Cover
Titel
Kontrolle und Beratung. Der deutsche Rechnungshof im Wechsel der politischen Systeme des 20. Jahrhunderts


Autor(en)
Ullmann, Hans-Peter
Erschienen
Göttingen 2021: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
588 S., 27 Abb.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Raichle, Historisches Institut, Universität Stuttgart

Nur eine Handvoll Historiker beschäftige sich mit Finanzgeschichte, konstatierte 2007 der Wirtschaftswissenschaftler Marc Hansmann. Dabei habe bereits Joseph Schumpeter die Finanzen als einen der „besten Angriffspunkte“ zur „Untersuchung des sozialen Getriebes“ beschrieben.1 Zu den wenigen, die in Deutschland diesen noch immer unterschätzten Zugang zur Geschichtsschreibung intensiv nutzen, gehört Hans-Peter Ullmann, der Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie Neuere Geschichte in Tübingen und Köln lehrte. 2005 legte er mit seinem Buch „Der deutsche Steuerstaat“ nach über 100 Jahren erstmals wieder eine umfassende Darstellung der neueren deutschen Steuergeschichte vor. Es verwundert also nicht, dass sich der Bundesrechnungshof, auf der Suche nach einem ausgewiesenen Experten für Finanzgeschichte, an Ullmann wandte und ihn mit einer Studie zur Geschichte des Rechnungshofs im 20. Jahrhundert beauftragte.

Hans-Peter Ullmann hat diesen Auftrag ebenso solide wie präzise erfüllt, indem er auf fast genau 500 Textseiten die Geschichte der staatlichen Finanzkontrolle und -beratung zwischen 1918 und den 1970er-Jahren ausbreitet. Ullmann fragt nach Kontinuitäten und Brüchen sowie der Rolle des Rechnungshofs im Nationalsozialismus. Er will dabei keine enggeführte Behördengeschichte vorlegen, die sich auf rechtliche und organisatorische Aspekte konzentriert, sondern auch den jeweiligen Kontext der politischen Geschichte berücksichtigen. Überdies sollen auch Leitbilder der Beamten und die „Institutionskultur“ (S. 21) analysiert werden. Dieser potentiell ertragreiche Aspekt bleibt jedoch hinter der breiten Darstellung von Strukturen und Handlungsweisen zurück.

Trefflich hat Ullmann hingegen die Arrangements und Kooperationen des Rechnungshofes im Wandel der Zeiten herausgearbeitet. Gleich in den ersten Kapiteln wird deutlich, wie der Rechnungshof unter seinem Präsidenten Friedrich Saemisch immer mehr zu einer bedeutenden Schnittstelle zwischen Politik und Verwaltungsbürokratie wurde. Saemisch, der den Rechnungshof zunehmend autoritär führte, zog Ämter und Kompetenzen an sich wie ein Magnet Eisenspäne. Als begnadeter Netzwerker, intelligenter Organisator und berechnender Personalpolitiker entwarf Saemisch zwischen 1922 und 1937 das „System Saemisch“ (S. 47). Begünstigt wurde dieses von der Ausbreitung eines fiskalisch verengten Paradigmas von Sparsamkeit, Effizienz und technokratischer Kälte. Das Ziel von Staatsdienern wie Saemisch war es, für das darniederliegende Reich auf dem Weg der finanziellen Stabilisierung eine neue Grundlage zum Wiederaufstieg zu schaffen.

Dies erleichterte Saemisch und seiner Behörde 1933 den Übergang in den Nationalsozialismus, auch wenn dieser sicher nicht reibungslos vonstatten ging und die Position des Rechnungshofes auf einmal volatil wurde. Dennoch verstanden es Saemisch und sein parteipolitisch gefestigter Nachfolger Müller (1937-1945), beide auf ihre Weise Techniker der Macht, ihr schwankendes Schiff immer wieder zu stabilisieren.

