Cover
Titel
Bukowina-Deutsche. Erfindungen, Erfahrungen und Erzählungen einer (imaginierten) Gemeinschaft seit 1775


Herausgeber
Röger, Maren; Weidle, Alexander
Reihe
Danubiana Carpathica. Jahrbuch für Geschichte und Kultur in den deutschen Siedlungsgebieten Südosteuropas (10 (57))
Erschienen
Anzahl Seiten
260 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Christian Petersen, IMIS Osnabrück / BKGE Oldenburg

Kollektivbegriffe prägen unser Bild historischer Prozesse und legitimieren nicht selten gegenwartsbezogene oder in die Zukunft gerichtete Ansprüche. Mit ihnen werden Menschen zu einer imaginierten Gemeinschaft zusammengefasst. Dies kann endogen oder exogen geschehen und je nach Standpunkt als abwertend oder sinnstiftend, problematisch oder hilfreich bewertet werden. Rogers Brubaker hat dieses nachträgliche Framing gesellschaftlicher Prozesse als groupism bezeichnet und auf die Verantwortung der Wissenschaft verwiesen, die Kategorien der ethnopolitical entrepreneurs nicht zu reproduzieren und ihnen damit noch die Aura der Wissenschaftlichkeit zu verleihen, sondern sie zum Ausgangspunkt der Analyse des Entstehens von „Gruppen“ zu machen.1

Welche Relevanz den Überlegungen Brubakers nach wie vor zukommt, demonstriert der von Maren Röger und Alexander Weidle herausgegebene Band der Danubiana Carpathica. Im Mittelpunkt stehen die sogenannten Bukowina-Deutschen – eine jener „Gruppen“, die in der Regel dem Forschungsfeld „Deutsche Geschichte im östlichen Europa“ zugeordnet werden, dessen Kollektivbezeichnungen (Russlanddeutsche, Sudetendeutsche etc.) bis auf wenige Ausnahmen durchweg Neologismen darstellen, die dem nationalistischen und völkischen Milieu des ausgehenden 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entspringen.2 Die Bukowina ist in diesem Kontext von besonderem Interesse, ist ihre Geschichte doch maßgeblich durch ein deutschsprachiges jüdisches Bürger:innentum geprägt. Das wirft die Frage auf, wer zu welchem Zeitpunkt von wem als „deutsch“ definiert wurde, wie also durch das retrospektive Framing nicht nur Ein-, sondern auch Ausschlüsse festgeschrieben wurden.

In ihren einleitenden Ausführungen benennen Maren Röger und Alexander Weidle unter Bezugnahme auf Benedict Anderson das zentrale Anliegen des Bandes: Die Untersuchung der Bukowina-Deutschen entlang des titelgebenden Dreiklangs „Erfindungen, Erfahrungen und Erzählungen einer (imaginierten) Gemeinschaft“ in einer diachronen Perspektive seit 1775. Die Bukowina-Deutschen werden hierbei nicht isoliert betrachtet, sondern in ihren Verflechtungen mit den Bukowiner Judenheiten. Zugleich versteht sich der Band als „Beitrag zur Selbsthistorisierung“ (S. 19), entstanden die meisten Beiträge doch am Augsburger Bukowina-Institut, das selbst Teil der Gemeinschaftsstiftung der Bukowina-Deutschen nach 1945 ist.

Den ereignisgeschichtlichen Rahmen liefert Mariana Hausleitner. Für die Zeit vor 1897 konstatiert sie eine „deutsch-jüdische Symbiose“ (S. 26), die danach sukzessive in Abgrenzung umschlug. Eine zentrale Rolle kam hierbei dem „Verein der christlichen Deutschen“ zu. Er rekrutierte sich vor allem aus Professoren, die aus anderen Teilen der Monarchie in die Bukowina kamen. Sie waren stark, wie Raimund Friedrich Kaindl (1866–1930), von völkischen Diskursen geprägt. Er zählt zu den prägenden, deutschnationalen Interpreten bukowinadeutscher und „südostdeutscher“ Geschichte. Über die Zwischenkriegszeit und die (Selbst)Nazifizierung der Eliten ab 1933 wurde aus religiös und ökonomisch legitimierter Abgrenzung Rassismus, der für rund 96.000 Bukowina-Deutsche in die „Heim ins Reich“-Umsiedlung ins besetzte Polen mündete. Diejenigen, die als „rassisch minderwertig“ eingestuft wurden, fielen der „Euthanasie“ zum Opfer, der Großteil der deutsch-jüdischen Bevölkerung wurde in Ghettos verbracht und in Transnistrien ermordet.3

