T. Hlobil: Franz Ficker (1782–1849)

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Titel
Franz Ficker (1782–1849). Österreichische Ästhetik unter Staatsaufsicht vor dem Herbartianismus


Autor(en)
Hlobil, Tomáš
Reihe
Wechselwirkungen (24)
Erschienen
Anzahl Seiten
320 S., 1 farb. Abb.
Preis
€ 69,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Stachel, Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften

Die Geschichte des Ästhetikunterrichts in der Habsburgermonarchie könnte als ein entlegenes Randthema der historischen Forschung betrachtet werden: Dass es dabei aber ganz zentral auch um politische Fragen geht, belegt die vorliegende Studie in exemplarischer Weise. Die „Geschmacksbildung“ der Untertanen wurde als staatliche Aufgabe betrachtet, wobei die traditionell enge Verbindung von Ästhetik und Ethik eine nicht geringe Rolle spielte. Ziel des Ästhetikunterrichts war die Anleitung zum sittlichen Handeln. Die politischen Autoritäten beanspruchten im Habsburgerstaat vor 1848 eine vollständige Kontrolle des gesamten Unterrichtswesens, sie bestimmten nicht nur welche Fächer gelehrt wurden, sondern auch welche Lehrinhalte vermittelt werden sollten und welche nicht, wer lehren durfte und welche Lehrbücher zugelassen wurden.

Während die Entwicklungen der ästhetischen Theorien in Österreich nach 1848, die Dominanz des Einflusses der Theorien Johann Friedrich Herbarts und die Ausdifferenzierung in neue akademische Disziplinen wie Kunstgeschichte und Musikwissenschaft, zumindest in groben Zügen bekannt sind, stellten die Jahrzehnte vor 1848 bislang in der Forschung einen blinden Fleck dar. Genau diesem Zeitraum gilt das Forschungsinteresse des Autors in der vorliegenden Studie. Tomáš Hlobil, Professor für Geschichte der Ästhetik an der Prager Karls-Universität, ist ohne Zweifel der beste Kenner der Geschichte der Ästhetik und des Ästhetikunterrichts in Zentraleuropa, was nicht zuletzt durch seine zwei umfangreichen Studien zur Geschichte des Ästhetikunterrichts an der Prager Universität belegt wird.1 Auch im Mittelpunkt der vorliegenden Studie steht nicht die Person Franz Fickers, sondern seine Vorlesungen und sein Lehrbuch zur Ästhetik.

Ästhetik wurde in der Habsburgermonarchie seit 1763 im Rahmen des sogenannten philosophischen Propädeutikums, eines Vorstudiums, gelehrt. Da die „spekulative“ Philosophie, vor allem die idealistische Philosophie deutscher Prägung, in der Habsburgermonarchie als potenziell staatsgefährdend galt und gezielt vom universitären Unterricht ausgeschlossen war, wurde Ästhetik nicht als Teilgebiet der Philosophie, sondern als Bestandteil der klassischen Philologie aufgefasst. Dementsprechend wurden konkrete Fallbeispiele durchwegs der Kulturgeschichte der Antike entnommen, zeitgenössische Literatur und Kunst war im Unterricht nicht vertreten. Ausländer waren als akademische Lehrer an Österreichs Universitäten bei den Bildungsbehörden ebenfalls nicht erwünscht, die Lehrbücher für den Ästhetikunterricht stammten allerdings vollständig von Autoren aus Deutschland.

Dies änderte sich erst 1840, als das vom Wiener Ästhetikprofessor Franz Ficker verfasste Lehrbuch „Aesthetik oder Lehre vom Schönen und von der Kunst in ihrem ganzen Umfange“ in der überarbeiteten zweiten Auflage nach mehr als zehnjährigem behördlichem Prüfungsverfahren als offizielles Unterrichtsmittel zugelassen wurde.2 Damit war zum ersten Mal das Buch eines einheimischen Autors in dieser Funktion genehmigt, auch wenn die Quellen, aus denen der Autor schöpfte, überwiegend von deutschen Autoren stammten. Problematisch ist allerdings weniger die Herkunft dieser Quellen, als vielmehr Fickers Umgang mit diesen. Jedenfalls hatte Franz Ficker, der als Professor der Ästhetik an der Universität der Haupt- und Residenzstadt Wien (ab 1823) ein Mitsprachrecht bei allen akademischen Postenbesetzungen in seinem Fachbereich hatte, mit der Zulassung seines Buchs als offizielles universitäres Lehrbuch eine einzigartig dominante Position erreicht. Dies ist umso bemerkenswerter, als Ficker alles andere als ein originärer, selbstständiger Denker war. Ganz im Gegenteil: Bei genauer Überprüfung erweist er sich als ein reiner Kompilator fremder Ansichten, derer er sich noch dazu in ausgesprochen fragwürdiger Weise bediente.

Hlobil beginnt seine Analyse von Fickers Denken bereits in der Zeit vor seiner Berufung nach Wien, als er seit 1816 in Olmütz Ordentlicher Professor für griechische und lateinische Philologie und der klassischen Literatur war und ab 1819 auch Ästhetik unterrichtete. Aus dieser Zeit sind in einer Olmützer Bibliothek drei sich ergänzende Vorlesungsmitschriften erhalten, aus denen Hlobil ein klares Bild der Ästhetikvorlesungen Fickers ableiten kann. Er bezeichnet Fickers Verfahren als „eklektisch-plagiatorisch“, d.h. Ficker montierte hauptsächlich Zitate anderer Autoren, großteils wörtlich, manchmal auch paraphrasierend, zu einem fortlaufenden Text zusammen. Dabei verschweigt Ficker nicht nur, von wem er Textstellen übernommen hat, er verschleiert gezielt sogar den Umstand, dass es sich dabei um Zitate handelt, sodass der Vortragstext als sein geistiges Eigentum wahrgenommen werden musste.

War diese Vorgangsweise schon bei einer universitären Vorlesung einigermaßen fragwürdig, so erst recht in einem gedruckten Lehrbuch. In der Tat bediente sich Ficker bei der Abfassung seines Lehrbuchs genau desselben Verfahrens, wobei einzig hinsichtlich der Autoren, aus deren Werken er sich freimütig bediente, gewisser Veränderungen vorgenommen wurden. Die selektive Sammlung von aus dem Kontext gerissenen Zitaten erlaubte es Ficker überdies, durchaus gegensätzliche, ja unvereinbare Theorien der Ästhetik zu einer Art „Einheit“ zusammen zu kompilieren. Hlobil kommt resümierend zu dem Urteil, dass es sich bei Fickers Buch um „ein durch Recherchieren und Exzerpieren entstandenes Flickwerk“ (S. 181) handelt und das darin „[keine] Grundsatzbehauptung zu finden [ist], die ihn [Ficker] persönlich zum Urheber hatte“ (ebd.).

Der plagiatorische Charakter des Buchs ist auch den Begutachtern im Verfahren um die Zulassung als Lehrbuch keineswegs entgangen. Große Bedeutung maßen diese aber diesem Umstand nicht bei, im Vordergrund stand die Verständlichkeit der Ausführungen: Ein Lehrbuch, so die Argumentation, habe einen anderen Charakter als eine selbständige Studie, Originalität spiele daher keine Rolle. Der ausgesprochen zurückhaltende Tadel ist umso bemerkenswerter, als Hlobil anhand eines Vergleichs mit anderen Autoren nachweisen kann, dass Fickers Vorgangsweise auch nach damaligen Standards als unzulässig gelten musste.

Was die Zulassung als Lehrbuch anbelangte, war dies freilich unerheblich: Einziges Kriterium war hier die politische Anpassung der Ficker’schen Ausführungen im Sinn einer „Universitätserziehung zur Staatsästhetik“ (S. 19). Zwar kam zu dieser Zeit auch eine österreichische Universitätsästhetik nicht gänzlich ohne Bezüge zur idealistischen Ästhetik – konkret Immanuel Kants „Kritik der Urteilskraft“ – aus: Die Debatte litt jedoch, so Hlobil, an einer charakteristischen „Schizophrenie“ (S. 107), indem zwar eine Systematik der Ästhetik eingefordert wurde, ein Anschluss an die Leistungen der idealistischen Philosophie in Deutschland aber aus politischen Gründen unmöglich war. So wurden von Ficker nur einzelne, aus dem Zusammenhang gerissene Elemente der Ideen Kants übernommen, und dies nur aus Sekundärquellen und oftmals ohne Nennung des Urhebers. Im Kern hielt Ficker an einer vorkantischen Wirkungsästhetik fest, in der das Erhabene als ein Bestandteil des übergeordneten Begriffs des Schönen verstanden und das Schöne, anders als bei Kant, als formal fundiert und als objektive, erkennbare Eigenschaft eines Artefakts aufgefasst wurde.

Franz Ficker verstarb 1849, also genau in jenem Jahr, als in Österreich die große Unterrichtsreform in Angriff genommen wurde, als deren Resultat das Philosophische Propädeutikum abgeschafft und die Philosophische Fakultät zu einer vollwertigen universitären Einheit aufgewertet wurde. Es ist dabei auffallend, dass Franz Ficker in den nun anhebenden ästhetischen Diskussionen nicht die geringste Rolle spielte. Rudolf von Eitelberger, ein Schüler Fickers und ab 1852 Professor für Kunst und Archäologiegeschichte, ließ es sich gerne gefallen, als der erste zu gelten, der kunsthistorische Vorlesungen an der Wiener Universität hielt; dabei konnte ihm nicht entgangen sein, dass Ficker bereits in den 1820er-Jahren derartige Vorlesungen gehalten hatte. Auch andere Theoretiker der Ästhetik in der Habsburgermonarchie hielten Fickers Ausführungen offenbar für derart unergiebig, dass sie diese nicht einmal kritisierten, sondern vielmehr vollständig ignorierten. Der eben noch so dominante Theoretiker der Ästhetik geriet rasch in Vergessenheit.

Tomáš Hlobil hat dieses weitgehend unbekannte Kapitel der intellektuellen Geschichte der Habsburgermonarchie in vorbildlicher Weise erschlossen, wobei die Breite der eingearbeiteten Quellen – verwiesen sei auf die Olmützer Vorlesungsmitschriften – ebenso von der sorgfältigen Arbeitsweise des Autors Zeugnis ablegen, wie der penible Nachweis der von Ficker in seinem eklektisch-plagiatorischen Vorgehen ausgewerteten Quellen. Nicht zuletzt zeugt auch die detaillierte Darstellung des Berufungsverfahrens von Franz Ficker und des Zulassungsverfahrens des Lehrbuchs von der großen politisch-ideologischen Bedeutung, dem im akademischen (Lehr)betrieb der Habsburgermonarchie vor 1848 alles andere untergeordnet wurde.

Anmerkungen:
1 Tomáš Hlobil, Geschmacksbildung im Nationalinteresse. Die Anfänge der Prager Universitätsästhetik im mitteleuropäischen Kulturraum 1763–1805, Hannover 2012; Ders., Geschmacksbildung im Nationalinteresse II. Der Abschluss der frühen Prager Universitätsästhetik im mitteleuropäischen Kulturraum 1805–1848, Hannover 2018.
2 Franz Ficker, Aesthetik oder Lehre vom Schönen und von der Kunst in ihrem ganzen Umfange, 2. verm. u. verb. Aufl., Wien 1840 [EA 1830].

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