Anna Hájková leistet mit ihrer Monografie „The Last Ghetto: An Everyday History of Theresienstadt“ in mehrfacher Hinsicht einen wichtigen Beitrag zur Holocaustforschung – und darüber hinaus. Ihre Arbeit liefert die erste umfassende Alltags- und Kulturgeschichte des von den Deutschen 1941 eingerichteten Ghettos Theresienstadt, das bis Mai 1945 bestand. Indem sie ein vielschichtiges Bild der äußerst heterogenen Ghettogesellschaft zeichnet, wendet sich Hájková explizit gegen das bislang dominierende Bild einer homogenen, durch ihr „Jüdisch-Sein“ geeinten Bewohnerschaft und die Präsentation von Theresienstadt als „Erfolgsgeschichte“ der internen Ghettoorganisation (S. 97).
Die Deutschen richteten Theresienstadt im November 1941 als Transitghetto ein, das zur Durchgangsstation für alle tschechischen Juden und Jüdinnen wurde. Es war insbesondere für ältere Menschen bestimmt, in der Zusammensetzung seiner Bevölkerung überaus international und bestand länger als jedes andere Ghetto. Ab Anfang 1942 deportierten die Deutschen die Bewohner:innen in andere Ghettos sowie Arbeitslager im Osten, ab Oktober 1942 nach Auschwitz-Birkenau. Wie Hájková deutlich macht, war Theresienstadt somit einerseits einzigartig, andererseits repräsentativ für die Ghettos, die ab 1942 eine zentrale Rolle in der Realisierung des systematischen Massenmordes der als jüdisch klassifizierten Menschen spielten.
Hájková schreibt die Geschichte des Ghettos als Gesellschaft von Gefangenen „in extremis“ (S. 239). Ihr Anliegen geht dabei über eine Analyse der Ghettogesellschaft hinaus, wie sie betont: „studying society in Theresienstadt provides insights not only into prisoner society specifically, but more important, into human society at large” (S. 3). Eindrucksvoll verdeutlicht sie, dass die Geschichte dieser Gemeinschaft keine nationale, sondern eine transnationale ist, da sie eine historische Situation betrifft, in der tschechische, deutsche, slowakische und ungarische Juden gezwungen waren, unter extremen Bedingungen ihr Zusammenleben zu organisieren.
Die Arbeit lässt sich damit einem Forschungstrend zuordnen, deren Vertreter:innen sich besonders seit Beginn der 2000er-Jahre bemühen, Täter- und Opferperspektiven gleichermaßen in der Holocaustforschung zu integrieren und als Teil dessen die Alltags- und Überlebensstrategien der Opfer in den Blick zu nehmen.1 Hájková geht mit ihrer Arbeit noch einen Schritt weiter. Ihr Anliegen ist es, die Dynamiken innerhalb der Gefangenengesellschaft auszuleuchten und in diesem Zusammenhang auch Widersprüche und Ambivalenzen sowie bislang oft ausgesparte Aspekte des Alltags im Ghetto, darunter die Rolle von jüdischen Informanten:innen, sexueller Tauschhandel („sexual barter“) oder gleichgeschlechtliche Beziehungen, zu adressieren. Sie erwehrt sich dabei explizit eines wertenden Blickes auf die heterogene Zwangsgesellschaft des Ghettos, ein Ansatz, der jüngst auch von anderen Forscher:innen verfolgt wurde.2
Stattdessen nimmt Hájková die Menschen als Akteure in den Blick, die unter den von den Deutschen geschaffenen Zwangsbedingungen zwar nur eingeschränkte, aber dennoch Handlungsspielräume hatten. Indem sie menschliches Verhalten in einer Extremsituation beleuchtet und Beweggründe für Handlungen der Opfer auch dort zu verstehen versucht, wo sich diese gegen andere Ghettobewohner:innen richteten, zeigt Hájková, wie sich die Geschichte einer Gefangenengesellschaft als „human history“ schreiben lässt. Die Quellenlage, auf der sie dies unternimmt, ist beeindruckend. Ihr vielsprachiges Quellenmaterial reicht von Briefen, Tagebüchern und Zeichnungen über Verwaltungsdokumente bis hin zu zahlreichen Oral-History-Interviews. Durch diese Vielfalt gelingt es ihr, diverse Stimmen einzufangen und die die Perspektive der Bewohner:innen in den Mittelpunkt zu rücken.
Hájkovás Buch gliedert sich in sechs Kapitel. Das erste Kapitel erläutert die externe deutsche und interne ‚jüdische‘ Verwaltung von Theresienstadt. Letztere war durch ein dichtes Netz von Ghettoinstitutionen gekennzeichnet, denen der Judenrat vorstand. Das zweite Kapitel führt in die heterogene Struktur der Ghettogesellschaft ein und dient damit als Grundlage der Analyse der in den folgenden Kapiteln behandelten Themen. In diesen fokussiert die Verfasserin vier Bereiche, die für den Alltag der Ghettoinsassen und -insassinnen strukturierend waren: Essen und Hunger, Medizin und Krankheit, kulturelles Leben und die Deportationen aus Theresienstadt in die Ghettos und Lager im Osten.
