auf Deutsch erschien Roussets Buch allerdings erst jetzt, 2020, 75 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager.

Was der Grund dafür sein könnte, deutet der Literaturwissenschaftler Jeremy Adler in seinem Nachwort zum Buch an: Es habe im Deutschen bereits viele Bücher über das KZ Buchenwald gegeben, der Stil des Buches – ein Bericht zwischen Lyrik und Analyse – sei wie auch die impliziten Voraussetzungen des Pariser Kontextes für deutsche Leser nicht ohne Weiteres nachzuvollziehen gewesen. Zudem habe Rousset als heterodoxer französischer Marxist im konservativen Nachkriegs-Deutschland wenig Kontakte gehabt (vgl. S. 135). All das trifft zweifellos zu, erklärt das Nicht-Erscheinen aber nur teilweise. Eine große Rolle spielt vielmehr das Erzählte selbst, wie im Folgenden ausgeführt werden soll.

David Rousset studierte bis 1932 Philosophie und Literatur an der Pariser Sorbonne und wurde Lehrer an einer Privatschule.2 Ab 1931 war er Mitglied der sozialistischen Studentenorganisation, aus der er ausgeschlossen wurde, weil er in Paris Trotzki getroffen hatte. 1936 gehörte er zu den Gründern der trotzkistischen Parti ouvrier internationaliste, bis 1940 schrieb er für die US-Magazine „Fortune“ und „Time“. Nach der Besetzung Frankreichs war Rousset Mitglied der Resistance-Gruppe „Travail Allemand“, die versuchte, die Wehrmacht zu unterwandern, und gab eine Untergrundzeitung heraus. Die Gestapo verhaftete ihn am 12. Oktober 1943 und deportierte ihn im Januar 1944 über Compiègne ins KZ Buchenwald. Bis zur Befreiung war Rousset in den Neuengammer Außenlagern in Porta Westfalica und Helmstedt-Beendorf inhaftiert. Als Beendorf am 9. April 1945 evakuiert wurde, irrte der Transport umher, bis er am 15. April in Wöbbelin ankam, das bis zur Befreiung drei Wochen lang als Aufbewahrungs- und Sterbelager fungierte. Wie zeitgenössische Fotos festhalten, war es Rousset, der den GIs der U.S. Army nach der Befreiung vom 2. Mai 1945 das Lager Wöbbelin zeigte.

Seine ehemaligen Mithäftlinge pflegend, infizierte er sich mit Typhus und wurde nach seiner Rückkehr nach Paris am 18. Mai 1945 sofort ins Krankenhaus eingeliefert. Bereits im Sommer 1945 begann er mit der Niederschrift des Buches, dessen Grundzüge er schon im Lager geplant hatte, und stellte das Manuskript innerhalb von drei Wochen fertig. Der Text erschien ab Winter 1945 in drei Teilen in der Zeitschrift Revue internationale, ehe er 1946 aufgrund des großen Erfolges als Buch veröffentlicht und schließlich mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet wurde, den 1947 etwa auch der Mauthausen-Überlebende Jean Cayrol erhielt.3

Roussets Werk wird oft nicht nur als literarisches, sondern auch wissenschaftliches Buch über die Konzentrationslager gelesen, als Analyse eines unorthodoxen Marxisten, der Trotzkis Makro-Analysen des Nationalsozialismus für die Analyse der Lager verwendet habe. Tatsächlich bleibt dieses Ummodeln aber wie aufgesetzt, weil rein begrifflich. In den Lagern sieht Rousset die Herrschaft der Bürokratie, die gar „mit den Lagern auf die Welt gekommen“ sei (S. 65). Die „Theorie der Macht“ (S. 67ff.) bleibt im Vergleich zu Trotzkis eingehender Beschäftigung mit der Bürokratie des Stalinismus erstaunlich fahl. Ebenso wenig reflektiert ist die Rede von Klassen (S. 61ff.) und Klassenkämpfen (S. 87ff.) zwischen den Häftlingen, die lediglich wie die Aufzählung von Codewörtern wirken, die in einer orthodox-marxistischen Basis-Überbau-Schematik gipfeln: „Hinter den eingestürzten idealistischen Fassaden und Mythen, in der Nacktheit des KZ-Universums, wurde offensichtlich, dass die Lage des Menschen von ökonomischen und sozialen Strukturen abhängt.“ (S. 102)