Maren Rögers instruktiver Beitrag über die longue durée des ethnopolitischen Engineering vertieft diesen Rahmen auf gelungene Weise. Sie verweist unter anderem auf die Grenzen der Vergemeinschaftungsabsichten vor Ort in Gestalt konfessioneller und sozialer Bindungen und regionaler Selbstverständnisse („Bukowinismus“): Wenn bis 1912 zehn Prozent der christlichen Deutschsprachigen dem genannten Verein angehörten, dann taten dies zugleich 90 Prozent nicht. In den Quellen dominieren jedoch – nicht zuletzt infolge nach 1945 reaktivierter Netzwerke – die völkischen Aktivisten das Bild.

Einer der Orte, an dem die national-völkische Vergemeinschaftung konkret stattfinden sollte, war das Deutsche Haus in Czernowitz (Černivci). Petro Rychlo zeigt in seinem Beitrag, dass dies erst ab 1933, durch die Auswirkungen der nationalsozialistischen Machtübernahme, tatsächlich der Fall war. Bis dahin konnte das national definierte Haus seinen Charakter als ein Ort beliebter Feiern mit einer „übernationalen Ausprägung“ (S. 67) bewahren. Er wurde auch vom jüdischen Bürgertum der Metropole genutzt, für religiöse Zwecke, aber auch für jiddische Theateraufführungen und Vorträge über Zionismus. Einer der letzten Referenten war im Frühjahr 1939 Martin Buber.

Johann Wellner geht in seinem Beitrag aus einer linguistischen Perspektive den Grenzen der Vergemeinschaftungsabsichten nach. Mit dem Deutschböhmischen, dem Schwäbischen sowie dem Zipserischen zeigt er für drei Dialektgruppen der deutschsprachigen Bevölkerung der Bukowina auf, dass diese sich in einer langen Perspektive von der Immigration bis zur Umsiedlung bzw. bis in die Bundesrepublik hinein untereinander nicht angeglichen, sondern in einem hohen Maß konserviert haben. Aus dialektologischer Sicht charakterisiert er „Bukowinadeutsche“ somit als „konstruierte[n] Sammelbegriff“, der die „sprachliche und kulturelle Diversität“ (S. 99) nicht abbilde und sich gegenüber den regionalen Selbstbezeichnungen auch nicht durchgesetzt habe.

Ein Fokus der folgenden Beiträge liegt auf den ethnopolitischen Unternehmern. Susanne Sorgenfrei widmet sich dem SS- und SD-Mann und späteren Sprecher der Landsmannschaft Rudolf Wagner (1911–2004). Seine Vita steht exemplarisch für die Bedeutung völkischer Netzwerke über historische Zäsuren hinweg und für die Deutungsmacht der Gatekeeper, die als Quelle und Interpreten in einer Person das Geschichtsbild prägten.

Ähnliches lässt sich über den NS-Handlanger und Physikprofessor Herbert Mayer (1900–1992) sagen, mit dem sich Christina Eiden in ihrem Artikel beschäftigt. Mit Blick auf die Konstruktion der „Gruppe“ sind es vor allem die von Mayer Zeit seines Lebens gesammelten, genealogischen Daten, die als Karteikästen, Stammbäumen und Ahnenpässen zur quantitativen Grundlage sinnstiftender Erzählungen wurden und sich heute im Archiv des Bukowina-Instituts befinden. Mit ihrer Erhebung ging stets die von ihm getroffene Entscheidung einher, wer „‚genealogiewürdig‘“ (S. 126) war und wer nicht. Einzig gültiger Maßstab war und blieb für Mayer hierbei ein völkisch-rassistisches Verständnis von „buchenlanddeutsch“.

Die biographische Studie zu Herbert Mayer ergänzt sich gewinnbringend mit Philipp Krögers Beitrag über die „statistische Sichtbarmachung“ (S. 69) der Bukowina-Deutschen. Anhand der durch völkische Gruppen initiierten, sogenannten Selbstzählungen 1930/33 sowie 1937 zeigt er zum einen deren Bedeutung für die Vorbereitung der Umsiedlung 1940 und für die anschließende, erneute Erfassung durch die Einwandererzentralstelle (EWZ) auf. Und zum anderen stellt er die grundlegende Frage nach unserem heutigen Umgang mit diesen Daten, denen üblicherweise das Siegel der „Objektivität“ verliehen wird, während sie tatsächlich Grundlage für Ein- und Ausschlüsse waren und mittels dieser Datafizierung diese „Gruppe“ maßgeblich erst geschaffen wurde.4

Ebenso wie Daten lassen sich Medien als Mittel der Vergemeinschaftung fassen. Michael Kabelka geht diesem Thema am Beispiel der Zeitung der Landsmannschaft der Buchenlanddeutschen nach: „Der Südostdeutsche“, der – nach verschiedenen Vorläufern – ab 1957 erschien. War in den Anfangsjahren die Frage der Familienzusammenführung das zentrale Thema, folgte zunehmend ein aktives Einschreiben in den Vertriebenendiskurs. Gegen diesen „Grenzrevisionismus als Identitätsstiftung“ (S. 131) regte sich jedoch interne Kritik, was darauf verweist, dass Landsmannschaften nicht für „die Gruppe“ und auch nicht für deren Mehrheit sprechen – der Anteil der Mitglieder verblieb, analog zu anderen Fällen, im einstelligen Prozentbereich – und die Analyse ihrer Verlautbarungen bedarf einer entsprechenden Einordnung.

Anna Hahn wiederum befasst sich mit der erstmals 1944 erschienenen Monatszeitschrift „Die Stimme“, dem Organ der Landsmannschaft der Bukowiner Jüdinnen und Juden. Schätzungsweise 40.000 jüdischen Bürger:innen gelang es, vor der Staatsgründung Israels nach Palästina zu emigrieren. Hahn analysiert sie als „Medium der Vergemeinschaftung“ (S. 170), das nicht zuletzt über die deutsche Sprache eine Brücke zwischen alter und neuer Heimat zu bauen versuchte. Neben Erinnerungen an die Bukowina gewann ab den 1950er-Jahren das Thema der Entschädigung im Rahmen des Lastenausgleichsgesetzes an Bedeutung. Es ist bittere Ironie der Geschichte, dass die von früheren NS-Protagonisten wie Wagner und Mayer aufgebaute Landsmannschaft der Buchenlanddeutschen über die Heimatauskunftsstellen am Entscheidungsprozess beteiligt war. Mit dem Ergebnis, dass jüdische Antragsteller:innen in aller Regel abgewiesen wurden, da sie nicht zum „deutschen Sprach- und Kulturkreis“ gehören würden.5

Gaëlle Fisher erweitert diese Perspektive um das Fallbeispiel Österreich. Im Unterschied zu Westdeutschland gab es dort in den ersten Nachkriegsjahren kein Bestreben, die vormaligen „Volksdeutschen“ zu integrieren. Ein Teil von ihnen wurde in die westlichen Alliierten Besatzungszonen umgesiedelt, während die Verbleibenden ab den 1950er-Jahren unter bestimmten Bedingungen die österreichische Staatsbürger:innenschaft erlangen konnten. In der longue durée über das Jahr 1989 hinaus konstatiert Fisher, dass die schwächere Lobby der Vertriebenenverbände in Österreich eine frühere Pluralisierung des Erinnerungsdiskurses ermöglicht habe, als dies im wiedervereinigten Deutschland der Fall war.

