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Titel
Strahlen im Kalten Krieg. Nuklearer Alltag und atomarer Notfall in der Schweiz


Autor(en)
Marti, Sibylle
Reihe
Krieg in der Geschichte 114
Erschienen
Paderborn 2020: Ferdinand Schöningh
Preis
512 S.
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Stefanie van de Kerkhof, Historisches Institut, Universität Mannheim

Der Kalte Krieg und seine Kulturen waren nach der Jahrtausendwende intensiver erforschte Bereiche der zeithistorischen Forschung.1 In der letzten Dekade gesellten sich dazu technik- und wissenshistorische Untersuchungen, die auf breiterer Quellenbasis den Kenntnisstand älterer politologischer und (technik-)soziologischer Studien deutlich erweiterten.2 In diesem Umfeld ist auch die Grundlagenstudie von Sibylle Marti zu verorten, ein anregender Beitrag zur Geschichte von Sicherheit, ionisierender Strahlen und radioaktiver Stoffe sowie der Schweiz im Kalten Krieg.3

Im Zentrum der gründlichen Untersuchung steht der staatliche Umgang mit Strahlen und ihren Gefahren am Beispiel von Atomwaffen und Kernkraftwerken von 1945 bis 1994. Methodisch werden hier implizit moderne Politik- und Verwaltungsgeschichte mit einer Wissens- und Technologiegeschichte des Kalten Krieges transdisziplinär verbunden. Anregende Bahnen für die zukünftige Forschung spurt die Arbeit durch ihre Perspektive auf die Sicherheitsdispositive4 und die Anwendung des Foucaultschen Konzepts der Gouvernementalität vor. Marti zielt aber nicht auf die Frage ab, wie die Schweizer Bevölkerung durch Sicherheitsdispositive regiert wurde, sondern fokussiert stattdessen, wie Strahlen, ihre Erforschung, Überwachung, Regulierung, Simulation und Beherrschung selbst zum Ziel des Regierens und Gegenstand von stetig expandierenden Sicherheitsdispositiven wurden. Dies könnte auch erklären, warum die für Foucault – und im Anschluss an ihn entstandene Arbeiten – zentralen Aspekte der Macht und der Selbstregulierung der Bevölkerung nur indirekt adressiert werden. Weitgehend gilt dies auch für den Bereich der politischen Ökonomie, wo relevante unternehmerische Akteure zumindest in einigen Bereichen wie der Messgeräteproduktion benannt und ihre partikularen Interessenlagen ausgelotet werden.

Die quellengesättigte Studie fächert sich in drei inhaltliche Kapitel auf, die Normalfall, Notfall und Ernstfall in unterschiedlich ausgeprägtem Umfang behandeln. Während Normalfall und Notfall in origineller Weise weiter untergliedert werden (Forschen, Überwachen und Regulieren im Normalfall sowie Simulieren, Alarmieren und Retten im Notfall), thematisiert der Ernstfall in knapperer Form das Zusammenlaufen verschiedener Sicherheitsdispositive nach dem einschneidenden Reaktorunfall von Tschernobyl 1986 und die bis in die 1990er-Jahre reichenden Konsequenzen. Marti kann dabei überzeugend und auf der Basis erheblicher Quellenmengen aus neun Archiven nachweisen, dass das gouvernementale Handeln darauf abzielte, die freie Zirkulation ionisierender Stoffe mittels der kostspieligen Organisation von Strahlensicherheit zu ermöglichen.

Ausgangsbasis bildete eine im November 1945 vom Eidgenössischen Militärdepartement einberufene Konferenz von Wissenschaftlern, Beamten und Militärs, auf der ein Mangel an Wissen über Atomenergie, radioaktive Stoffe und Schutzmaßnahmen deutlich wurde. Zum Aufbau von Know-how wurden die Sicherheitsdispositive daher ausgeweitet. Der gesamtgesellschaftlichen Mobilisierung dienten seit den 1950ern neu gegründete staatliche Kommissionen zur Vorbereitung der Schweiz auf einen künftigen Atomkrieg, der mit den US-Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki nicht nur denkbar, sondern auch real geworden war. Um eine beständige preparedness zu erreichen, kooperierte die Schweiz in Forschung und Überwachung eng vor allem mit den USA, Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland sowohl in ziviler als auch in militärischer Hinsicht. Die Grenzen zwischen den Sicherheitsdispositiven für atomare Notfälle im Alltag und im Kriegsfall verschwammen dabei ebenso wie die Grenzen zwischen Friedens- und Kriegszustand, wozu die Gesamtverteidigungsorganisationen als hybride Einrichtungen besonders beitrugen (S. 24f.).