Was an Roussets „Das KZ-Universum“ besticht, ist nicht die Makro-, sondern die Mikroanalyse – die Unmittelbarkeit, Resultat der merkbar schnell geschriebenen Erinnerung zu einem Zeitpunkt, an dem noch kein Diskurs über die Konzentrationslager existierte. Das wird etwa in den psychologischen Skizzen seiner Mitgefangenen deutlich. Rousset skizziert den Habitus der concentrationnaires (auf Deutsch etwas holprig mit „KZ-Personen“ übersetzt) in ihrem Habitat: als bizarre Figuren, innerlich nackt, gedemütigt und ausgemergelt. Der Autor fühlt, spricht und lebt buchstäblich immer noch innerhalb der „Häftlingsgesellschaft“ der Lager, nimmt immer noch spürbar Anteil an den Mikro-Konflikten des Blocks, die in der Lagerzeit über Leben und Tod entschieden, ihren Sinn und ihre Erzähl- und Vermittelbarkeit nach der Befreiung aber schlagartig verloren. Die harte Sprache spiegelt die Härte des Lagers wider. „Rollwagenkapo“ Alfred beherrsche den Schwarzmarkt und schätze Mozart: „Sonntags singt er gern in kleiner Runde stundenlang sentimentale alte Lieder. Gestern hat er Rudolf windelweich geprügelt, weil der seinem Liebhaber Heinz, dem Pfarrer, einen schmutzigen Antrag gemacht hatte.“ (S. 21) Die Widersprüche des Konzentrationslagers prallen unvermittelt in stakkatoartigen Halbsätzen regelrecht aufeinander. Jeder Halbsatz verdichtet Tragödien und Tabus. „Kapo“ Otto skizziert Rousset als hässliche Figur, die der eigenen Dummheit überdrüssig sei. „Fünfhundert Meter unter der Erde, in den dantesken Gängen des Schacht Bartensleben, schlägt er blind auf die Unglücklichen in seinem Kommando ein. Er schlägt unablässig, verzweifelt, aus Angst. Otto, der Vorarbeiter, hat vor allem Angst: vor dem Kapo, den zivilen Meistern, den Posten. Noch in der Nacht, noch im Traum hat er Angst.“ (S. 24)

Viele Überlebende hatten damit zu kämpfen, dass ihnen die eigenen Erfahrungen mit dem Zeitpunkt der Befreiung selbst unvermittelbar schienen. Robert Antelme, dessen Buch „Das Menschengeschlecht“ ebenfalls bald zu den bekanntesten Werken französischer Autoren über die Konzentrationslager zählte, schreibt etwa: „Wir wollten sprechen, endlich gehört werden. Und doch schien es uns vom ersten Tag an unmöglich, die uns bewußt gewordene Kluft zwischen der Sprache, über die wir verfügten und jener Erfahrung, die wir größtenteils immer noch am eigenen Leib verspürten, auszufüllen […]. Kaum begannen wir zu erzählen, verschlug es uns schon die Sprache.“4 Die Sprache der Konzentrationslager unterschied sich für ihn vollkommen von jener der äußeren Welt, sie war als Lagersprache eine reduzierte Minimalsprache, die den aufs nackte Leben reduzierten Lebensbedingungen entsprach.