Den Abschluss des Bandes steuert Alexander Weidle bei. Er gehörte zu den Mitarbeiter:innen des Interviewprojekts am Bukowina-Institut, im Rahmen dessen rund 140 Bukowina-Deutsche lebensgeschichtlich befragt wurden. Weidle reflektiert die Bedeutung der Rekrutierungsprozesse, die den Gesprächen vorausgingen, und spricht in diesem Kontext von „Netzwerken des Erinnerns“ (S. 185). Die Forschenden seien immer wieder auf Gatekeeper gestoßen, die den Zugang zu Interviewpartner:innen zu steuern versuchten. All dies hat Auswirkungen auf die Ergebnisse, weshalb Weidle aus gutem Grund dafür plädiert, den Prozess der Rekrutierung stärker als bisher zu reflektieren. Im letzten Teil des Bandes bietet Weidle unter der Überschrift „Stimmen, Fotografien und Dinge“ einen Einblick in die Vielfalt der Quellen, die im Rahmen des Projekts erhoben wurden. Sie stellen einen enormen Fundus für zukünftige Forschungen dar.

In der Gesamtschau bleibt als einziges Manko des Bandes der Umstand zu benennen, dass die bukowina-deutschen Aspekte doch ein spürbares Übergewicht gegenüber der deutsch-jüdischen Geschichte haben – hier bleibt noch Raum für zukünftige Untersuchungen dieser gemeinsamen, verflochtenen Geschichte. Insgesamt ist diese Ausgabe der Danubiana Carpathica aber Ausdruck der beeindruckenden Entwicklung, die das Bukowina-Institut unter der Leitung von Maren Röger genommen hat. Eine ganze Reihe der Beiträge basiert auf Qualifikationsarbeiten, die dort entstanden sind. Der Band ist nicht zuletzt Beleg dafür, dass auch das nicht ganz einfach zu definierende Forschungsfeld „Deutsche Geschichte im östlichen Europa“, kritisch gewendet, substantielle Beiträge zur Reflexion unseres Umgangs mit Kollektivbegriffen zu leisten vermag.

Anmerkungen:
1 Rogers Brubaker, Ethnicity without Groups, in: Archives européennes de sociologie XLIII, 2 (November 2002), S. 163–189.
2 Dazu u.a. Hans-Christian Petersen / Tobias Weger, Neue Begriffe, alte Eindeutigkeiten? Zur Konstruktion von ‚deutschen Volksgruppen‘ im östlichen Europa, in: Nach dem Großen Krieg 1918–1923. Jahrbuch des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 25 (2017), S. 177–199; Spiegelungen 15 (2020), H. 2: Konzepte des Kollektiven.
3 Zum Zusammenhang zwischen Umsiedlung und Selektion: Maria Fiebrandt, Auslese für die Siedlergesellschaft: die Einbeziehung Volksdeutscher in die NS-Erbgesundheitspolitik im Kontext der Umsiedlungen 1939–1945, Göttingen 2014. Speziell zur Bukowina: Mariana Hausleitner, „Viel Mischmasch mitgenommen“. Die Umsiedlungen aus der Bukowina 1940, Berlin 2018. Für die Bessarabiendeutschen hat Susanne Schlechter diesen Zusammenhang untersucht. Eine Publikation ist in Vorbereitung.
4 Hierzu demnächst Jannis Panagiotidis / Hans-Christian Petersen, Die Datafizierung russlanddeutscher Migration. Der Text wird als Teil eines Bandes der Arbeitsgruppe „Translationen von Migration“ des IMIS Osnabrück erscheinen: URL: <https://www.translationen.uni-osnabrueck.de/startseite.html> (08.04.2022).
5 Hierzu auch Jannis Panagiotidis, „The Oberkreisdirektor Decides Who is a German“: Jewish Immigration, German Bureaucracy and the Negotiation of National Belonging, 1953–1990, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), S. 505–533.

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