K. Beger: Erziehung und „Unerziehung“ in der Sowjetunion

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Titel
Erziehung und „Unerziehung“ in der Sowjetunion. Das Pionierlager Artek und die Archangelsker Arbeitskolonie im Vergleich


Autor(en)
Beger, Kathleen
Reihe
Schnittstellen. Studien zum östlichen und südöstlichen Europa
Erschienen
Göttingen 2020: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
301 S., 1 Abb., 9 Tab.
Preis
€ 65,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sylvia Wehren, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Hildesheim

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts rekurrierte auch der sowjetische Staat mit seiner Pädagogik in starkem Maße auf das Ideal des „Neuen Menschen“. Zentral gestellt waren hierfür ritualisierte und kultische Elemente, die über die Veränderung des Individuums auf eine Erneuerung der Gesellschaft zielten. Dabei führte der praktische Versuch der Bolschewiki, Heranwachsende im Rahmen des postrevolutionären Erziehungs- und Bildungssystems umzugestalten, zwar einerseits zu modernisierenden und progressiven, andererseits jedoch zu repressiven und gewaltvollen Strukturen. Wie genau dies geschah, ist seit längerem Gegenstand der Osteuropaforschung. Kathleen Begers Dissertation bietet eine historische Rekonstruktion, die zwar wie andere Arbeiten auf Institutionsanalyse setzt. Sie unternimmt diese jedoch als Vergleich zweier gegensätzlicher Institutionen: Zum einen richtet sie den Blick auf Artek, ein privilegierteres Freizeitlager für Pioniere auf der Halbinsel Krim, das auch für internationale Zusammenkünfte im Rahmen der „Völkerverständigung“ genutzt wurde. Diese Einrichtung erweist sich als Teil der Strukturen zur Reproduktion der „Mittel- und Oberklasse“ (S. 176). Zum anderen wird eine nordrussische Einrichtung bei Archangelsk untersucht, die als Straf- und Arbeitslager für Heranwachsende fungierte. Auch dieses diente – zumindest programmatisch – zwar der Erziehung und Bildung, real sollten jedoch vor allem obdachlose, vagabundierende Kinder – die sogenannten besprizorniki – unfreiwillig untergebracht und ausgebeutet werden.

Beger untersucht beide Einrichtungen vornehmlich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie dienen ihr als kontrastive Beispiele für die sowjetisch-sozialistischen Erziehung-, Bildungs- und Disziplinierungspolitiken. Sowohl die strukturellen Bedingungen als auch die pädagogischen Konzepte werden thematisiert; daneben ist es Begers Anspruch, akteurszentriert zu forschen. Die Studie ordnet sich damit in eine Reihe von institutionskritischen Untersuchungen der Osteuropaforschung ein, die sich mit sowjetischer Pädagogik, mit jugendkulturellen Strömungen und mit kindlichem Aufwachsen auseinandersetzen.1 Beger arbeitet dabei mit einem institutionstheoretischen Anspruch im Rahmen von soziologischen sowie sozial- und mikrogeschichtlichen Perspektiven. So beschäftigt sie sich zentral mit dem Konzept der „totalen Institution“ (Erving Goffman) und verschränkt dies mit der Idee der Heterotopie (Michel Foucault).2 In dieser Weise lassen sich, so die Autorin, die Institutionen zugleich als integrative wie auch exklusive Orte der Gesellschaft beschreiben; zudem als Versuche, zukünftig eine ideale gesellschaftliche Ordnung hervorzubringen. Es sollen nämlich die „realen Ausprägungen der utopischen Vorstellungen“ (S. 21) sichtbar gemacht werden, wobei alle Beteiligten innerhalb von Macht- und Gewaltverhältnissen – gerade die Kinder und Jugendlichen – als Akteure mit eigener Agency zu verstehen sind. Beger nutzt dafür verschiedene Korpora. Vornehmlich kommen Quellen aus russischen Archiven zum Einsatz, dazu Materialien, die in der heutigen Ukraine liegen; neben behördlichen Papieren und programmatischen Schriften auch Ego-Dokumente und Interviews.

Im ersten Kapitel werden die Entstehungskontexte der Einrichtungen, deren wissenschaftliche und ideengeschichtliche Bezüge sowie die politischen Rahmenbedingungen rekonstruiert. Ein größerer Schwerpunkt liegt dabei auf der nur kurzfristig staatlich beförderten Pädologie, einer Art Dachwissenschaft sowjetischer Forschung über die Entwicklungsverläufe von Kindern und Jugendlichen. Sie entstand Anfang des 20. Jahrhunderts und sollte als holistische Lehre nicht nur die Physis und Psyche, sondern auch die Umweltbedingungen der Heranwachsenden erfassen und daraus praktische Konzepte zur Erziehung entwickeln. Dementsprechend wurden verschiedene Bezugsdisziplinen vereint, unter anderem Medizin, Biologie, Psychiatrie, Physiologie und Pädagogik. Die Pädologie ist unter anderem auf den US-amerikanischen Psychologen Stanley Hall (1846–1924) und dessen Schüler Oskar Chrisman (1855–1929) zurückzuführen und hatte, wie Beger zeigt, einen ambivalenten Status innerhalb des sowjetischen Staatsapparates. Zwar war nach Aussage der Autorin keine pädologische Wissenschaftsperson in der kommunistischen Partei; allerdings beförderten die Wissenschaftsgläubigkeit der Bolschewiki und der gesamtgesellschaftliche Glauben an die Gestaltbarkeit des Menschen die Vormachtstellung dieser staatlich geförderten Zentralwissenschaft zur Lösung der sozialen Frage. Da jedoch schnell anwendbare praktische Konzepte ausblieben, verboten die Bolschewiki die Pädologie bereits Mitte der 1930er-Jahre.

Auch andere programmatische und strukturelle Aspekte sowjetischer Staatserziehung werden ausgeführt, unter anderem zur Psychoanalyse sowie zu Degenerations- und Defektionstheorien. Dabei zeigt sich insbesondere, dass Kinder und Jugendliche den Bolschewiki zunächst als benachteiligte und versorgungsbedürftige Gruppe galten, weshalb es verschiedene Volkskommissariate gab, die sich um ihre Belange kümmern sollten. Dennoch gab es kaum konkrete Vorstellungen beziehungsweise praktikable Konzepte zur „Schaffung der ersten sozialistischen Generation“ (S. 35). Zusammen mit schwerwiegenden sozialen Missständen in der teils katastrophalen postrevolutionären Realität sowie der Auflösung traditioneller familialer Bindungen und der infrastrukturell noch nicht kompensierten Verstädterung führte dies zu einem stark defizitären Erziehungs- und Bildungssystem. Obdachlosigkeit von Heranwachsenden war daher ein Dauerproblem, das sich durch den stalinistischen Terror, die Hungersnöte und durch Deportationen noch verstärkte. Es setzten sich auch daher zunehmend repressivere Erziehungsideen durch. Teile der kindlichen und jugendlichen Bevölkerung wurden folglich als gesellschaftliche Bedrohung angesehen. Es kam zu einer ambivalenten Sortierung von Heranwachsenden: Zum einen galten sie nun als Hoffnungsträger, zum anderen jedoch als Staatsfeinde.

Die strukturellen Verhältnisse zeigt Kathleen Beger im zweiten Kapitel an der Entwicklung der beiden Einrichtungen. Immer wieder legt sie dabei besonderen Fokus auf die pädagogischen Praktiken, wobei auch die starken US-amerikanischen und europäischen Einflüsse sichtbar werden. Deutlich wird, dass die Institutionen keinesfalls ihren Idealen nachkamen. Im Gegenteil bildeten sich „inoffizielle Hierarchien und Strukturen […], die Selbstermächtigung, Missbrauch und Gewalt begünstigten“ (S. 34). Zwar hielt man den Menschen für umfassend erziehungsfähig, da man Pädagogik und Umwelteinflüsse über Gene und Herkunft stellte. Die anfänglichen pädagogischen Praktiken, die auf intrinsische Überzeugungen, Selbstverwaltung und kollektive Aktivitäten setzten, wurden jedoch später in der Realität schlecht ausgestatteter Einrichtungen durch Repressionspädagogiken ersetzt. Anstatt eher antiautoritärer Erziehungskonzepten setzten sich daher Praktiken politischer Indoktrination und körperlicher Strenge durch. Dies führte unter anderem dazu, dass obdachlose Kinder inhaftiert und in der Archangelsker Arbeitskolonie unter Arbeitszwang gestellt wurden. Das 1934 gegründete Lager sollte eigentlich zu einer beruflichen Qualifizierung führen und aus delinquenten Kindern produktive Bürger formen. Allerdings herrschte in der Arbeitskolonie in Bezug auf Bildung Unterausstattung; so wurden die Heranwachsenden etwa zur Fertigung von Kriegsmaterial gezwungen. Auch die Versorgungslage war bis in die 1950er-Jahre prekär. Bereits 1959 wurde das Lager in eine Besserungsanstalt für Erwachsene umgewandelt.

Artek hingegen entstand 1925 als Kindererholungslager im Kontext der Arbeiterfürsorge und wurde als dauerhafte Einrichtung zur Erholung verstanden. Auch das Artek-Lager litt unter den gesellschaftlichen Krisen, insbesondere im Zweiten Weltkrieg; allerdings wurde den Kindern in der Regel doch eine bessere Behandlung zuteil. Nach Stalins Tod und der damit einhergehenden politischen Öffnung entwickelte sich Artek sogar zu einem internationalen Zentrum, in dem Heranwachsende unter der Idee der Völkerfreundschaft zusammenkamen. Im Gegensatz zu Archangelsk wurde Artek dadurch zu einer Prestigeeinrichtung, die medial große Aufmerksamkeit erlangte. An beiden Orten jedoch, so weist Beger nach, führte die periphere Lage wie auch die strukturelle Abgeschlossenheit der Institutionen eher dazu, dass in Zeiten von knappen materiellen und personellen Ressourcen die Ordnungen kollabierten und informelle Strukturen entstanden, in denen „Günstlings- und Misswirtschaft, Gewalt und Repression“ (S. 182) herrschten.

