Cover
Titel
Kontaktzonen und Grenzregionen. Kulturwissenschaftliche Perspektiven


Herausgeber
Kleinmann, Sarah; Peselmann, Arnika; Spieker, Ira
Reihe
Bausteine aus dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde 38
Erschienen
Anzahl Seiten
278 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lina Schröder, Institut für Fränkische Landesgeschichte, Universität Würzburg

Vorliegender Sammelband ist das Ergebnis einer gleichnamigen Konferenz, die 2017 in Dresden stattfand, und steht im Zusammenhang mit einem längerfristig angelegten Forschungsprojekt. Seit 2015 am Dresdener Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde (ISGV) angesiedelt, fokussiert es für den deutsch-polnisch-tschechischen Grenzraum die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen städtischen Kommunen sowie im Kultur-, Bildungs- und Freizeitbereich. Vor dem Hintergrund der wechselhaften, konflikt- und gewaltreichen Geschichte dieser Grenzregionen im 20. Jahrhundert nimmt es die konkreten Praktiken der Kooperation für das 20. und 21. Jahrhundert in den Blick. Besagte Konferenz und der Band zu „Kontaktzonen und Grenzregionen“ schließen die erste Projektphase ab (S. 13).

Das Feld der interdisziplinären Grenzraumforschung zeichnet sich, so Dominik Gerst und Hannes Krämer in diesem Band (S. 49f.), bislang durch eine mehr oder minder strikte und wirkmächtige Arbeitsteilung zweier Forschungsgebiete aus. Die „Border(land) Studies“ untersuchen vor allem politisch-territoriale Demarkationen, wobei sie vornehmlich Staatsgrenzen, aber auch andere räumliche Grenzkonstellationen in den Blick nehmen. Die „Studies of Boundaries“ widmen sich hingegen sozio-symbolischen sowie kulturellen Grenzziehungen. Als eine Gemeinsamkeit beider Zugänge stellen die Autoren die Grenze als Schnittstelle, „als gleichermaßen trennendes und verbindendes Element“ (S. 51) heraus.

Die zwölf Aufsätze versuchen diese etablierte Arbeitsteilung beider Forschungsansätze ein Stück weit zu überwinden. Dies gelingt durch die thematische Schwerpunktsetzung innerhalb der Aufsätze. Letztere spiegeln über die Zugehörigkeit der Autoren:innen zu ganz unterschiedlichen Disziplinen wie z.B. der Soziologie, Kultur-, Kommunikations-, Literatur- oder Geschichtswissenschaft die Interdisziplinarität des Forschungsfelds insgesamt wider. Auch die Geographie des Projekts findet sich hier im Wesentlichen wieder, wenngleich der Band zusätzlich durch Beiträge zu Istanbul, Kaliningrad und Berlin bereichert wird. Die ersten beiden Aufsätze von Ira Spieker (S. 25–46) sowie von Dominik Gerst und Hannes Krämer (S. 47–70) beschäftigen sich mit theoretisch-methodischen Fragen, indem das Konzept der „Kontaktzone“ (Marie Louise Pratt) und die bereits dargestellte kulturwissenschaftliche Perspektive auf die beiden Forschungsansätze erläutert werden. Als Grundlage einer jeden Kontaktzone beschreibt Spieker den durch die Mobilität von Menschen und Dingen oder den Transfer von Ideen und Wissen angekurbelten, gegenseitigen Austausch (S. 27). Das Konzept der Kontaktzone stellt dabei ein Analyseinstrument dar, über welches sich verhandelte Differenzen, ausgetragene Konflikte, aber auch erreichter Konsens in diesen Kontaktzonen analysieren lassen (S. 27). Kontaktzonen umschreiben damit keinen idealisierten Zustand von Kooperation und Kollaboration, denn das Konzept fokussiert gleichermaßen gleichberechtigte wie auch asymmetrische oder hierarchische Strukturen sowie nachhaltige Auswirkungen politischer Gewalterfahrungen (S. 27).

