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Titel
Im Fokus der Kamera. Fotografien aus dem Getto Lodz


Autor(en)
Kinzel, Tanja
Erschienen
Berlin 2021: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
600 S., 150 Abb.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Weinhold, LVR-Zentrum für Medien und Bildung, Düsseldorf

Historische Fotos sind trügerische Quellen. Wie Texte bilden sie die vergangene Wirklichkeit nicht einfach ab. Ein Foto ist nämlich ebenso Darstellung wie Weglassung von Realität. Es entfaltet seine Wirkung nicht allein dadurch, was es zeigt, sondern auch dadurch, was es nicht zeigt. Für den Betrachter unsichtbar bleiben oft die Bedingungen, unter denen ein Foto entstand. Über den situativen Entstehungszusammenhang nichts zu wissen, kann zum völligen Missverstehen eines Bildes und seines Aussagewertes führen.

Die Fotohistorikerin Petra Bopp stieß in den Einsteckalben ehemaliger Landser an der Ostfront auf die Aufnahme einer jungen Frau, die durch die Furt eines Flusses watet.1 Komposition, Lichtstimmung, die Ruhe des Wassers und die Körperhaltung der Frau, die mit angehobenem Rock und entblößten Beinen einen Schritt vor den anderen setzt, lassen an eine sommerliche Idylle auf dem Land denken. „Die Minenprobe ‚vom Donez zum Don‘ 1942“ hat jemand auf der Rückseite notiert. Dass die junge Frau eine Gefangene war, die von deutschen Soldaten zum Aufspüren verborgener Sprengfallen gezwungen wurde, bleibt der flüchtigen Betrachtung des Bildes verborgen.

Viele Fotografien in Tanja Kinzels bildanalytischer Studie „Im Fokus der Kamera“ verdanken ihren besonderen historischen Aussagewert ebenfalls einer menschenverachtenden Wirklichkeit, welche die Bilder verschleiern, verfremden oder verbergen, die ihnen aber dennoch eingeschrieben ist; mal mehr, mal weniger deutlich. Sie durchschaubar zu machen, d.h. vor allem die mit ihnen verbundenen Intentionen, Auftrags- und Entstehungszusammenhänge offenzulegen, ist das große Verdienst der Autorin. Ihren theoretisch und methodisch aufgeklärten Blick wünscht man sich überall dort, wo Fotografien historischer Ereignisse wie der Shoa oft nur als Illustrationen vergangener Wirklichkeit benutzt werden: in historischen Museen, Ausstellungen oder Schulbüchern. In Kinzels Buch über Fotografien aus dem Getto Lodz kann man ihn lernen.

Bei ihrer qualitativen Fotoanalyse unterscheidet die Autorin kapitelweise zwischen den Aufnahmen jüdischer Fotografen, Aufnahmen von Militär- und Polizeiangehörigen und den Fotografien ziviler Funktionäre und Zivilist:innen. Aus der letztgenannten Gruppe der von Tanja Kinzel vorgestellten Fotografen sei exemplarisch Walter Genewein hervorgehoben. Genewein, von Beruf Handelsvertreter, stammte aus dem österreichischen Saalfelden, war bereits 1933 illegales NSDAP-Mitglied und verwaltete ab Juni 1940 die Finanzen des Gettos Lodz. Seine Buchhaltung war für die Abrechnung aller Einkünfte zuständig, die die Gettoverwaltung aus Zwangsarbeit sowie der Beschlagnahmung und Verwertung des Eigentums der jüdischen Bevölkerung erzielte.

Als engagierter Amateurfotograf, der mit einer – auch für damalige Verhältnisse – fotografisch anspruchsvollen Plattenkamera umzugehen wusste, fotografierte er im Getto in offiziellem Auftrag seiner Vorgesetzten. Bei dieser Nebentätigkeit hielt er als leitender Mitarbeiter der deutschen Gettoverwaltung mit seiner Kamera vor allem sein eigenes Arbeitsfeld, die dafür relevanten Aktivitäten im Gettoalltag und die mit seiner Arbeit verbundenen Resultate fest. Entsprechend kommt seine Bildsprache, ebenso wie die der anderen von Kinzel porträtierten NS-Funktionäre, einer selbstgefälligen Leistungsschau der Gettoverwaltung gleich.

Wie Kinzel die Fotografien „liest“, wie sie die Bildaussagen mit methodischer Genauigkeit aus dem Kontext des Gettolebens, der jeweiligen Entstehungssituation, den Absichten und bildkompositorischen Entscheidungen der Fotografierenden ableitet, ist nicht nur historisch aufklärend. Es schult auch den für die Entschlüsselung gegenwärtiger Fotos aus Kriegs- und Krisengebieten so wichtigen bildanalytischen Blick ihrer Leserinnen und Leser. Beispielhaft gelingt ihr das anhand einiger für Walter Genewein typischer Bilder, in denen die Arbeitstätigkeit jüdischer Gettobewohner:innen in den Werkstätten und Fabriken des Gettos im Zentrum steht. So könnte man die Aufnahme eines jungen Mannes an einem Webstuhl bei oberflächlicher Betrachtung für ein Genrebild der Industriefotografie halten, welches allein das produktive Miteinander von menschlicher und maschineller Arbeitskraft idealisiert. In den Worten der Autorin ist die Abbildung des blassen Mannes „jedoch zugleich Ausdruck eines Hierarchieverhältnisses, das ihn veranlasste bzw. zwang für die Kamera in der Hand des Deutschen zu posieren. Seine körperliche Verfassung verweist auf Unterernährung und Anstrengung durch harte, körperliche Arbeit sowie Mangel an Pausen und Erholung.“ (S. 398) In diesem Sinn steht die Aufnahme exemplarisch für das ganze Arsenal der für den Antisemitismus charakteristischen Bildkonventionen: die völlige Empathielosigkeit der Fotografierenden, den voyeuristischen Blick auf die unfreiwillig Fotografierten, rassistische Überlegenheitsphantasien, den Stolz auf die Resultate des nationalsozialistischen Zwangsapparates und die zynische Genugtuung darüber, „die Juden“, die „schaffender Arbeit“ angeblich aus dem Weg gingen, durch geeignete Maßnahmen zum Arbeiten zwingen zu können.2