Hájková greift auf eine Reihe von klug gewählten Analysekategorien, darunter Ethnizität, Klasse, Gender und Alter, zurück und macht deutlich, wie diese das Erleben und Handeln der Menschen beeinflussten. Sie zeigt, wie sich in der Gemeinschaft, in der alle gefangen und per deutscher Definition „jüdisch“ waren, Hierarchien im Vergleich zur Vorkriegszeit wandelten, wo sie fortwirkten und ineinandergriffen. So habe etwa Klassenzugehörigkeit an Bedeutung verloren und sei durch ethnische Zugehörigkeit, oft vermittelt durch Sprache, ersetzt bzw. ergänzt worden. Ethnische Stereotype seien insbesondere in der Beschreibung der jeweils „Anderen“ zu Tage getreten. So hätten deutsche Jüdinnen und Juden die Tschech:innen als „strikingly non-Jewish looking“ und „beautiful race“ eingeordnet (S. 71), während die tschechischen Jüdinnen und Juden die deutschen oft als loyale Anhänger:innen von preußischem Militarismus und Nazideutschland beschrieben (S. 72). Auf diese Weise habe sich die vormals oft unterstellte Überlegenheit der deutschen „Westjuden“ über die tschechischen „Ostjuden“ in ihr Gegenteil verkehrt: Der Verfasserin zufolge standen nun junge tschechische Ghettobewohner:innen an der Spitze der Hierarchie, an ihrem unteren Ende ältere Menschen aus Deutschland und Österreich.
Zu den wenigen Freizeitaktivitäten, die im Ghetto Ablenkung boten, gehörte Fußball. Am Beispiel des Sports zeigt Hájková, wie Geschmack, Ethnizität, Klasse und Generationenangehörigkeit ineinandergriffen. Während sich Fußballspiele unter tschechischen und österreichischen Juden großer Beliebtheit erfreuten, blieben ältere deutsche Juden, vormals der Mittelklasse angehörend, diesen fern und verpönten den Sport als „working class activity“ (S. 197). Auch am Zugang zu Essen und medizinischer Versorgung sowie beim Schutz vor Deportation führt Hájková vor, dass die genannten Kategorien zusammengedacht werden müssen. Mit Blick auf ihre komplexen Auswirkungen im Ghettoalltag zeigt sie, wie sehr sich die Erfahrungen der Ghettoinsassen, ihr Handeln und ihre Überlebenschancen je nach geografischem, kulturellem und sozialem Hintergrund unterschieden, aber auch inwiefern sich externe – deutsche – und interne hierarchische Klassifizierungen dabei widersprechen konnten. Nachdem etwa der Judenrat im Juni 1942 von den Deutschen gezwungen worden war, Listen für die Deportationen zusammenzustellen, griff die SS ein und erklärte die deutschen und österreichischen Juden bzw. Jüdinnen vorerst für ausgenommen, was zu Entrüstung unter den tschechischen Ghettoinsassen führte (S. 211f.).
Im letzten Kapitel setzt sich die Verfasserin mit den deutschen Deportationen in den Osten auseinander und geht insbesondere auf das sich wandelnde Wissen der Ghettobewohner darüber ein. Meines Erachtens wäre es lohnend gewesen, diese wichtigen Ausführungen bereits etwas früher im Buch zu präsentieren, um zu verdeutlichen, inwiefern sich die Kenntnis der deutschen Pläne auf Handeln, Entscheidungen und soziale Interaktionen auswirkte.
Anna Hájková möchte mit ihrem Buch zu vergleichbaren Studien über die internen Dynamiken von Gefangenengesellschaften während des Holocaust anregen. Tatsächlich ist es nicht zuletzt ihrer Forschung zu verdanken, dass derartige Impulse seit einiger Zeit in innovativen Forschungsvorhaben aufgegriffen und zunehmend unter vergleichenden Fragestellungen fortentwickelt werden. Hájková hat mit ihrem Buch einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, das erforderliche Handwerkszeug für diese und künftige Forschungen zur Verfügung zu stellen.
Anmerkungen:
1 Zum Ansatz der „integrierten Geschichte“ siehe Saul Friedländer, Eine integrierte Geschichte des Holocaust, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 14–15, 2007, S. 7–14. Wegweisend waren etwa Barbara Engelking / Jacek Leociak, The Warsaw Ghetto. A Guide to the Perished City, New Haven CT 2009 (zuerst: Warschau 2001), rezensiert für H-Soz-Kult von Stephan Lehnstaedt, 16.11.2009, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-12025 (11.12.2023); Alexandra Garbarini, Numbered Days. Diaries and the Holocaust, New Haven 2006; Andrea Löw, Juden im Getto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten, Göttingen 2006; sowie Doris L. Bergen / Anna Hájková / Andrea Löw (Hrsg.), Alltag im Holocaust. Jüdisches Leben im Großdeutschen Reich 1941–1945, Berlin 2014. Dem Ansatz folgen auch Amos Goldberg, Trauma in First Person. Diary Writing during the Holocaust, Bloomington 2017, und Carlos Alberto Haas, Das Private im Ghetto. Jüdisches Leben im deutsch besetzten Polen 1939 bis 1944, Göttingen 2020, rezensiert für H-Soz-Kult von Anne-Christin Klotz, 30.09.2021, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-96854 (11.12.2023).
2 Siehe etwa Katarzyna Person, Warsaw Ghetto Police. The Jewish Order Service during the Nazi Occupation, Ithaca 2021, rezensiert für H-Soz-Kult von Markus Roth, 21.07.2023, https://www.hsozkult.de/searching/id/reb-131688 (11.12.2023), sowie Svenja Bethke, Dance on the Razor’s Edge. Crime and Punishment in the Nazi Ghettos, Toronto 2021, deutsche Fassung rezensiert für H-Soz-Kult von Carlos A. Haas 07.04.2016, https: //www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-23225 (11.12.2023).