Mit Antelme gelesen, hat Rousset diese Lagersprache bewahrt, das Buch selbst ist in „Lagersprache“ verfasst. Im Guten verhindert dieses Hinüberretten der Sprache aus dem KZ-Universum, jenem „Universum für sich, abgeschottet von allem, ein seltsames Reich, in dem eine mit nichts zu vergleichende Notwendigkeit herrscht“ (S. 19), eine retrospektive Glättung von Widersprüchen, bleibt ungefiltert, authentisch, um dieses Wort zu bemühen: Das Unpassende wird unpassend beschrieben, nicht in kulturelle Formen der Außenwelt gepresst und damit grotesk verzerrt. Genau das hob auch der Schriftsteller Ramon Guthrie anlässlich des Erscheinens seiner amerikanischen Übersetzung des Buches hervor: Die KZ-Erfahrung vermitteln zu wollen, sei so unreal wie ein geborgter Alptraum – und doch sei genau das Rousset gelungen.5 Im Schlechten ist diese Unmittelbarkeit und Diskursfreiheit allerdings auch eine Distanzlosigkeit, die der Analyse nicht gerade förderlich ist – und gerade diese Analyse zu leisten behauptet Rousset (vgl. S. 27), dessen Buch damals wie heute im Feuilleton oft als soziologische Analyse missverstanden wurde.

Die Unmittelbarkeit wird vor allem dort zum Problem, wo die Zuschreibungen, Denkgewohnheiten und Urteile der „Lagergesellschaft“ und damit ihre Mythen und Stereotype ungebrochen reproduziert werden. Russen und Ukrainer? „Eine wütende Meute von Heranwachsenden“ (S. 33). Polen? „[E]rstaunlich unkultivierte, dumpf nationalistische Leute“ (S. 34). Griechen? Manche „erschöpfte, verdreckte, desorientierte Widerständler“ (ebd.), die meisten aber doch nur „levantinische Gauner mit üppigen, dicht gekräuselten Bärten in den finsteren Visagen“ (ebd.). Holländer seien „trübsinnige Männer“ (ebd.), Tschechen und Luxemburger diszipliniert und ausgrenzend, Dänen „naive Razziabeute“ (ebd.). Die nicht-politischen Häftlingsgruppen bestünden aus „Strafrechtlern“ (S. 32), Prostituierten, „Nicht-Assimilierbaren“ wie „Zigeunern“, „Landstreichern“ aller Art, außerdem Gestörten, Kranken, Perversen, Homosexuellen (S. 37). Man möchte meinen, Rousset ruft den Blick der SS auf die durch unmenschliche Behandlung zu Unmenschen Gemachten vor Augen, um ihn zu brechen, durch Übertreibung ad absurdum zu führen. Diese Interpretation ist allerdings durch nichts im Text gedeckt. Die Lager-Stereotype über die Konzentrationäre werden mehr als Wahrheiten denn als Probleme transportiert. Das zeigt sich am deutlichsten bei Roussets Behandlung der „Grünen“, die er konsequent als „Strafrechtler“ bezeichnet, doch mit dem Strafrecht hatte ihre Deportation nur mehr höchst indirekt zu tun, denn ihre Deportation vollzog die Kriminalpolizei mit dem polizeilichen Instrument der Vorbeugungshaft. Sie sind es, die mehr als die SS für alle Übel verantwortlich gemacht werden: „Die Grünen tun allein schon aufgrund ihrer zahlenmäßigen Stärke, was sie wollen. Sie machen jede Solidarität unmöglich und falsch. Sie etablieren Gewalt und Hinterlist als einzige natürliche Beziehung zwischen Menschen. […] Böse und niederträchtig, wie sie sind, wird jedes ihrer Bedürfnisse mörderisch. Die Grünen haben die Charta der KZ-Welt geschrieben.“ (S. 39) Haben tatsächlich die „Grünen“ die Verfassung der Lager zu verantworten, die Gewalt etabliert, die Solidarität zerstört? Hätte die Solidarität ohne diese Häftlingsgruppe im Umkehrschluss aufgeblüht? Oder dienen sie dem Autor hier als Projektionsfläche für den Hass auf das eigene Unvermögen, diese Solidarität als Gegenmodell zu etablieren? Der beschränkte Blick des französischen Politischen im Konflikt mit deutschen „Kriminellen“ wird jedenfalls einmal mehr zum universellen Blick auf das Universum verallgemeinert. Die eigene Positionierung in der Lagerwelt wird nicht reflektiert.

