Cover
Titel
Ansteckkino. Eine politische Philosophie und Geschichte des Pandemie-Spielfilms von 1919 bis Covid-19


Autor(en)
Robnik, Drehli
Erschienen
Berlin 2020: Neofelis Verlag
Anzahl Seiten
174 S.
Preis
€ 16,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dennis Henkel, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität zu Köln

Der österreichische Filmtheoretiker und Essayist Drehli Robnik hat die Corona-Pandemie als Inspiration für sein neues Buch „Ansteckkino“ genommen. Darin werden ungewohnte Perspektiven auf ein aktuelles Thema eröffnet und so die Auseinandersetzung um „Ansteckung im Film“, seine gesellschaftlichen Implikationen und dessen Platz im politischen Ideologiedschungel.

Die Grundvoraussetzung, die das Buch an die Leser:innen stellt, ist die Affinität zu sprachlichen Besonderheiten. Wie dies gemeint ist, illustriert folgendes Beispiel: Robnik zerlegt seinen Neologismus „Ansteckkino“ gleich zu Beginn, um aus den Doppelkonsonanten über den Ku-Klux-Klan zur Abkürzung k. u. k. (Österreichisch-Ungarischen Monarchie) zu gelangen, und so politische Parallelen anzudeuten (S. 9f.). Andere Beispiele für diese Wortspiele wären die „Uminterpretation“ der Abkürzung „b. c.“ (before christ) in „before corona“ oder die De- und Rekonstruktion von „Germany“ in „many germs“. Was punktuell zu gekonntem Amüsement führt, verflacht angesichts der hohen Frequenz zum Kalauer und streift in den schwächeren Momenten die Idiosynkrasie. Bedenkt man den auch sonst polemisch-sprunghaften Stil – assoziativ wie alliterationsreich – ist die Lektüre in summa als anspruchsvolles, gar schwieriges Unterfangen zu bewerten.

Robnik schreitet durch 100 Jahre Filmgeschichte (1919–2019). Auf Ex- beziehungsweise Inklusionskriterien zum Filmkorpus wird verzichtet: „Sich anstecken“ setzt Robnik als Inklusionsprämisse (S. 14), was zu einer weitgespannten Werkauswahl führt. Die Anführung von M – Eine Stadt sucht einen Mörder ( D 1931) verdeutlicht dies: Hier wird die Verurteilung eines Verbrechers als „Immunantwort“ oder Abstoßungsreaktion der „gesunden“ Gesellschaft gegen das „Fremde“ – hier der Kindermörder – gedeutet, der mit „infektiösem Pfeifen“ zum „Infekteur“ wird (S. 32f.).

Momente, in denen der Autor sich die Zeit nimmt, Filme detaillierter bespricht und politisch klassifiziert, gehören zu den starken Abschnitten des Buches, zum Beispiel zu Die Pest in Florenz (D 1919, S. 17–20) oder Die Hamburger Krankheit (D 1979, S. 109–113). Als Kontrapunkt finden sich Passagen, die kaum in die Tiefe gehen und Plot-Resümees zur Amplifikation loser Argumentationsketten genutzt werden. Dies ist zum Teil dem „Film-zu-Seitenzahl-Verhältnis“ (167 Filme auf 152 Textseiten) geschuldet, aber auch der kurzen Entstehungsphase der Schrift – Robnik arbeitete nur vier Monate an der Monografie.1 Häufig wünscht man sich tiefere Einblicke in Werke oder Epochen. Beispielhaft hierfür wäre die Frühphase des Kinos: Nur fünf Werke stehen repräsentativ für die Stummfilmepoche, die sich auf die Aspekte der Fremdenfeindlichkeit (Nosferatu, D 1922 und Die Pest von Florenz) und die Perzeption des Judentums (The Ten Commandments, USA 1956 und Ben Hur, USA 1959) konzentrieren. Interessant wäre ein Blick auf die Tuberkulosefilme der Zeit gewesen, zum Beispiel Der Fuhrmann des Todes (Schweden 1921) oder Falling Leaves (USA 1912). Diese Werke fiktionalisierten die damals übliche „Verbannung“ der Infizierten in Freiluftsanatorien und hätten entsprechende politische Parallelen aufzeigen können. Ebenso wären die Reaktionen der Kinobetreibenden auf die Cholera-geschuldeten, kaum amüsanten Zwangsschließungen im Kontext mit der Flut an Slapstick-Komödien um psychogene Ansteckungswellen aufschlussreich gewesen.2 Auch die Influenza-Filme aus der Zeit der Spanischen Grippe, zum Beispiel Bobby Bumps’ Pup Gets the Flea-enza (USA 1919) oder Dr. Wise on Influenza (UK 1919), hätten spannende Korrelationen zur Gegenwart eröffnet.

Dies verdeutlicht einen Schwachpunkt der quantitativ beachtlichen Filmauswahl, die zwar als repräsentativ gelten kann, aber keine neuen Entdeckungen bereithält. Diese Aneinanderreihung von Altbekanntem führt ebenfalls zu einer Unterrepräsentation von Werken außerhalb der Industrienationen – die Robnik selbst anprangert – und entwirft so ein deutlich engeres Bild des „Ansteckkinos“, als es die global-systemischen Hypothesen des Buches implizieren. Spannende Gesichtspunkte hätten die Betrachtung des türkischen Kinos und der Tollwut offenbart, in dem der Zugang zur Schulmedizin als Überwindung von Aberglauben und Unterdrückung der Landbevölkerung inszeniert wird, zum Beispiel in Firat'in Cinleri (1977) oder Oğul (1974]). Ebenso hätte das indische Kino mit sozialkritisch-realistischen Werken à la Aah (1953) oder Ganashatru (1989) als autarke Perspektive auf medizinische Versorgung und gesellschaftliche Ungerechtigkeit den Filmkorpus bereichern können.

Was will Robnik mit seiner Perspektive auf die Geschichte des „Infektionskinos“ mitteilen? Zuerst muss klar sein, was „Ansteckkino“ nicht ist: Es ist keine filmhistorische Schrift, hierfür ist nicht nur die Filmauswahl zu offensichtlich, auch dienen (film-)historische Fakten fast immer als Mittel, um auf politische Parallelismen zu der von COVID-19 gebeutelten Gegenwart zu zielen. Ebenso wenig ist die Monografie filmwissenschaftlich aufschlussreich. Auch wenn gelegentlich filmwissenschaftliche Theorien aufgegriffen werden, zum Beispiel von Siegfried Kracauer oder Thomas Elsaesser (S. 13ff.), fehlt es an Tiefe: Der Autor begnügt sich weitestgehend mit Handlungsanalysen, vernachlässigt aber so wichtige Aspekte wie die Bildsprache fast gänzlich.

„Ansteckkino“ kann demnach als langes, politisch-historisches Essay charakterisiert werden. Der essayistische Duktus stellt weitere Herausforderungen an die Leserschaft: Fernab der Ansteckung ist die Argumentationskette des Werkes wenig stringent, einen roten Faden sucht man vergeblich und das Schlusskapitel steht ohne wirkliches Fazit da. Wie nähert sich Robnik den Lichtspielen? Häufig durch die Prinzipien des Poststrukturalismus, genauer der Dekonstruktion. Er dekonstruiert das Gesehene, entledigt es von allen apolitischen „Störfaktoren“, bis nur noch das Gerüst einer politisch interpretierten Aussage übrigbleibt. Nun wird es kompliziert, denn was offenbart wird, hat für Robnik weitreichende Konsequenzen: Ansteckung wird zum Kommunikationsweg zwischen Körpern beziehungsweise Entitäten, zur Analogie der Globalisierung, die nicht nur Mikroben schneller verbreitet, sondern auch gezielte Desinformation begünstigt.

Doch damit nicht genug: Ansteckungskino wird zum Vergrößerungsglas, es ermöglicht uns das Wahrnehmen von Kontingenz der Wirklichkeit und wurzelt somit wieder tief im Gedankengut des Poststrukturalismus, diesmal mit Bezug auf den konstruktivistischen „Neuen Materialismus". Es entlarve im Konfliktfeld der Gesellschaft die systemischen Bedrohungen, die den hilflosen Konsumenten indoktrinieren. Doch wer indoktriniert hier eigentlich? Die Neoliberalen, Patriarchen, Rassisten, Ausbeutenden, „das Kapital“ wie die Kriegstreibenden. Robnik liefert griffige Feindbilder, die seine Position grundsätzlich in einem sympathischen Licht dastehen lassen. Er warnt vor dem Ausnahmezustand „Pandemie“, in der die Regularien der Demokratie mit Füßen getreten werden, vor dem Missbrauch globaler Kommunikationswege und vor Diskriminierung. Er will illuminieren, wie und wo wir diese Gefahren erkennen: Im „Ansteckkino“, im Wahrnehmen der Kontingenz mittels entsprechender Werkanalyse und Kontextualisierung.

Interessanter Nebenaspekt: Im letzten Abschnitt wirft Robnik die Frage auf, inwiefern sich die stetig verändernde Medienspezifität des Films (vom kollektiv-öffentlichen Kino über Home-Video bis hin zum Streaming) auf unsere Gesellschaft auswirkt und prangert politisches Desinteresse in Bezug auf sozio-politische Missstände an. Hier haben wir eine Stärke des Buches vor uns, denn gerade die polemisch-provokant formulierten Thesen regen zur Reflexion an.

Nicht wenige Leser:innen werden bei der Terminologie an die Kritische Theorie der „Frankfurter Schule“ denken, besonders Adornos Sichtweise auf die Filmindustrie. Dies ist kein Zufall: Die politische Linksorientierung wird in keiner Weise versucht zu verstecken, die Kontroverse gar gesucht. Nun wird deutlich, was „Ansteckkino“ ist und allem Anschein nach sein will: ein politisches Essay, eine Streitschrift, die provozieren und aufrütteln will, ohne den Anspruch einer objektiv-wissenschaftlichen Abhandlung zu erheben. Wer sich über diese Natur der Publikation im Klaren ist, vor einem unkonventionellen Duktus nicht zurückschreckt und keine hohen Erwartungen aus film- und geschichtswissenschaftlicher Perspektive stellt, kann durchaus Mehrwert aus der Lektüre des leidenschaftlich geschriebenen Buches ziehen.

Anmerkungen:
1 Kristina Pia Hofer, Rezension zu: Drehli Robnik, Ansteckkino. Eine politische Philosophie und Geschichte des Pandemie-Spielfilms von 1919 bis Covid-19, Berlin 2019, in: Versorgerin. Zeitung der Stadtwerkstatt, http://versorgerin.stwst.at/artikel/dec-3-2020-1216/infekti%C3%B6se-betrachtungen (01.08.2021).
2 Maggie Hennefeld, Cinema’s First Epidemic. From Contagious Twitching to Convulsive Laughter, in: Los Angele Review of Books, 23.06.2020, https://lareviewofbooks.org/article/cinemas-first-epidemic-from-contagious-twitching-to-convulsive-laughter/ (01.08.2021).

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