Hier ist die Studie auch ertragreich im Hinblick auf den Interpretationsansatz der „Neuen Staatlichkeit“, der die mörderische Effizienz des NS-Regimes trotz polykratischer Herrschaftsstrukturen durch die Selbstmobilisierung der Akteure und die Herausbildung hybrider Verwaltungsstrukturen erklärt.2 Ein ums andere Mal ist es erhellend, ja frappierend zu lesen, wie der Rechnungshof und seine Beamten bis hinauf zum Präsidenten es verstanden, sich über wechselnde Arrangements, etwa mit dem Reichsschatzmeister der NSDAP, und Rückversicherungen, vielfach bei der Reichskanzlei, Bündnispartner zu suchen, gerade wenn es darum ging, politisch vermintes Gelände zu betreten oder die Stellung des Rechnungshofes zu bewahren und auszubauen. Durch geschickte Anpassung gelang es so, dem Rechnungshof immer wieder neue Einflussmöglichkeiten zu eröffnen und den drohenden Bedeutungsverlust abzufedern.

Nicht wenige Prüfungsbereiche waren etwa angesichts der grassierenden Korruption im Nationalsozialismus politisch überaus delikat. Das rechte Maß an Zurückhaltung und Verständnis für die Belange des Nationalsozialismus mussten aufgebracht werden – und wurden aufgebracht. Durch ihre Tätigkeit erhielten viele Beamte des Rechnungshofes darüber hinaus auch tiefe Einblicke in die verbrecherische Natur des NS-Regimes. Die teilweise erhaltenen Prüfberichte werfen Licht auf das Finanzgebaren der Nationalsozialisten bei ihrem Raub- und Vernichtungszug durch Europa; so etwa die Prüfung des Ghettos in „Litzmannstadt“ oder die vielen Prüfungen der ad hoc errichteten Verwaltungen in den besetzten Gebieten, die beispielsweise jüdische oder „feindliche“ Vermögen verwalteten. Ullmann macht dabei auch ganz zu Recht klar, dass die Beamten keinerlei Interesse an der politischen Seite ihrer Prüfgebiete hatten. So waren ihnen die Haftbedingungen der Juden ebenso gleichgültig wie deren weiteres Schicksal; was zählte, war die korrekte Verwendung der einlaufenden Posten für das Reich – eine frappierende Parallele zur Reichsfinanzverwaltung.

Die überaus akkurate und informative Studie Ullmanns weist nach Ansicht des Rezensenten jedoch auch die eine oder andere Schwachstelle auf. So werden tendenziell eher wenige Ego-Dokumente verwendet, obwohl – so sollte man meinen – gerade eine Person wie Saemisch auch in den privaten Notaten von Spitzenakteuren in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft Spuren hinterlassen haben müsste. Auch Entnazifizierungsakten wurden offenbar selten herangezogen, vielleicht weil diese in ihrem Quellenwert noch immer vielfach unterschätzt werden.

Immer wieder setzt Ullmann auch einiges an Vorwissen voraus. So geht er etwa auf S. 74 auf den Kampf Saemischs gegen das Reichsarbeitsministerium ein – ohne allerdings zu erklären, warum Einschnitte gerade hier vorgenommen werden sollten. Das Ministerium war nach 1918 zu einem der Kostentreiber staatlicher Ausgaben im Sozialbereich geworden und hatte überdies nicht wenige Stellen mit Bewerbern besetzt, welche die klassischen Kriterien einer Beamtenlaufbahn nicht erfüllten. Ähnlich verhält es sich mit der Erwähnung der List-Gesellschaft, in der Saemisch eine führende Rolle spielte (S. 79). An dieser Stelle wäre ein Hinweis hilfreich gewesen, dass Friedrich List (1789–1846) ein Vorkämpfer des Deutschen Zollvereins war, der in den 1920er-Jahren als eine Art Schutzpatron für jene galt, die über eine Effizienzsteigerung im Inneren den Wiederaufstieg des Reiches einleiten wollten – so etwa auch der bedeutende Staatssekretär im Reichsfinanzministerium Johannes Popitz, den Ullmann mehrfach als politischen Verbündeten Saemischs einführt, ohne allerdings auf die prägende Rolle einzugehen, die Popitz in der Reichsfinanzverwaltung nach 1918 und für die Ausprägung der dortigen Verwaltungskultur3 spielte, die ganz auf der Linie Saemischs lag.