In dritten Kapitel widmet sich die Autorin in stärker theoretisierendem Gestus den Interaktionen der Einrichtungen mit ihrer Außenwelt – in den Worten Begers, dem Gefüge von „Öffnung und Abschließung“ (S. 34). Diese kamen in den Einrichtungen unter anderem durch den Empfang von ausländischen Besuchenden, den Versuchen propagandistisch-medialer Selbstdarstellung, durch Kultur- und Sportveranstaltungen und Pionieraustausch, aber auch durch die Angehörigen der Heranwachsenden sowie durch staatliche Inspektionen und Kontrollen zustande. Die Kinder des Pionierlagers Artek, das zeigt sich wiederholt, waren dabei um ein Vielfaches begünstigt. Dennoch zeigen die Analysen Begers, dass sich die Einrichtungen in einem permanenten Spagat aus Kindheitskult und Repräsentation einerseits sowie Disziplinierung und Gewalt anderseits befanden. In Artek war etwa das Programm der Talentförderung zeitweilig so anspruchsvoll und überformalisiert, dass viele Kinder damit überfordert waren.

Im Schlussteil der Studie gibt die Autorin einen Ausblick auf die Gegenwart und kontrastiert sowjetische mit postsowjetischen Verhältnissen. Außerdem legt sie eine Analyse zu den realen Prozeduren totaler Institutionen vor. Dabei zeigt sich, dass derlei Einrichtungen durch ihre Tendenzen zur gesellschaftlichen Abgeschiedenheit wie auch durch ihre stark ideal-normativen Bezüge beständig fragil sind, was die körperliche und seelische Unversehrtheit der Bewohnenden gefährdet. Alle historischen Akteure hatten daher ein hohes Missbrauchs- und Gewaltrisiko, die Heranwachsenden in verstärktem Maße. Die Agency der Heranwachsenden zeigte sich oftmals durch emotionale Verschließung wie auch durch die Ausübung von Gewalt gegen sich und andere.

Begers Studie rekonstruiert sehr gut die historisch-gesellschaftlichen Zusammenhänge im Kontext gegenwärtiger Forschungsstände. Gerade der Versuch, trotz schwieriger Quellenlage Zusammenhänge darzustellen, erweist sich als produktiv. Begers These der „Unerziehung“ in den Arbeitskolonien ist gut begründet und durch zahlreiche Fallbeispiele gestützt. Ihre Analyse der Lager als „totale Institutionen“ und die Verwendung umfangreicher Quellenmaterialien machen dieses Buch zu einem wichtigen Beitrag der bildungshistorischen Forschung. Kritisch zu bemerken wäre, dass die geschlossene Erzählung als textdramaturgische Ergebnispräsentation es teils erschwert, zwischen der analytischen Arbeit Begers und der Referenzierung des Forschungsstandes zu unterscheiden. Des Weiteren wird stellenweise die Aussagekraft unterschiedlicher Quellen nicht quellenkritisch reflektiert. Außerdem fehlt eine Theoretisierung des Begriffs der Erziehung; dies hätte den analytischen Anspruch der Studie fundiert, erweitert und gestärkt. Dennoch bleibt die Arbeit eine produktive Analyse der sowjetischen Pädagogik- und Kindheitsgeschichte. Diese erweist sich auch beim Versuch, aktuelle russische Verhältnisse zu verstehen, als bedeutsam.

Anmerkungen:
1 Vgl. Sabine Reh / Meike S. Baader / Marcelo Caruso (Hrsg.), (Post-)Sozialistische Bildung – Narrative, Bilder, Mythen, Basel 2023; White, Elizabeth, A Modern History of Russian Childhood. From the Late Imperial Period to the Collapse of the Soviet Union, London 2020; Olga Kucherenko, Soviet Street Children and the Second World War. Welfare and Social Control under Stalin, London 2018; Seth Bernstein, Raised under Stalin. Young Communists and the Defense of Socialism, Ithaca 2017; Donald J. Raleigh, Soviet Baby Boomers. An Oral History of Russia‘s Cold War Generation, Oxford 2011; Alexei Yurchak, Everything Was Forever, Until It Was No More. The Last Soviet Generation, Princeton 2005; Alan M. Ball, And How my Soul is Hardened. Abandoned Children in Soviet Russia, 1918–1930, Berkeley 1994; Larry Holmes, The Kremlin and the Schoolhouse. Reforming Education in Soviet Russia, 1917–1931, Bloomington 1991.
2 Vgl. Erving Goffman, Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Aus dem Amerikanischen von Nils Lindquist, Frankfurt am Main 1973; Michel Foucault, Die Heterotopien / Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, zweisprachige Ausgabe, übersetzt von Michael Bischoff, Frankfurt am Main 2005.

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