Dass den Gesichtern der vor die Kamera gezwungenen Menschen oft Angst und Schrecken anzusehen waren, schien die Fotografen nicht weiter zu stören. Die persönliche Interaktion mit den Fotografierten dürfte sich auf kommandoartige Regieanweisungen beschränkt haben. Schließlich dienten die Porträtierten lediglich als Objekte, die antisemitische Stereotype bestätigen sollten, nicht als individuelle Persönlichkeiten, zu denen man als Fotografierender in eine menschliche Beziehung trat. Genewein, so die Autorin, wählte gezielt Männer aus, die seinen stereotypen Vorstellungen von „Ostjuden“ entsprachen. Im Gegensatz zu den meisten fotografischen Porträtsituationen, in denen man sich als Fotografierender um ein möglichst freundliches Bild seines Gegenübers bemüht, waren unvorteilhafte Bildergebnisse ganz im Sinne des propagandistischen Auftragszusammenhanges. Zeichen der Demütigung, in direktem Sonnenlicht zusammengekniffene Augenpaare, unverkennbare Mangelerscheinungen, verschmutzte und zerschlissene Kleidung waren in Geneweins erzwungenen „Fotoshootings“ regelrecht erwünscht.

Geradezu komplementär dazu verhalten sich die Porträtaufnahmen jüdischer Fotografen im Getto Lodz. Sie zeugen vom „Überlebenskampf der Gettobewohner:innen und der Fotografen, von deren Ängsten, Nöten, Sorgen, aber auch Hoffnungen und Wünschen“ (S. 364). Über die historisch wie bildästhetisch sehr sehenswerten Fotografien von Mendel Grosman und Henryk Ross resümiert Tanja Kinzel entsprechend: „Mit Blick auf die stereotypen Porträtfotografien der Mitglieder des Besatzungsregimes kann man die Aufnahmen als facettenreiche Gegenbilder und Selbstentwürfe lesen, die diesen eigene Perspektiven auf das Leben im Getto entgegensetzten.“ (S. 364)

Beispielhaft sei hier auf ein Foto Mendel Grosmans von einem kleinen jüdischen Jungen verwiesen, der mit einem Gefäß in der Hand auf dem Boden kauert und dabei in der Erde nach etwas zu suchen scheint (S. 327). In dem Bild deutet nichts auf die grauenhaften Umstände des Gettolebens hin. Im Gegenteil, die ordentliche Kleidung des Jungen, sein abwesender, etwas verträumter, keinesfalls aber verängstigter Gesichtsausdruck lassen an ein unbeschwertes, im Sand spielendes Kind denken. Nur die Bildunterschrift, „A boy looking for coal in the ground“, stellt eine direkte Verbindung zwischen der fotografierten Tätigkeit des Jungen und der inhumanen Realität des Gettos her. Grosmans Aufnahme zeigt eine ihrem mörderischen Kontext für einen Moment enthobene Kinderwelt. Wie viele andere Bilder jüdischer Fotografen spiegelt sie den Überlebenskampf der Gettobewohnerinnen und -bewohner nur indirekt wider. Aber ganz anders als in den auf Differenz und Diffamierung ausgerichteten Aufnahmen der fotografierenden Nationalsozialisten zeigen sie einen empathischen Bezug zu den porträtierten Menschen, die nicht als Typen oder Objekte, sondern als individuelle Persönlichkeiten in den Fokus der Kamera traten.

Ob zum Zweck der Entmenschlichung angefertigte Bilder nationalsozialistischer Fotografen oder empathische, von jüdischen Gettobewohnern gemachte Aufnahmen – beide Bildsorten bergen die Gefahr, dass sie „ohne Kontextualisierung vom Gegenstand wegführen“ (S. 557). Zur Geschichte des Alltags in den Gettos können sie nur dann etwas beitragen, „wenn sie mithilfe von Kontextinformationen und einer Rekonstruktion ihrer Entstehungszusammenhänge zum Sprechen gebracht werden“ (S. 556). Tanja Kinzel zeigt mit ihren ebenso sorgfältig recherchierten wie eindrucksvollen Bildanalysen, wie man dabei vorgehen sollte.

Anmerkungen:
1 Petra Bopp, Fremde im Visier. Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg, Bielefeld 2009, S. 100.
2 Vgl. Daniel Jonah Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, Berlin 1998, S. 337ff.

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