Insgesamt sind die Ausführungen Ullmanns zur Ausbildung dieser Verwaltungskultur in der Zeit der Weimarer Republik eher knapp gehalten. Die Ursache für die Entstehung eines neuen verwaltungskulturellen Paradigmas nach 1918 werden zwar genannt, aber in ihrer grundlegenden Bedeutung für die Zeitgenossen nicht näher beschrieben. So sah etwa Popitz in den Reformen der Reichsverwaltung, in der Mobilisierung der Beamten und der Sanierung der Staatsfinanzen eine „Lebensfrage des Reiches“.4

Es ist deshalb auch kein Zufall, wenn nach 1945 viele führende Mitarbeiter des Rechnungshofes aus der Reichsfinanzverwaltung stammten, so etwa die Präsidenten Mayer (1950–57) und Hertel (1957–63) sowie diverse Vizepräsidenten. Es hätte sich daher angeboten, systematischer nach dem Fortdauern der in den 1920er-Jahren dominant gewordenen Leitkultur zu fragen, was Ullmann eher sporadisch unternimmt. Vor diesem Hintergrund ist es auch bedauerlich, dass der sozialliberale Paradigmenwechsel Mitte/Ende der 1960er-Jahre, der den „Weg in den Schuldenstaat“ (S. 499) bereitete, nur angedeutet, aber nicht mehr analysiert und auf den Rechnungshof zurückgespiegelt wird.

Dennoch, Hans-Peter Ullmann hat eine überaus gründliche und lesenswerte Studie verfasst, welche die Forschungslücken zum Rechnungshof im 20. Jahrhundert in beträchtlichen Teilen schließen kann und das Potential finanzgeschichtlicher Themen über das Beispiel des Rechnungshofes hinaus demonstriert. Denn keineswegs handelt es sich um trockenen Stoff, den Ullmann auf beeindruckender archivalischer Quellenbasis präsentiert; vielmehr wird immer wieder deutlich, dass die Geschichte des Rechnungshofes auch in Arkanbereiche der Politik führt und warum Cicero Recht hatte, wenn er die Finanzen als die „Lebensnerven des Staates“ bezeichnete. In diese Sinne ist das weite Gebiet der Finanzgeschichte durchaus zukunftsträchtig.

Anmerkungen:
1 Marc Hansmann, Wege in den Schuldenstaat. Die strukturellen Probleme der deutschen Finanzpolitik als Resultat historischer Entwicklungen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55 (2007), S. 425–461.
2 Vgl. hierzu Rüdiger Hachtmann, Elastisch, dynamisch und von katastrophaler Effizienz. Zur Struktur der Neuen Staatlichkeit des Nationalsozialismus, in: Sven Reichard / Wolfgang Seibel (Hg.), Der prekäre Staat, Frankfurt a.M. 2011, S. 29–74; Bernhard Gotto, Polykratische Selbststabilisierung. Mittel und Unterinstanzen in der NS-Diktatur, in: Rüdiger Hachtmann / Winfried Süß (Hg.), Hitlers Kommissare. Sondergewalten in der nationalsozialistischen Diktatur, Göttingen 2006, S. 28–50.
3 Zum Begriff vgl. Stefan Fisch, Verwaltungskulturen als ‚geronnene Geschichte‘. Sozialwissenschaftliche und geschichtswissenschaftliche Zugänge, in: Martin Burgi (Hrsg.), Zur Lage der Verwaltungsrechtswissenschaft, Berlin 2017, S. 149–163.
4 Johannes Popitz, 10 Jahre Reichsfinanzverwaltung, in: Steuer-Archiv. Zeitschrift für das gesamte Gebiet der direkten Steuern 32 (Okt. 1929), S. 315.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch