R. Kramer u.a. (Hrsg.): Historiography and Identity III

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Titel
Historiography and Identity III. Carolingian Approaches


Herausgeber
Kramer, Rutger; Reimitz, Helmut; Ward, Graeme
Reihe
CELAMA 29
Erschienen
Münster 2021: Brepols Publishers
Anzahl Seiten
VIII, 396 S.
Preis
€ 100,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Roman Deutinger, Repertorium "Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters", Bayerische Akademie der Wissenschaften

An sich ist die Geschichtsschreibung der Karolingerzeit nicht direkt ein Stiefkind der historischen Forschung. Allerdings konzentriert sich das Interesse letztlich doch stark auf einige wenige prominente Texte wie Einhards Karlsvita oder die Annales regni Francorum. In mancherlei Hinsicht wurden die Weichen dafür schon vor zweihundert Jahren gestellt. Was in die ersten beiden Scriptoresbände der Monumenta Germaniae Historica (1826 und 1829) aufgenommen wurde und was nicht, welche Titel den Werken dort gegeben wurden, welche Passagen als überflüssig betrachtet und folglich nicht ediert wurden: Solche Entscheidungen waren teilweise nur dem Zeitdruck geschuldet („publish or perish“ galt auch schon für den jungen Georg Heinrich Pertz!), prägen aber bis heute unsere Vorstellungen von der Produktion historiographischer Texte im 8. und 9. Jahrhundert.

Mit dem vorliegenden Sammelband wollen die Herausgeber auch einmal weniger bekannte Werke aus dieser Zeit ins Licht rücken, wofür sie ein internationales Autorenteam zusammenstellen konnten. Die Herangehensweise der einzelnen, durchweg englisch verfassten Beiträge ist freilich sehr unterschiedlich. Explizit mit Fragen der „Identity“ beschäftigen sich eigentlich nur zwei davon. Rutger Kramer behandelt das um 820 verfasste Chronicon Moissiacense, das seinen Namen der Auffindung einer Handschrift in diesem südfranzösischen Kloster im 17. Jahrhundert verdankt, aber kaum dort entstanden ist. Kramer fragt nach den Vorstellungen vom Imperium in diesem Werk und damit zugleich danach, wie der Autor seine eigene, von der Erneuerung des Kaisertums durch Karl den Großen geprägte Zeit in die Welt- und Heilsgeschichte einordnet. Und Mayke de Jong vergleicht mit der Vita Adalhardi und dem Epitaphium Arsenii zwei Werke Ratperts von Corbie, die das Leben der zwei Brüder Adalhard († 826) und Wala († 836) behandeln, aber im Abstand mehrerer Jahrzehnte verfasst sind. Während sich Ratpert in seinem Frühwerk durchaus noch für die fränkische bzw. sächsische Herkunft seiner beiden Protagonisten interessiert, denkt er in seinem Spätwerk nur noch in römisch-imperialen Kategorien.

Andere Beiträge betrachten eher Intentionen und Wirkungen einzelner Werke. So fragt sich Graeme Ward, weshalb Frechulf von Lisieux in seiner ca. 830 verfassten Weltchronik auf die Behandlung seiner eigenen Zeit komplett verzichtet hat. Die Antwort: Weil es sich um ein praktisches Handbuch zur Weltgeschichte handelt, das speziell für die Erziehung des jungen Prinzen Karl des Kahlen zusammengestellt ist, war das schlichtweg nicht erforderlich. Sukanya Raisharma verweist auf die prominente Rolle, die Erzbischof Ado von Vienne in seiner ca. 870 verfassten (in den MGH nur bruchstückhaft edierten) Weltchronik seinem Bischofssitz seit römischer und frühchristlicher Zeit zuschreibt. Obwohl Ado damit anscheinend eher ein lokales Publikum ansprechen wollte, wurde das Werk doch weit über seinen Ursprungsort hinaus verbreitet (eine Liste mit 16 Handschriften findet man S. 273f.). Passend überschreibt die Autorin ihren Beitrag mit „Much Ado about Vienne“. Walter Pohl blickt über die Grenzen des Frankenreichs hinaus auf das langobardische Süditalien: Dass die Langobardengeschichte des Erchempert von Montecassino vom Ende des 9. Jahrhunderts praktisch keine Verbreitung gefunden hat, erklärt sich am ehesten aus ihrer pessimistischen Weltsicht; die hundert Jahre zuvor von Paulus Diaconus präsentierte langobardische „Erfolgsgeschichte“ fand, wie ihre breite Überlieferung zeigt, offenbar viel größeren Anklang bei der Nachwelt.