Gerst und Krämer leiten anhand des Beispiels der deutsch-polnischen Doppelstadt Frankfurt an der Oder/Słubice zugleich zum ersten inhaltlichen Betrachtungsschwerpunkt über, der aus sich heraus gewachsene Kontaktzonen thematisiert. Dorota Bazuń, Duygu Doğan und Mariusz Kwiathowski (S. 71–92) analysieren diesbezüglich im Folgenden die Galata Bridge als eine Kontaktzone in Istanbul. Sie verbindet die ältesten zwei Teile der Stadt (S. 72). Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden zahlreiche Geschäfte und Cafés unterhalb der Brücke eröffnet, weshalb sie seit dieser Zeit zu einem Anziehungspunkt, zu einer Kontaktzone für zahlreiche Menschen geriet (S. 75). Dabei ließe sich eine große soziale und ethnische Vielfalt erkennen, die Menschen verblieben jedoch vorwiegend in ihren eigenen Zirkeln. Entsprechend handele es sich bei den meisten interkulturellen Kontakten lediglich um Fließkontakte, so ihr Resümee (S. 77). Eine ähnliche Beobachtung beschreibt Rita Sanders (S. 93–113) bezüglich der Einwandererstadt Kaliningrad. Hier seien es vor allem die Alltagsroutinen, die in Verbindung mit den Straßen, Gebäuden und Menschen als Ergebnis eines habitualisierten Gebrauchs eine Vertrautheit schafften (S. 97f.).

Im zweiten Betrachtungsschwerpunkt geht es um bewusst eingerichtete Kontaktzonen. Sarah Kleinmann und Arnika Peselmann (S. 115–143) vergleichen Einrichtungen unterschiedlicher Gesellschaftsbereiche (Feuerwehr, Gedenkstätten, Sport- und Kultureinrichtungen) als Kontaktzonen im deutsch-tschechisch-polnischen Grenzraum. Sie fragen in diesem Zusammenhang u.a. danach, wie Menschen, die geographisch einander nah, sprachlich jedoch umso ferner sind, miteinander im Alltag umgehen, welche Identitäts- und Alteritätskonstruktionen dabei situativ relevant sind (S. 116). Hana Daňková (S. 155–160) untersucht im Anschluss ein 2016 eröffnetes Hotel in der tschechischen Stadt Chomutov an der Grenze zu Deutschland, welches als Kontaktzone im Prozess der Versöhnung zwischen Deutschen und Tschechen gegründet wurde. Karolína Pauknerová und Jiří Woitsch (S. 161–183) analysieren wiederum das deutsch-tschechische Grenzland anhand von Lehrpfaden, anhand derer sie den Aushandlungsprozess um die Bedeutung einer Landschaft erklären. Um Deutungshoheit geht es auch ein Stück weit in den nächsten drei Beiträgen. Elisabeth Tietmeyer (S. 186–199) betrachtet in diesem Kontext das Museum als bewusst eingerichtete Kontaktzone, hier am Beispiel des 1999 in Berlin gegründeten „Museums Europäischer Kulturen“. Auch die Untersuchungen zu verschiedenen Gedenkstätten, denen sich Nora Sternfeld (S. 201–217) und Norbert Haase (S. 219–233) widmen, sind in einem ähnlichen Kontext angesiedelt. Je nach Gedenkstätte kann es jedoch gerade hier auch vermehrt zu Konflikten kommen, wenn es beispielsweise um die Rolle von Erinnerung und die damit verbundene Deutungshoheit geht. Gerade hier sei es noch viel mehr als im „gewöhnlichen Museum“ wichtig, die Kontaktzone als Ort der öffentlichen, aber auch der privaten Erinnerung in das Bewusstsein der Menschen zu bringen (S. 203–205).