Viele der in diesen Stereotypen mitreproduzierten Unwahrheiten sind in der KZ-Forschung seit Jahrzehnten widerlegt. Dass die Politischen in der „Horde“ der Konzentrationäre nur eine Handvoll ausgemacht hätten, ist historisch ebenso falsch wie die Annahme, das „gemeine Lagervolk wurde nach dem Strafrecht verurteilt“ (S. 32). Auch die Behauptung, dass den Politischen stets die Möglichkeit gegeben worden sei, bei Abschwören ihrer Gesinnung aus dem Lager zu kommen (S. 88f.), überrascht – und hätte wie so vieles eines Kommentars bedurft, der durch das Nachwort Jeremy Adlers nicht ersetzt werden kann. Das wirft die generelle Frage auf: Kann man einen derartigen Text ohne historischen Kommentar edieren? Wie und wo greift man erläuternd ein? Diese Aufgabe ist übersetzerisch teils fein gelöst: Im Fließtext wird nah am Original übersetzt, werden auch Fehler im Original wiedergegeben und als solche vermerkt, wenn sich Rousset etwa fälschlich an den Begriff „Schutzhäftlingsführer“ erinnert und diesen Begriff ironisiert, der im Kommentar zum „Schutzhaftlagerführer“ korrigiert wird. Das deutet aber nur ein Problem an, das nicht durch Übersetzungen aus der Welt zu schaffen ist: Die Kommentierung ist historisch betrachtet erratisch, teilweise auch falsch, wenn etwa kommentiert wird, Deportierte mit dem rosafarbenen oder grünen Winkel seien „nach dem Strafrecht verurteilt“ worden (S. 111). Roussets These, zwischen Konzentrations- und Vernichtungslagern gebe es „lediglich einen graduellen“ Unterschied (S. 31), ist höchst problematisch. Derartiges zu kommentieren ist aber nicht Sache der Übersetzung, sondern verweist auf die eklatante Leerstelle der Edition: das Fehlen eines historischen Kommentars.

Es ist nicht nur in Bezug auf den Marxismus interessant, dass Roussets Buch unorthodoxer gelesen wurde, als es war – viele Themen seien, wie Emma Kuby schrieb, „surprisingly conventional in comparison to other survivor literature“6, etwa in Bezug auf den propagierten Heroismus oder den Wert der Bildung. Es scheint eher diese Konventionalität als eine vermeintliche Unorthodoxie zu sein, die den Erfolg des Buches in Frankreich erklärt. Die deutsche Übersetzung ist insofern mehr von historiographiegeschichtlichem Wert, als dass sie der KZ-Forschung inhaltlich viel Neues zu bieten hätte.

Anmerkungen:
1 Vgl. David Rousset, The Other Kingdom, New York 1947.
2 Auf Deutsch findet sich die kompakteste Übersicht über Roussets Biographie und Werk bei Björn Kooger, David Rousset – Trotzkist, Marxist, Antikommunist – die Jahre 1931–1949, Wolfenbüttel 2020.
3 Vgl. z.B. Jean Cayrol, Schattenalarm (1944–1945). Mit dem Essay „Lazarenische Träume“. Herausgegeben und übersetzt von Ulrike Julika Betz, Wien 2019.
4 Robert Antelme, Das Menschengeschlecht, Frankfurt am Main 1987, S. 7.
5 Ramon Guthrie, Introduction, in: David Rousset, The Other Kingdom, New York 1947, S. 9–22, hier S. 11.
6 Emma Kuby, In the shadow of the concentration camp. David Rousset and the limits of apoliticism in postwar French thought, in: Modern Intellectual History 11/1 (2014), S. 147–173, hier S. 153.

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