Zwar propagierte der Staat zu Beginn eine der totalen Landes- bzw. Gesamtverteidigung angepasste Autarkiestrategie, doch angesichts der gelebten „strategischen Multioptionalität“ mit einer gewissen außenpolitischen Offenheit integrierte sich die Schweiz seit dem Ende der 1950er-Jahre zunehmend in internationale zivile Atomprogramme wie Atoms for Peace. Gefördert wurde diese Entwicklung durch die dem Schweizerischen Nationalfonds seit 1958 angegliederte Kommission für Atomwissenschaft und diverse, auf Bundesebene nach 1945 etablierte Kommissionen aller Ressorts vom Eidgenössischen Departement des Innern bis zum Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement. Sie waren dem schweizerischen Milizsystem entsprechend als nebenberufliche Pro bono-Organisationen gegründet worden und wurden als nahezu rein männliche Eliten von einem Werte- und Normenkanon sowie politischen Maximen geeint. Deren Einhaltung wurde nach den Ergebnissen Martis konformistisch überwacht und im Falle von Zuwiderlaufen mit Ausschluss belegt (u.a. S. 35). Im Bereich des Strahlenschutzes blieb das Netzwerk aus Vertretern vor allem der Bundesverwaltung und wenigen Privaten, das laut Marti durch einen „Kalten-Krieg-Konsens“ geeint wurde, trotz Ausweitung der Akteure ein überschaubarer „kleiner Expertenkreis“ „mit großer personeller Kontinuität“ (S. 20). Den Konsens innerhalb dieser Security Community5 bildeten erstens die Landesverteidigung, zweitens die strategisch sowohl nach innen als auch nach außen einsetzbare Neutralität, drittens ein strikter Antikommunismus und viertens die bedingungslose Förderung der Atomenergie. Dieses Fundament schweizerischer Sicherheitspolitik war bis in die „bewegten“ 1960er-Jahre auch durch die erste normierende schweizerische Strahlenschutzverordnung 1963 relativ stabil, wankte aber schon in den 1970ern und endete mit den 1980er-Jahren, obwohl es auch bereits zuvor zu Konflikten in Form von Kompetenz-, Finanz- und Ressourcenstreitigkeiten gekommen war, die Marti eingehend und präzise mittels vielfältiger Fallbeispiele und Abbildungen darstellt.

Insgesamt zeigt die Autorin über den gesamten Zeitraum vorbildlich, wie sich spezifische „Überwachungs-, Regulierungs-, Alarmierungs- und Rettungsdispositive herausbildeten, die sowohl auf den expandierenden nuklearen Alltag als auch einen künftigen Atomkrieg abzielten“ (S. 444) und die „Nuklearität“ (Hecht) steigerten. Während im Normalfall das Sicherheitsthema bei einer Vielzahl von Akteuren in Politik, Verwaltung und Wissenschaft zirkulierte, „stand im Notfall die ‚Koordination‘ von Sicherheit im Zentrum“ (S. 444). Mit der verstärkten Wahrnehmung, Diskussionen und Konflikten um Atomenergie und -bewaffnung begannen sich in den 1960er-Jahren auch die Sicherheitsdispositive und das gouvernementale Handeln zu verändern. Trotz einer gewissen Entspannung im Zeichen der Détente war die schweizerische Sicherheitspolitik nicht nur von einer zunehmenden Verwissenschaftlichung bestimmt, sondern wurde durch neuartige Formen der Simulation und der imaginierten Bedrohung in permanenter Kriegsbereitschaft gehalten. Sie wurde auch zur Ausgrenzung gesellschaftlicher Kritik genutzt, denn „die gouvernementale Sicht auf die Anti-Atomkraft-Bewegung wurde folglich von den Bedrohungs- und Feindbildern des Kalten Krieges mitgeformt“ (S. 442). Die Kritik schweißte die small world der Strahlenexperten zusammen. Sie geriet durch den Reaktorunfall in Harrisburg in den USA 1979 aber unter Druck, was in den frühen 1980er-Jahren zu einem eigenen Strahlenschutzgesetz führte. Mit dem Super-GAU im ukrainischen Tschernobyl 1986 verbunden war nach Marti eine stärkere „Professionalisierung der Sicherheitsdispositive gegen Strahlen […], die mit einer Aufwertung der zuständigen Verwaltungsstellen und einer Abwertung der auf Milizbasis arbeitenden Expertenkommissionen einherging“ (S. 443). Diese altbewährten Akteure verloren damit wie Armee und Zivilschutz an Relevanz. Mit dem Erstarken der Friedensbewegung setzte sich diese Tendenz in den 1980er-Jahren fort und führte zum Ende von naivem Fortschritts- und Machbarkeitsglauben an die beherrschbare Technologie. Für die 1990er-Jahre konstatiert Marti in Konsequenz eine Desillusionierung und Entmystifizierung radioaktiver Stoffe und Energiequellen.

Durch die gouvernementale Perspektive auf das Regieren von Strahlen in der Schweiz bleiben übergeordnete internationale oder parallel in anderen Ländern von NATO und Warschauer Pakt verlaufende Entwicklungen zwar weitgehend ausgeblendet. Damit könnte zukünftig aber stärker nach der Eigenlogik der Akteure versus ihre Einbindung in das internationale System bzw. die Militärpolitik der USA als Hegemon gefragt werden, die hier vor allem als transnationaler Wissenstransfer ausführlich adressiert werden. Dies gilt auch für die Reaktionen der Schweizer Öffentlichkeit, die für Anschlussstudien ein interessantes Feld medialer Analysen bieten.

Ihren besonderen Wert erlangt Martis eingehende Untersuchung durch die Ausdehnung des erforschten Zeitraums auf die 1970er- und 1980er-Jahre, wodurch gouvernementale Transformationsprozesse erstmals in dieser Deutlichkeit fassbar werden. Zudem kann sie durch die Einbeziehung schweizerischer Akteure auf verschiedenen Ebenen das flexibel und opportunistisch einsetzbare außenpolitische Konzept der Neutralität differenziert beleuchten. Sie zeigt deutlich, „wie stark sich die dichotome Struktur des Kalten Krieges auch in Ländern wie der Schweiz, die scheinbar am Rande des Systemkonfliktes standen, als wirkmächtig erwies“ (S. 16). Diese überzeugende Arbeit stellt somit eine Grundlagenstudie zur Nachkriegsgeschichte von Strahlen und Atomenergie in der Schweiz dar, an der die zukünftige Forschung nicht vorbeikommen wird. Trotz des hohen Niveaus des theoretischen Kontextes und bisweilen sperriger foucaultscher Begrifflichkeit bietet sie auch für die Praxis in Politik und Gesellschaft einen hervorragenden Überblick.

Anmerkungen:
1 Dazu u.a. Thomas Lindenberger / Marcus M. Payk / Annette Vowinckel (Hrsg.), Cold War Cultures. Perspectives on Eastern and Western European Societies, New York 2012, und die Studien zum Kalten Krieg 1–6, vor allem: Bernd Greiner / Tim B. Müller / Klaas Voß (Hrsg.), Erbe des Kalten Krieges, Hamburg 2013; Tim B. Müller / Bernd Greiner (Hrsg.), Macht und Geist im Kalten Krieg, Hamburg 2011; Bernd Greiner / Christian Th. Müller / Claudia Weber (Hrsg.), Ökonomie im Kalten Krieg, Hamburg 2010.
2 Zum Beispiel Christian Kehrt, Einleitung. Zur Wahrnehmungsgeschichte von Militärtechnik, in: Technikgeschichte 86,4 (2019), S. 269–280; Themenheft Kalter Krieg der Zeitschrift „Technikgeschichte“ 2013; Silke Fengler / Carola Sachse (Hrsg.), Kernforschung in Österreich. Wandlungen eines interdisziplinären Forschungsfeldes 1900–1978, Wien 2012.
3 Ich kenne die Autorin von einem kurzen Forschungsaufenthalt im Hamburger Institut für Sozialforschung 2012. Die Dissertationsschrift habe ich weder inhaltlich betreut noch vor der Rezensionsanfrage jegliche Inhalte davon gelesen.
4 In Anschluss an Foucault versteht Marti darunter „ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische und philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfasst.“ Michel Foucault, Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 119f. Vgl. Marti, Strahlen, S. 6.
5 Vgl. Stefanie van de Kerkhof, Waffen und Sicherheit im Kalten Krieg. Das Marketing der westdeutschen Rüstungsindustrie 1949–1990 (JWG-Beihefte 24), Berlin 2019, S. 27ff.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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