Wieder andere Beiträge betreiben textkritische Grundlagenforschung. Robert Evans und Rosamond McKitterick präsentieren zunächst ein Panorama der Überlieferung der Historia adversus paganos des Orosius im 8. und 9. Jahrhundert, beschränken sich dann aber auf die Analyse einer verkürzten Fassung in einem Leidener Codex, der Mitte des 9. Jahrhundert in Tours geschrieben wurde. Richard Corradini versucht, die Exzerpte aus spätantiken historiographischen Texten in dem persönlichen Notizbuch des Walafrid Strabo (Codex Sangallensis 878) in die Überlieferung des jeweiligen Werks einzuordnen, was je nach der Qualität vorhandener philologischer Vorarbeiten mehr oder weniger gut gelingt. An der Historia des Orosius hat Walafrid offensichtlich vor allem die Omnipräsenz des Bösen in der Welt fasziniert; als einer der bedeutendsten Theologen seiner Zeit schlug auch er sich mit dem Problem der Theodizee herum.

Von dem sogenannten Chronicon universale usque ad a. 741 gibt es in den MGH gleich drei Editionen, die aber jeweils nur kleine Teile daraus umfassen. Weil es sich letztlich nur um eine mit Zusätzen versehene Fassung der Chronik Bedas handelt, hielten die Herausgeber das meiste für verzichtbar, mit der Folge, dass man anhand der Editionen gar keine rechte Vorstellung vom Inhalt des Gesamtwerks gewinnen kann. Sören Kaschke vergleicht deshalb die sechs handschriftlichen Überlieferungen des Chronicon, die jeweils einen sehr unterschiedlichen Textbestand aufweisen. Dieses Ergebnis, das außerdem nicht einfach mit einem sukzessiven Anwachsen eines Ausgangstexts oder nachträglichen Kürzungen erklärt werden kann, wirft die Frage auf, inwieweit wir es hier überhaupt mit einem einheitlichen Werk zu tun haben, zumal die Abgrenzung von Bedas Chronik ebenfalls nicht leicht fällt. Wer weiß schon, wie viele unter den Hunderten von Beda-Handschriften ebenfalls solche punktuell erweiterten Fassungen enthalten?

Zwei Beiträge verfolgen wiederum je eigene Zugangsweisen zum Thema des Bandes. Matthias Tischler stellt zusammen, was man im 9. Jahrhundert aus den damals verfügbaren Quellen über die Gestalt des Ostgotenkönigs Theoderich erfahren konnte, und verfolgt dabei besonders die intensive Rezeption der Consolatio philosophiae des Boethius. Eric Goldberg schließlich hinterfragt den Bericht der Annales Bertiniani über die Kopfverletzung des Königs Karl von Aquitanien 864 und kommt aufgrund von Andeutungen in anderen Quellen zu dem Schluss, dass es sich dabei nicht, wie üblicherweise angenommen, um einen simplen Jagdunfall, sondern um ein von Karl selbst unternommenes Attentat auf einen politischen Gegner handelte, bei dem allerdings nicht das anvisierte Opfer, sondern er selber schwer verwundet und dauerhaft entstellt wurde.

Wer sich angesichts des Buchtitels Aufschlüsse über die Ausgestaltung fränkischer Identität in der Karolingerzeit erwartet hat, wird möglicherweise enttäuscht sein; davon ist in dem Band kaum die Rede. Auch bieten die hier versammelten, inhaltlich und methodisch doch recht disparaten Beiträge kein geschlossenes Gesamtbild karolingischer Geschichtsschreibung. Ein solches war aber sicher gar nicht intendiert. Für die einzelnen hier behandelten Geschichtswerke werden jedoch mehr als bloße „Annäherungen“ geboten, sondern durchweg gründliche und in einigen Fällen sogar grundlegende Untersuchungen.

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