Der dritte und letzte thematische Schwerpunkt fokussiert anhand zweier Beiträge verschiedene Verarbeitungswege bezüglich der individuellen Bewältigung der mit den beiden Phänomenen „Grenze“ und „Kontaktzone“ auftretenden Erfahrungen. Kaleigh Bangor (S. 235–256) analysiert so die vorgenommenen Pass- und Identitätsfeststellungen im Rahmen verschiedener Reisen im Europa der Zwischenkriegszeit auf Grundlage der Erfahrungen von Joseph Roth. Aus kulturanthropologischer Warte beschließt Torsten Näser (S. 257–273) den Tagungsband mit einer Untersuchung einer aus einem Theaterprojekt entstandenen Kontaktzone zwischen Wissenschaft und Kunst. Der nachfolgend gedrehte Film visualisiert diese Kontaktzone, indem er „die Interaktionen zwischen Universität und Theater in den fünf Wochen bis zur Premiere in den Mittelpunkt“ rückt (S. 258).

Über das 1991 von Pratt eingeführte Konzept der „Kontaktzone“ weisen die meisten Aufsätze trotz der unterschiedlichen thematischen Fokussierungen einen gemeinsamen theoretischen Zugang auf. Es stellt sozusagen eine Kontaktzone zwischen den beiden Forschungsgebieten „Border(land) Studies“ und „Studies of Boundaries“ dar. Etwas unterbelichtet bleibt am Ende das Verhältnis zwischen Grenzregion und Kontaktzone. Denn was das Konzept der Kontaktzone vor allem in den Vordergrund stellt, ist die Perspektive, dass Grenzen nicht nur Abschottung, sondern eben auch Austausch bedeuten können. Gerade im Hinblick auf z.B. Museen oder Gedenkstätten findet Transfer jedoch gleichfalls auch in Nicht-Grenzregionen statt. Auch nach der Lektüre der lesenswerten Beiträge bleiben so insbesondere mit Blick auf eine epochenübergreifende Untersuchung Fragen, inwieweit beispielsweise die hier beschriebenen Kontaktzonen Alleinstellungsmerkmale von Grenzregionen oder diese besonders „empfänglich“ für solche Kontaktzonen sind, unbeantwortet. Eine eigene Vermutung wäre, dass Austausch über Grenzen hinweg meistens zusätzlich an besondere Herausforderungen geknüpft ist. Eine fremde Sprache, eine andere Perspektive auf im Namen einer Nation oder auch Religion verübte Okkupation oder eine spezifische Deutung kultureller Errungenschaften – all diese Erfahrungen häufen sich vermutlich eher in Grenzregionen als in Nicht-Grenzregionen.1 Gerst und Krämer halten so entsprechend fest, dass die Grenze selbst stets Ausgangspunkt aller Analysen sein muss (S. 51/S. 60). Damit erleichtern, so das Fazit der Rezensentin, Grenzregionen möglicherweise die spezifische Analyse von Austausch, da die Grenze so bereits erste Hinweise bezüglich solcher Herausforderungen gibt. Weitere Forschungen zum Thema können hier gewinnbringend anknüpfen.

Anmerkung:
1 Ebenfalls noch zu klären ist, was eigentlich eine Grenzregion ist. Das Auftreten nationaler Grenzziehungen in einer Region ist als Kriterium sofort einleuchtend. Wie verhält es sich jedoch mit Regionen oder Räumen innerhalb einer Nation, wo z.B. wie in Belgien die Wallonie auf Flandern trifft oder in Spanien, wo Basken und Katalanen eine Minderheit im Nationalstaat Spanien darstellen? Möglicherweise – und das ist eine Überlegung der während des vom „Arbeitskreis Deutsch-Niederländische Geschichte“ (ADNG) durchgeführten Workshops „Europäische Grenzregionen“ geführten Diskussionen – müsste vielleicht besser von „Grenzräumen“ gesprochen werden. Dann können Regionen keine, eine oder mehrere Grenzräume mit ganz unterschiedlich gearteten Grenzen aufweisen, die im Verlaufe der Epochen entstanden, geblieben oder auch wieder verschwunden sind. Auf diese Grenzräume ließe sich dann wieder Pratts Konzept der Kontaktzone anwenden, auch sie erleichtern eventuell darüber hinaus zugleich eine Aufweichung der beschriebenen Arbeitsgrenzen im Forschungsfeld.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch