V. Helfert: Revolution und Rätebewegung

Cover
Titel
Frauen, wacht auf!. Eine Frauen- und Geschlechtergeschichte von Revolution und Rätebewegung in Österreich, 1916–1924


Autor(en)
Helfert, Veronika
Reihe
L'Homme Schriften (28)
Erschienen
Göttingen 2021: V&R unipress
Anzahl Seiten
399 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kerstin R. Wolff, AddF - Archiv der deutschen Frauenbewegung. Forschungsinstitut und Dokumentationszentrum

Über den Nutzen und Nachteil von historischen Jubiläen wird in der Wissenschaft durchaus kontrovers diskutiert. Sehen die einen die Gefahr, dass die Geschichtswissenschaft nur noch von einem Jubiläum zum anderen eilt, um mit schnell darauf abgestimmten Publikationen ein größeres Lesepublikum zu erreichen, sehen die anderen gerade darin die große Chance, die Ergebnisse des eigenen Faches auch über die eigene Community hinaus breiter bekannt zu machen. Egal auf welcher Seite der Einschätzung man sich selbst befindet, sicher ist, dass es anlässlich von Jubiläen zu einem Anstieg von Publikationen und damit auch Forschungen zum Jubiläumsereignis kommt. Auch das hier vorliegende Buch ist rund 100 Jahre nach einem großen historischen Ereignis verfasst worden, hebt sich aber von der Gattung der schnellen Jubiläumsliteratur deutlich ab.

Veronika Helfert, Historikerin und derzeit Postdoctoral Fellow an der Central European University in Wien, hat mit ihrer 2018 eingereichten und 2021 publizierten Dissertation eine „Frauen- und Geschlechtergeschichte von Revolution und Rätebewegung in Österreich“ vorgelegt. Wie der Untertitel bereits verrät, liegt der Fokus der Arbeit auf der Frage nach dem „Geschlecht der Revolution“ und ordnet sich damit in die frauen- und geschlechtergeschichtliche Forschung ein, die, wie Gabriella Hauch in einem vorangestellten „Zum Geleit“ formuliert, „in den letzten Jahrzehnten das Instrumentarium bereitgestellt [hat], um das Narrativ der ‚Revolution der Männer‘ analytisch zu fassen“. Damit gelingt es Helfert – so Hauch weiter –, eine „theoretisch wie methodisch fundierte und vor allem empirisch gesättigte Studie“ vorzulegen, die „das analytische Potenzial der Kategorie Geschlecht deutlich“ macht (S. 14f.).

Obwohl es bereits einige Arbeiten zur Rolle von Frauen in der Novemberrevolution gibt1, ist das Diktum, die Revolution sei „männlichen Geschlechts“ nach wie vor fast gänzlich ungebrochen. Diese Einschätzung scheint auf den ersten Blick auch zu stimmen, schließlich waren es Matrosen und Soldaten, die die Revolution lostraten, und die Arbeiter- und Soldatenräte, die in den Städten die Regierungen übernahmen, in denen (wenig bis keine) Frauen aktiv waren. An diesem Punkt dreht Veronika Helfert den Blick und fragt, ob nicht die Vorannahmen über das, was als revolutionär gelesen wird, das Ergebnis der Suche nach revolutionären Personen beeinflusst. Ist es nicht vielmehr bereits die zeitgenössische Revolutionserzählung, die Akteure sichtbar und Akteurinnen unsichtbar macht?

Um dieser Konstruktion auf die Schliche zu kommen, untersucht die Arbeit das in der Forschungsliteratur immer wieder herangezogene Modell der Revolution und legt überzeugend dar, dass der Ausschluss des revolutionären Handelns von Frauen eine Folge des Narrativs der „Österreichischen Revolution“ und dessen Rückgriff auf die Erzählungen vorangegangener Revolutionen war. So kam es sowohl zu einer Depolitisierung weiblichen Protestverhaltens, zu einer Vormachtstellung des Erwerbsarbeiterparadigmas und zu einer männlichen Figuration des Politischen. Durch die Entschlüsselung dieses zugrundeliegenden Narrativs kann Helfert den Blick auf die Revolution der Männer als Erzählung richten und damit (einmal mehr) die zentrale Bedeutung von Geschlecht herausarbeiten. Die Ergebnisse dieser Rekonstruktionsarbeit aufgreifend schlägt Helfert dann vor, die in der Sekundärliteratur häufig verwendete Einteilung der österreichischen Revolution und Rätebewegung in drei Phasen um eine proto-revolutionäre Phase zu erweitern.

Dem folgend betrachtet die Studie den Zeitraum zwischen 1916 und 1924 in zwei Teilen. Der erste Teil umfasst die proto-revolutionäre Phase zwischen 1916 und Oktober 1918, der zweite Teil deckt die Zeit zwischen November 1918 und 1924 ab. Bei der Untersuchung der Hunger- und Kriegszeit zwischen 1916 und 1918 wird deutlich, dass die sich steigernden Hungerunruhen als Protestverhalten gedeutet werden müssen und nicht – wie so häufig – als unpolitisches Verhalten in den „privaten“ Bereich abgeschoben werden können. Vielmehr stellten sie „eine ernsthafte Gefährdung der sogenannten ‚Heimatfront‘“ dar (S. 109) und können als Gewaltrituale gelesen werden. Auch in den Streikbewegungen im Krieg, die ab 1917 immer mehr Fahrt aufnahmen, kann Helfert die Grenzüberschreitung streikender Arbeiterinnen aufzeigen, die allerdings sowohl von den Arbeitern als auch von der Polizei immer wieder auf ihre angestammte Rolle verwiesen wurden und ihr Protest damit unsichtbar gemacht wurde. Bereits hier werden einzelne Frauen namentlich genannt, die als Arbeiterinnen oder Aktivistinnen unterwegs waren. Dies setzt sich in Kapitel fünf weiter fort, in dem Frauennetzwerke, vor allem der sozialdemokratischen Linken sowie linksradikaler und kommunistischer Akteurinnen, und deren Verknüpfungen zu bürgerlichen Frauen- und Friedensbewegungen vorgestellt werden.

Der zweite Teil der Arbeit beleuchtet den revolutionären Transformationsprozess und die Verortung von Sozialistinnen in den Arbeiterräten. Auch hier werden Frauen als Aktivistinnen und Revolutionärinnen sichtbar, ihre Positionen und Aktionen werden vorgestellt und die Autorin zeichnet nach, wie schwierig es Revolutionärinnen fiel, als solche wahrgenommen zu werden. Sie „mussten sich als solche dezidiert in den Diskurs einschreiben, während männliche Akteure das nicht nötig hatten“ (S. 224). Das siebte Kapitel wendet sich Wahlen und Abstimmungen sowie der Ausgestaltung des Rätesystems zu und damit dem Bereich, der sich aufgrund seines männerbündischen Charakters am schwersten mit der „Frauenfrage“ tat. Ein Hauptgrund hierfür war die Dominanz der männlich gedachten Kategorien von (außerhäuslicher Lohn-)Arbeit. Die unentschlossen geführte Debatte um Hausfrauenräte zeigt, wie versucht wurde, die unterschiedlichen Sphären von weiblicher und männlicher Arbeit in das Rätesystem zu integrieren. Dies blieb letztendlich allerdings erfolglos, da die grundlegende Bereitschaft fehlte, „sich mit der Frage der Beteiligung von Frauen umfangreich auseinanderzusetzen“, was Helfert mit der „unterschiedlichen Bewertung von verschiedenen Formen der Einkommenssicherung“ begründet (S. 252). Im achten Kapitel geht es um die spannende Frage, wie sich Forderungen der Revolution im „Alltag“ niederschlugen, wobei hier besonders die schwierige Ernährungssituation und das Wohnproblem im Zentrum stehen. Hier auf die Arbeiten von Revolutionärinnen und linken Politikerinnen hinzuweisen, diese vorzustellen und sie damit als politisch aktiv Handelnde und Planende zu zeigen, ist eines der großen Verdienste dieser Arbeit. Dadurch wird eindrucksvoll deutlich, welchen viel zu wenig beachteten Beitrag die Revolutionärinnen geleistet haben und wie fruchtbar es sein kann, die revolutionäre Phase bis in die Mitte der 1920er-Jahre auszudehnen. Es ist ausgesprochen aufschlussreich zu lesen, welche praktischen Ansätze versucht wurden, zum Beispiel indem sich Mütterräte bildeten, Schulsektion eingerichtet wurden oder Fürsorgerätinnen ihre Arbeit aufnahmen. Es waren also alltagspraktische Ideen, die die weibliche Seite der Revolution mit sich brachte. Das abschließende neunte Kapitel fokussiert auf die (neuen) Ideen eines revolutionären Geschlechterverhältnisses, welches die Protagonist:innen selbst entwarfen. Mit einem Blick auf die Politisierung von Hausfrauen, der Sozialisierung von Care-Arbeit und Überlegungen zu einem neuem Partnerschaftsmodell wird die Studie beendet. Deutlich wird, dass viele der Reformüberlegungen auf eine Verbesserung des Alltagslebens der Menschen zielte und deshalb auch vielschichtig und vielthematisch angelegt waren. Die Idealbilder einer sozialistischen Frau und einer spezifischen proletarischen Weiblichkeit, welche hier entworfen wurden, „oszillierten zwischen dem bürgerlichen Weiblichkeitsideal, das das hierarchische Geschlechterverhältnis festigte, und Entwürfen eines neuen Frauenbildes, das durch den ‚seelischen Umsturz‘ in der sozialistischen Gesellschaft verwirklicht werden sollte“ (S. 332).

Der Arbeit gelingt es hervorragend, sowohl die Rolle von Frauen in der Revolution nachzuzeichnen als auch die geschlechtlich aufgeladenen Handlungsspielräume und Ausschlussmechanismen „der Revolution“ zu rekonstruieren. Es ist der Arbeit besonders hoch anzurechnen, dass sie auf einer reichen Quellenbasis ruht, die es ermöglicht, das konkrete Handeln der untersuchten Frauen auf vielen verschiedenen Feldern sichtbar zu machen. So hat die Autorin sowohl Polizeiberichte, Personennachlässe, Akten der städtischen Verwaltung, des Innenministeriums und diverse Parteiarchive für ihre Arbeit herangezogen. Die konkreten Beispiele von Zusammenschlüssen, Protesten, Einmischungen und (Mit-)Agierens von Frauen, die Veronika Helfert herausarbeitet, sind es, die die Arbeit so lebendig und lohnend zu lesen macht. Eingebettet werden diese Beispiele in eine breite Literaturgrundlage, die es erlaubt, die Quellenfunde zu kontextualisieren. Dem Buch ist eine breite Leser:innenschaft zu wünschen.

Anmerkung:
1 z.B. Christiane Sternsdorf-Hauck, Brotmarken und rote Fahnen. Frauen in der bayrischen Revolution und Räterepublik 1918/19, Frankfurt am Main 1989; Helga Grebing, Frauen in der deutschen Revolution 1918/19, Heidelberg 1994; Anja Weberling, Zwischen Räten und Parteien. Frauenbewegung in Deutschland 1918/1919, Pfaffenweiler 1994; Kathleen Canning, Das Geschlecht der Revolution – Stimmrecht und Staatsbürgertum 1918/19, in: Alexander Gallus (Hrsg.), Die vergessene Revolution von 1918/19, Göttingen 2010, S. 84–116; Ingrid Sharp/Matthew Stibbe, „In diesen Tagen kamen wir nicht von der Straße …“. Frauen in der deutschen Revolution von 1918/19, in: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte, 2018, H. 73/74, S. 32–39, hier: S. 32.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension